Rentner verprügeln — ohne Strafe
Symbolbild: Imago.

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Rentner verprügeln — ohne Strafe

Kriminelle Polizisten werden fast nie bestraft—ihre Opfer aber systematisch verfolgt. Die exklusiv vorliegenden Zahlen zeigen: Es gibt einen Fehler im System der Aufarbeitung von Polizeigewalt.

Symbolbild: Imago

An einem Sonntagabend im Herbst will eine Band auf dem Kölner Friesenplatz „Liebe verbreiten". Rund 30 Menschen hören zu. Ein Mann vom Ordnungsamt verbietet die elektrische Verstärkung, die Umstehenden protestieren: Es gäbe doch gar keine Anwohner in der Nähe. Man ruft die Polizei.

Die Beamten rücken an, angeblich kommen sie von einem Einsatz bei einem Fußballspiel, vielleicht sind sie deshalb so geladen. Ein Polizist mit langem Bart steigt mit hochgekrempelten Ärmeln aus dem Wagen, berichten die Musiker. Dann geschieht das hier:

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Ohne ersichtlichen Grund reißt der Beamte den Musiker Marius Bielefeld zu Boden und drückt sein Gesicht auf das mit Glasscherben bedeckte Pflaster. Dabei verdreht er ihm den Arm. Zwei weitere Beamte unterstützen den Polizisten. Hysterie bricht aus, die Umstehenden schreien. Einer der Zuschauer filmt die Szene mit seinem Handy. Später zeigt er den Polizisten an, gemeinsam mit fünf anderen Zeugen. Unter ihnen der Schauspieler David Ortega, der kürzlich kurzen Ruhm als Teilnehmer im RTL-Dschungelcamp genoss.

Man sieht in dem Film nicht, wie Marius Bielefeld sich gegen die Beamten zur Wehr gesetzt hat, oder ob überhaupt. Aber er wird angezeigt wegen „Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte". Das YouTube-Video ist das einzige Zeugnis.

Bei der Gerichtsverhandlung spielt Bielefelds Anwalt Dominik Maraffa der Richterin das Video vor. Die Richterin ist überrascht. Dabei war das Video der Polizei lange zuvor übergeben worden. Marius Bielefeld wird daraufhin freigesprochen. Die Staatsanwältin verspricht, Schritte gegen den übergriffigen Polizisten einzuleiten.

Doch nichts ist passiert. Und auch die Anzeige der sechs Zeugen verlief im Sande. Am Ende hat die Kölner Staatsanwaltschaft das Verfahren eingestellt, ohne die sechs Anzeigensteller schriftlich darüber zu informieren. Dazu sind Staatsanwälte rechtlich zwingend verpflichtet.

Dominik Maraffa, der Anwalt des Musikers, weiß, dass der Fall beim Kölner Kommissariat untersucht wurde, hausintern also. In der Abschlussbemerkung hätten die Beamten geschrieben, sie sähen „keinen hinreichenden Tatverdacht". Sie kannten das Video.

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Die Fehler im Aufarbeitungssystem

Dass die Polizei sich mit der Aufarbeitung von eigenen Vergehen so schwertut, liegt auch in grundlegenden strukturellen Mängeln begründet. Die Behörde ist als Institution nicht ausreichend dafür gerüstet, eigene Fehler unabhängig aufzuarbeiten. Correctiv.org vorliegende Zahlen zeigen sowohl das Ausmaß von Polizeigewalt als auch die fast durchgängige Straflosigkeit. Ein genauer Blick auf die Fälle verdeutlicht auch, wie schlecht es um die Transparenz innerhalb der Polizei bestellt ist.

Der Fehler im System der Aufarbeitung droht dabei gerade heute zum Problem zu werden — in einer Zeit, in der das Vertrauen in die Polizei in Teilen der deutschen Öffentlichkeit zunehmend erschüttert ist. Nach den Silvestervorfällen von Köln breitete sich unter vielen Bürgern ein gefährliches Misstrauen gegenüber der staatlichen Ordnungsmacht aus: Man zweifelt an der Ehrlichkeit der Polizei, vermutet das Zurückhalten von Informationen, mancherorts formieren sich gar Bürgerwehren, die die Sicherheit selbst in die Hand nehmen.

„Es wäre ein Systembruch, Ermittlungen in der Justiz anzusiedeln."

Auch manchen Beamten macht die Entwicklung sorgen: „Wir müssen gerade durch ein Tal der Tränen, da kommen diese Zahlen denkbar schlecht", sagt zum Beispiel André Schulz, Vorsitzender des Bundes Deutscher Kriminalbeamter (BDK). Der BDK trete für unabhängige Ermittlungsstellen ein, aber es gebe dabei rechtliche Hürden. Auch Schulz nimmt wahr, wie das Vertrauen in die Polizei abnimmt: Die Polizei sei materiell und personell gebeutelt, während die Bevölkerung latent Angst vor Zuwanderung und Terror habe.

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In Deutschland gibt es nur in Rheinland-Pfalz eine unabhängige Ermittlungsstelle, die nicht Polizei oder Justiz, sondern dem Landtag untersteht. In einigen Bundesländern gibt es immerhin Beschwerdestellen in den Innenministerien. Die rollen die Fälle allerdings erst auf, nachdem ein Verfahren abgeschlossen ist.

„Es wäre ein Systembruch, Ermittlungen aus der Polizei und dem Inneren herauszuziehen und in der Justiz anzusiedeln", sagt Eric Töpfer vom Deutschen Institut für Menschenrechte. Es sei aber nötig, diesen Systembruch zu vollziehen, um Bürgern Zugang zu unabhängigen Ermittlungen zu ermöglichen.

Polizeigewalt: Die neuen Zahlen

Vor einigen Monaten hat correctiv.org erstmals genaue Zahlen zu dem Ausmaß von Polizeigewalt 2013 veröffentlicht—und von der fast durchgängigen Straflosigkeit berichtet: Jetzt liegen die Zahlen für 2014 vor. Auch sie veröffentlichen wir hier exklusiv: In 2014 wurden 2.138 Polizisten wegen Körperverletzung von Bürgern angezeigt. Angeklagt von einer Staatsanwaltschaft wurden 33 Polizisten – ganze 1,5 Prozent saßen also vor einem Richter. Wie viele Polizisten verurteilt wurden, wird nicht statistisch erhoben. Es dürfte, wenn überhaupt, eine Handvoll sein.

Ganz anders auf der Gegenseite. Da hagelt es Verurteilungen. Wer einen Polizeibeamten anklagt, erhält meist umgehend eine Gegenanzeige wegen „Widerstandes gegen Vollstreckungsbeamte". Hier werden fast alle Fälle von einer Staatsanwaltschaft zur Anklage gebracht—und rund ein Viertel der Beschuldigten am Ende verurteilt.

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„Wird gegen Polizisten ermittelt, nimmt das Bild vom Rechtsstaat immer schweren Schaden."

Martin Rätzke ist Sprecher der Organisation Victim Veto, die Opfer von Polizeiverbrechen vertritt. Er sagt: „Wird gegen Polizisten ermittelt, nimmt das Bild vom Rechtsstaat immer schweren Schaden."

Tobias Singelnstein, Professor für Strafrecht an der FU Berlin, sieht eine „Mauer des Schweigens" innerhalb der Polizei. Die Beamten verweigerten Aussagen und deckten sich gegenseitig, schreibt der Forscher in einem Aufsatz.

„Es gilt das Prinzip: Nichts verlässt den Funkwagen – weder nach oben, noch an die Öffentlichkeit", sagte uns bereits im vergangenen Jahr Rafael Behr, Professor an der Polizeiakademie Hamburg. Anstatt in den eigenen Reihen zu ermitteln, verfolgten Polizei und Justiz ihre Opfer.

Kritik kommt auch Amnesty International und dem Menschenrechtsrat der UN. Der fordert seit Jahren „unabhängige Behörden zur Strafverfolgung von Polizisten, ohne hierarchische oder institutionelle Verbindung zwischen Beschuldigten und Ermittlern."

Rentner gegen Streifenpolizisten: Aussage gegen Aussage

An einem eisigen Januarmittag fährt der Rentner Ullrich Trippler mit dem Fahrrad von der Arbeit nach Hause; er trägt nebenher Briefe aus. Trippler hat es eilig. Er leidet unter schwerer Diabetes, hat fünf Beipässe, eben hat er sich Insulin gespritzt. Nun fühlt er sich unterzuckert. Trippler fährt Schlangenlinien. Man könnte denken, er sei betrunken.

Trippler bemerkt den Streifenwagen zunächst nicht. Zwei Polizisten steigen aus. Sie fordern ihn auf, in ein Alkoholmessgerät zu pusten. Trippler weigert sich. Sie sollten ihm stattdessen Blut abnehmen, sagt er, dann würden sie sehen, dass er zuckerkrank sei. Es kommt zu einem Wortgefecht—in dessen Verlauf die beiden Polizisten den Rentner zu Boden reißen und ihn dort eine Viertelstunde lang fixieren. Trippler gerät in Panik.

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Er sagt den Beamten, er sei krank, er habe mehrere Beipässe. Das könne ja jeder behaupten, ist ihre Antwort. So stellt es Trippler dar, er hat es vor Gericht bezeugt, er hat es im Gespräch mit correctiv.org wiederholt. Und es gibt einen Zeugen, der bestätigt, was er sagt. Der heißt Klaus Krawietz und war viele Jahre lang Schöffe an Göttinger Gerichten. An jenem Vormittag steht Krawietz in der Küche seine Reihenhauses, als er Gebrüll auf der Straße hört. Er sieht einen älteren Herren auf dem Gehweg liegen, über ihm zwei Polizisten, die sein Gesicht in den Splitt auf der vereisten Straße pressen. „Wie ein Stück Vieh wurde der Mann auf den Boden gedrückt", sagt Krawietz er später aus. „Der ganze Einsatz war vollkommen überzogen und nicht nachvollziehbar."

Als er schließlich pustet, zeigt das Messgerät einen Alkoholwert von 0,0 Promille an.

In Handschellen wird Ullrich Trippler auf das Präsidium gebracht. Als er schließlich pustet, zeigt das Messgerät einen Alkoholwert von 0,0 Promille an. Trippler kann gehen.

Die Gegenanzeige

Er will die Sache nicht auf sich beruhen lassen, hat Todesangst gelitten, seine Hose ist kaputt, die Haut ist am Knie aufgeschürft, er hat Blutergüsse am linken Arm und Kratzer auf der Stirn. Ein Arzt attestiert die Verletzungen. Trippler ruft bei der Polizei an: Er wolle Anzeige zu erstatten und schildert einer Sachbearbeiterin den Vorfall. Kurz darauf ruft ein Vorgesetzter an und lädt ihn zu einer persönlichen Unterredung ein. Trippler schlägt das Gespräch aus, erscheint aber zum verabredeten Termin, um seine Anzeige aufzugeben—und bekommt eine Anzeige vorgelegt, wegen „Widerstandes gegen Vollstreckungsbeamte". Der zuckerkranke Rentner habe nach den Beamten getreten.

Einige Monate später die Verhandlung vor dem Amtsgericht Göttingen. Drei Polizisten waren an dem Einsatz beteiligt. Übereinstimmend sagen sie aus: Trippler habe sich massiv gewehrt, um sich der Kontrolle zu entziehen. „Obwohl einer der Beamten ja im Auto sitzen blieb", sagt Trippler. Er soll 200 Euro zahlen und weigert sich. Bei einem zweiten Gerichtstermin ist die Strafe höher: 600 Euro oder Sozialstunden, die er schließlich in seiner Gemeinde ableistet.

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Tripplers Fall landet vor dem Amtsgericht Göttingen |Bild: Imago

Und was wurde aus seiner Anzeige gegen die Polizisten? „Da habe ich hintenrum erfahren, dass das Verfahren eingestellt wurde", sagt Trippler. Während der ersten Verhandlung habe er den Satz fallen gelassen: Er wolle keine große Sache aus der Angelegenheit machen. Das nahmen die Behörden offensichtlich zum Anlass, die Ermittlungen einzustellen. Wobei auch hier nicht einmal ein Einstellungsbescheid verschickt wurde. Erst als seine Anwältin, vor der zweiten Verhandlung, Akteneinsicht nimmt, erfährt Trippler davon. „Das wurde wohl unter Verschluss gehalten", sagt seine Anwältin heute.

Trippler muss Laub fegen, wochenlang, „für eine Tat, die ich nicht begangen habe." Bis heute ist er sich sicher: „Die Polizisten haben sich abgesprochen und gelogen." Mit der Polizei wolle er nie wieder etwas zu tun haben.

Die Polizeiinspektion Göttingen war gegenüber CORRECTIV zu keiner Stellungnahme bereit—ebenso wenig wie die Staatsanwaltschaft.

Nachspiel bei der Beschwerdestelle

In Niedersachsen—Göttingen gehört dazu—gibt es eine Polizei-Beschwerdestelle. Der nun vorbestrafte Rentner Ullrich Trippler hat seinen Fall hier eingereicht. Es dauert acht Monate, ehe die Stelle dem Rentner schreibt. Bei den Polizisten sei „kein Fehlverhalten erkennbar" gewesen, und: „Wir stellen gerichtliche Entscheidungen nicht infrage."

Seit ihrer Gründung im Juli 2014 hat die Niedersächsische Beschwerdestelle in einem Jahr 630 Hinweise erhalten, etwa die Hälfte davon gegen das Verhalten von Polizisten. Von den 210 bereits bearbeiteten Fällen wurden 14 Beschwerden als begründet erachtet.

Eric Töpfer vom Deutschen Institut für Menschenrechte hat eine Empfehlung zu den unabhängigen Ermittlungsstellen geschrieben. Der Politikwissenschaftler mit Schwerpunkt innere Sicherheit sagt: „Eine Befangenheit ist da, hat aber in den letzten Jahren abgenommen." Der Grund: Ermittlungen gegen Polizisten seien zunehmend zentraler angesiedelt, beim LKA etwa.

Doch noch immer ermittelten Polizisten, die einen bestimmten Blick auf das Geschehen haben. Töpfer fordert durchmischte Teams aus Ermittlern, die nicht im Inneren, sondern in der Justiz angesiedelt sind, „um das Vertrauen in den Rechtsstaat zu gewährleisten."

Die Gewerkschaften der Polizei sehen in diesem Fall keinen Handlungsbedarf. Es gebe keinerlei Anzeichen dafür, dass die Strafverfolgung von Polizisten nicht funktioniert, sagte Rainer Wendt von der Gewerkschaft der Polizei im vergangenen Jahr. Er halte die Ermittlungen durch die Staatsanwaltschaft für unabhängig.

Die Polizeigewerkschaft vertritt vor allem Streifenpolizisten, der BDK Bund Deutscher Kriminalbeamter eher höherrangige Beamte. Der BDK-Vorsitzende André Schulz ist selbstkritischer, er sagt: „Wir sind besser geworden bei Ermittlungen in den eigenen Reihen, aber es gibt ihn noch, den Korpsgeist."