Warum es unlogisch ist, dass China und Russland die Snowden Dokumente „knackten“
Edward Snowden in dem Londoner Hotelzimmer, in dem er zum ersten Mal aus der Anonymität heraustrat, um seine Anschuldigungen zu belegen. Könnten die Regierungsquellen der Sunday Times-Story auch mal tun. Bild: Laura Poitras.

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Warum es unlogisch ist, dass China und Russland die Snowden Dokumente „knackten“

Die Bild-Zeitung hat gerade einmal mehr bewiesen, dass sie keine Ahnung von Edward Snowden hat.

In ihrer Sonntagsausgabe veröffentlichte die Sunday Times die angebliche Neuigkeit, dass es Russland und China gelungen sei, sich Zugang zu den geheimen Snowden-Dokumenten zu verschaffen. Eine „Bombshell-Enthüllung", die sich seitdem rasend schnell verbreitete—aber auch viel Kritik auf sich gezogen hat.

Obwohl es an konkreten und überprüfbaren Belegen mangelt, ist die Schlussfolgerung für das rechts-konservative britische Blatt klar: „An Snowdens Händen klebt Blut", darf eine anonyme Regierungsquelle zu Protokoll geben. Allerdings „gibt es keine Belege, dass jemand zu Schaden gekommen sei", kommentiert eine andere Quelle aus Downing Street die „News."

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So weit, so unlogisch. Dennoch übernahmen zahllose internationale Medien den Grundtenor der Schlagzeile, ohne sie weiter zu hinterfragen. Die Bild-Zeitung, deren Politik-Chef Julian Reichelt schon im Juli 2013 kurz nach der Veröffentlichung der Snowden-Dokumente wusste, dass Snowden höchstens ein „Held für den globalen Terrorismus" sei, titelte beispielsweise: „Russland und China knacken Snowdens Spionagedokumente." So wurde die Story in den vergangenen Tagen auch zu einem unangenehmen Paradebeispiel für Selbstläuferjournalismus, der ungeprüft eine Story um die Welt schickt, die weder neu noch belegt ist. (Das Reichelt-Argument, dass Terroristen durch die Snowden-Berichte technisch besser gerüstet seien, ist übrigens lange widerlegt.)

Was genau Sunday Times, Bild und andere unter dem Ausdruck „geknackt" verstehen, bleibt unklar. Kein unwesentliches Detail, wenn man es denn schon in die Überschrift schreibt. Für eine „Analyse", die Bild wenige Stunden später nachschob, sprach man zwar mit dem „Cyberkriegs-Experten" Sandro Gayken, verzichtete aber darauf, ihn zu den technischen Hintergründen der Vorgänge zu befragen.

Snowden zum Verräter machen

Vor wenigen Wochen enthüllte VICE News, wie Mitarbeiter der US Defense Intelligence Agency eine offizielle Strategie entwickelten, um Snowdens „Kredibilität in Presse und Öffentlichkeit zu schaden." Auch den Quellen der Sunday Times (hohe britische Beamten aus Geheimdienstkreisen und Downing Street, dem Sitz des Premiers) dürfte es gut in den Kram passen, Whistleblower wie Snowden als gefährlich darzustellen.

Erst am Freitag wurde eine Studie veröffentlicht, die prüfen sollte, ob britische Geheimdienste ihre weitreichende Überwachungskapazität behalten dürfen. Der Bericht droht auch in Großbritannien eine öffentliche Debatte um die Machtbefugnisse von GCHQ und Co auszulösen. Kritiker haben bereits darauf hingewiesen, dass der Zeitpunkt der Sunday Times-Enthüllung den Staatlichen zumindest äußerst gelegen käme.

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Da die Sunday Times jedoch die Namen ihrer Quellen nicht nennt, verhindert sie eine öffentliche Debatte zur Rolle von Snowden, die über Schlagzeilen hinausgeht. Bisher werden lediglich Gerüchte gestreut, die von niemanden geprüft werden können. In einem Interview mit CNN musste der Autor der Sunday Times dann auch zugeben, in seinem Artikel nur wiederholt zu haben, „was er für die offizielle Regierungsposition halte."

Der renommierte Investigativjournalist Ewan McAskill hat darauf auch im Guardian bereits gefordert, dass den Regierungsbeamten im aktuellen Fall nicht der Schutz der Anonymität hätte gewährt werden sollen. Ein Urteil darüber, ob Snowden zu einem Verräter geworden sei oder nicht, könnte nicht zuletzt gravierende Auswirkungen für den Whistleblower selbst haben, dem in den USA eine Anklage wegen Geheimnisverrats droht, wofür langjährige Haftstrafen vorgesehen sind.

Der anonyme Rückzug

Die „Neuigkeit", mit der die aktuelle Story aufwartet—die sonst doch nur den alten Edward hat's Putin verraten-Topos wiederkäut—ist nun, dass wegen Snowden tatsächlich Agenten des britischen Geheimdienstes versetzt werden mussten, da ihnen die Enttarnung drohte.

Das Problem dieser Vorwürfe: Ryan Gallagher, der die Snowden-Dokumente einsehen konnte, antwortete umgehend, dass in den Dokumenten gar keine Namen aktiver MI6-Agenten zu finden seien. Auch der Spiegel berichtet, dass das eigene Recherche-Team in den Teilen der Snowden-Dokumente, die sie einsehen konnten, keinen einzigen Hinweis auf aktive britische Agenten gefunden hätte.

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Die Übergabe

Aber wie sollen der russische und chinesische Geheimdienst an die Informationen in den Snowden-Dokumenten gekommen sein? Eigentlich gibt es hier nur zwei Möglichkeiten: Entweder hat Edward Snowden sie ihnen freiwillig übergeben oder die Geheimdienste haben einen mysteriösen Weg gefunden, sich in die Dokumente zu hacken.

Snowden allerdings hat stets verneint, überhaupt Dokumente mit nach Moskau genommen zu haben. Und in Hongkong habe er seine von den NSA-Servern gezogenen Kopien der Geheimdienstinterna den Journalisten Glenn Greenwald und Laura Poitras ausgehändigt. Die Chancen, dass die Unterlagen in Hongkong den Chinesen in die Hände gefallen seien, bezifferte er selbst in einem Interview mit „0 Prozent". Wer Citizen Four gesehen hat, die Dokumentation über Snowdens Tage in Hongkong, der weiß, wie viel Mühe sich Snowden machte, dass die Informationen ausschließlich in den Händen von Journalisten landeten und nicht abgefangen werden konnten.

Es gibt bisher keinen Grund an Snowdens Aussage, dass er nichts weitergegeben habe, zu zweifeln. Und dass sich die Geheimdienste ohne Snowdens Wissen in die Dokumente gehackt haben, erscheint ebenfalls unlogisch angesichts des großen technischen Aufwands, mit dem Snowden und seine Vertrauten die Dokumente schützen.

Doch dazu später mehr. Vorher noch ein Fakt, der den geneigten Reportern auch ohne jegliches Wissen hätte auffallen dürfen:

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Die Lüge mit dem Lebenspartner

Der einzige Fakt, der in der Sunday Times tatsächlich belegt hätte, dass die Dokumente auch in Moskau noch in Snowdens Besitz gewesen seien, stellte sich schnell als reine Lüge heraus: Angeblich sei David Miranda, der langjährige Partner von Glenn Greenwald, am Flughafen von Heathrow mit „58.000 höchst geheimen Dokumenten aufgegriffen worden, nachdem er Snowden in Moskau besucht hatte."

Miranda war 2013 auf umstrittener rechtlicher Grundlage tatsächlich stundenlang am Londoner Flughafen festgehalten worden. Allerdings war er zuvor nicht in Moskau, sondern in Berlin. Das war öffentlich längst bekannt.

Die Sunday Times löschte die Passage kommentarlos in der Online-Version ihres Artikels.

Malen nach Zahlen

Außerdem wäre da noch ein kleines Zahlenproblem: Die namentlich nicht genannte Quelle der Sunday Times behauptet nämlich, dass Moskau Zugang zu mehr als einer Millionen Top-Secret-Dokumenten erlangt habe und dass Snowden insgesamt „1,7 Millionen geheimer Dokumente von westlichen Geheimdiensten in seinen Besitz gebracht habe."

Allerdings gibt selbst der langjährige NSA-Chef Keith Alexander zu, die NSA könne nicht exakt bemessen, wie viele Unterlagen Snowden mitgenommen habe, wie auch Glenn Greenwald in seiner schneidenden Kritik an der Times-Story bemerkte. Alexander, der zum Zeitpunkt, als Snowden als Administrator im Dienst der NSA stand, dem US-Geheimdienst vorstand, gab in einem Interview an, das interne System zeige lediglich, dass Snowden über eine Millionen Dokumente angesehen habe bzw. hätte runtergeladen können.

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Woher die Times die Zahlen nun besser kennen will, wird nicht klar. Ryan Gallagher wiederum erklärte allerdings, dass er bei seiner Analyse der Snowden-Dokumente „nie auf eine Zahl auch nur annähernd in der Größenordnung von einer Million gestoßen" sei. Auch Glenn Greenwald bestätigte das indirekt, indem er Gallaghers Aussage wiederholte

Unverschlüsselte Ahnungslosigkeit

Bleibt noch die Aussage, Chinesen und Russen hätten die Dokumente entschlüsselt. Klingt zwar nach dem Vokabular eines Agentendramas, zeugt aber auch davon, wie wenig die Autoren von Times, Bild und Co über die Hintergründe von Geheimdienstüberwachung und Verschlüsselung wissen.

Es ist zwar nie öffentlich spezifiziert worden, welche Verfahren Snowden und seine Vertrauten zur Sicherung der Daten eingesetzt haben, allerdings ist es nur logisch, dass es eben jene Verfahren sind, die Geheimdienste wie die NSA nicht aushebeln können. Technisch gesehen gibt es solche Möglichkeiten durchaus, wie auch die NSA in internen Dokumenten zugeben musste.

Laura Poitras hat beschrieben, wie sie bei Cititzen Four für die Filmproduktion und die Kommunikation mit Quellen Krypto-Verfahren wie TrueCrypt oder PGP und das Betriebssystem Tails einsetzt. Aller Wahrscheinlichkeit nach kamen diese Verfahren auch in der ein oder anderen Kombination zum Schutz der Snowden-Daten zum Einsatz. Klar ist, dass Snowden selbst genau wusste, was die NSA knacken kann, und dass die Journalisten auf die Hilfe von renommierten Krypto-Experten wie unter anderem Micah Lee und Bruce Schneier zurückgriffen.

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Bruce Schneier erklärt Kryptographie im Motherboard-Interview über digitale Sicherheit

Vom Spiegel veröffentlichte Dokumente zeigen, dass die Kryptographie von PGP und Truecrypt der NSA bis mindestens 2012 große Probleme bereitete. Auch wenn bekannt ist, dass die NSA massiv in Hochleistungsrechner investiert, die moderne Verschlüsselungsstandards brechen, so halten Experten eine Brute-Force-Attacke von Systemen wie TrueCrypt noch heute rechnerisch für nicht vorstellbar. Es liegt in der Natur der Sache, dass die Geheimdienste nicht genau verraten, was sie können. Doch der mathematische Aufwand, der für eine Entschlüsselung von Systemen wie TrueCrypt oder OTR erforderlich ist, lässt nur den wahrscheinlichen Schluss zu, dass russische und chinesische Dienste wohl kaum entschlüsselt haben, was selbst die NSA vor zwei Jahren noch als Endgegner bezeichnete.

Von solcherlei Details ist in dem Bild-Artikel, der Hintergründe und Konsequenzen untersuchen soll, keine Rede. Stattdessen nutzte man die Zeilen, um dem Wissenschaftler Sandro Gaycken im luftleeren Raum „fünf schlimme Erkenntnisse aus der neuesten Entwicklung in der NSA-Affäre" zu entlocken. „Laut Cyberwar-Experte Gaycken kursiert in westlichen Geheimdiensten sogar das Gerücht, dass der russische Geheimdienst FSB steuert, nach welchem Muster das von Snowden gestohlene Geheim-Material an die Presse lanciert werde." Ist zwar nur ein Gerücht, dass sich logisch nicht weiter mit der Veröffentlichungsstrategie der vergangenen zwei Jahre verbinden lässt, aber wir schreiben es trotzdem mal.

Bitte jetzt wieder auf das Wesentliche konzentrieren

Angesichts der Art des Materials, das Erdward Snowden enthüllt hat, sind bisher längst nicht alle technischen Details und Hintergründe der Enthüllungsgeschichte bekannt geworden. So kommt es, dass in der Diskussion um Snowden als Verräter oder Held an manchen Punkten die Aussagen von Geheimdienstkreisen gegen Snowden-Vertraute stehen—allerdings gibt es keinen Grund an der Glaubwürdigkeit von Snowden und seinen Unterstützern zu zweifeln. Die anonymen Anti-Snowden-Positionen aus Geheimdienst- und Politikerkreisen dagegen entbehren allzu oft einfacher Logik. Angesichts der Unübersichtlichkeit der Situation ist klar, dass die Eindeutigkeit der Times-Schlagzeilen vorschnell ist—das hielt Bild allerdings nicht davon ab, die Story mit einem Artikel des ehemaligen NSA-Beamten John Schindler noch etwas weiterzuspinnen: „Wie Snowdens schöne Geschichte langsam zerfällt."

Snowden selbst hat stets betont, die Geschichte seiner Person solle bei den NSA-Enthüllungen nicht im Vordergrund stehen. Deshalb wurden die ersten Prism-Dokumente auch veröffentlicht, ohne dass seine Identität bekannt war. Erst Tage später trat er selbst vor die Kameras—um seiner Geschichte mehr Glaubwürdigkeit zu verleihen. Diesen Schritt müssten die Regierungsquellen der Times-Story nun auch gehen, wenn sie sich denn in der Lage sehen, ihre Anschuldigungen zu verteidigen. Bis dahin können sie sich ja darauf konzentrieren, die Überwachung der Geheimdienste tatsächlich effizient und gerne auch verfassungskonform zu gestalten.