In ihrer Sonntagsausgabe veröffentlichte die Sunday Times die angebliche Neuigkeit, dass es Russland und China gelungen sei, sich Zugang zu den geheimen Snowden-Dokumenten zu verschaffen. Eine „Bombshell-Enthüllung", die sich seitdem rasend schnell verbreitete—aber auch viel Kritik auf sich gezogen hat.Obwohl es an konkreten und überprüfbaren Belegen mangelt, ist die Schlussfolgerung für das rechts-konservative britische Blatt klar: „An Snowdens Händen klebt Blut", darf eine anonyme Regierungsquelle zu Protokoll geben. Allerdings „gibt es keine Belege, dass jemand zu Schaden gekommen sei", kommentiert eine andere Quelle aus Downing Street die „News."
Anzeige
So weit, so unlogisch. Dennoch übernahmen zahllose internationale Medien den Grundtenor der Schlagzeile, ohne sie weiter zu hinterfragen. Die Bild-Zeitung, deren Politik-Chef Julian Reichelt schon im Juli 2013 kurz nach der Veröffentlichung der Snowden-Dokumente wusste, dass Snowden höchstens ein „Held für den globalen Terrorismus" sei, titelte beispielsweise: „Russland und China knacken Snowdens Spionagedokumente." So wurde die Story in den vergangenen Tagen auch zu einem unangenehmen Paradebeispiel für Selbstläuferjournalismus, der ungeprüft eine Story um die Welt schickt, die weder neu noch belegt ist. (Das Reichelt-Argument, dass Terroristen durch die Snowden-Berichte technisch besser gerüstet seien, ist übrigens lange widerlegt.)Was genau Sunday Times, Bild und andere unter dem Ausdruck „geknackt" verstehen, bleibt unklar. Kein unwesentliches Detail, wenn man es denn schon in die Überschrift schreibt. Für eine „Analyse", die Bild wenige Stunden später nachschob, sprach man zwar mit dem „Cyberkriegs-Experten" Sandro Gayken, verzichtete aber darauf, ihn zu den technischen Hintergründen der Vorgänge zu befragen.Vor wenigen Wochen enthüllte VICE News, wie Mitarbeiter der US Defense Intelligence Agency eine offizielle Strategie entwickelten, um Snowdens „Kredibilität in Presse und Öffentlichkeit zu schaden." Auch den Quellen der Sunday Times (hohe britische Beamten aus Geheimdienstkreisen und Downing Street, dem Sitz des Premiers) dürfte es gut in den Kram passen, Whistleblower wie Snowden als gefährlich darzustellen.Erst am Freitag wurde eine Studie veröffentlicht, die prüfen sollte, ob britische Geheimdienste ihre weitreichende Überwachungskapazität behalten dürfen. Der Bericht droht auch in Großbritannien eine öffentliche Debatte um die Machtbefugnisse von GCHQ und Co auszulösen. Kritiker haben bereits darauf hingewiesen, dass der Zeitpunkt der Sunday Times-Enthüllung den Staatlichen zumindest äußerst gelegen käme.
Snowden zum Verräter machen
Anzeige
Da die Sunday Times jedoch die Namen ihrer Quellen nicht nennt, verhindert sie eine öffentliche Debatte zur Rolle von Snowden, die über Schlagzeilen hinausgeht. Bisher werden lediglich Gerüchte gestreut, die von niemanden geprüft werden können. In einem Interview mit CNN musste der Autor der Sunday Times dann auch zugeben, in seinem Artikel nur wiederholt zu haben, „was er für die offizielle Regierungsposition halte."Die „Neuigkeit", mit der die aktuelle Story aufwartet—die sonst doch nur den alten Edward hat's Putin verraten-Topos wiederkäut—ist nun, dass wegen Snowden tatsächlich Agenten des britischen Geheimdienstes versetzt werden mussten, da ihnen die Enttarnung drohte.Das Problem dieser Vorwürfe: Ryan Gallagher, der die Snowden-Dokumente einsehen konnte, antwortete umgehend, dass in den Dokumenten gar keine Namen aktiver MI6-Agenten zu finden seien. Auch der Spiegel berichtet, dass das eigene Recherche-Team in den Teilen der Snowden-Dokumente, die sie einsehen konnten, keinen einzigen Hinweis auf aktive britische Agenten gefunden hätte.
Der renommierte Investigativjournalist Ewan McAskill hat darauf auch im Guardian bereits gefordert, dass den Regierungsbeamten im aktuellen Fall nicht der Schutz der Anonymität hätte gewährt werden sollen. Ein Urteil darüber, ob Snowden zu einem Verräter geworden sei oder nicht, könnte nicht zuletzt gravierende Auswirkungen für den Whistleblower selbst haben, dem in den USA eine Anklage wegen Geheimnisverrats droht, wofür langjährige Haftstrafen vorgesehen sind.
Der anonyme Rückzug
Anzeige
Die Übergabe
Anzeige
Die Lüge mit dem Lebenspartner
Malen nach Zahlen
Anzeige
Woher die Times die Zahlen nun besser kennen will, wird nicht klar. Ryan Gallagher wiederum erklärte allerdings, dass er bei seiner Analyse der Snowden-Dokumente „nie auf eine Zahl auch nur annähernd in der Größenordnung von einer Million gestoßen" sei. Auch Glenn Greenwald bestätigte das indirekt, indem er Gallaghers Aussage wiederholteBleibt noch die Aussage, Chinesen und Russen hätten die Dokumente entschlüsselt. Klingt zwar nach dem Vokabular eines Agentendramas, zeugt aber auch davon, wie wenig die Autoren von Times, Bild und Co über die Hintergründe von Geheimdienstüberwachung und Verschlüsselung wissen.Es ist zwar nie öffentlich spezifiziert worden, welche Verfahren Snowden und seine Vertrauten zur Sicherung der Daten eingesetzt haben, allerdings ist es nur logisch, dass es eben jene Verfahren sind, die Geheimdienste wie die NSA nicht aushebeln können. Technisch gesehen gibt es solche Möglichkeiten durchaus, wie auch die NSA in internen Dokumenten zugeben musste.Laura Poitras hat beschrieben, wie sie bei Cititzen Four für die Filmproduktion und die Kommunikation mit Quellen Krypto-Verfahren wie TrueCrypt oder PGP und das Betriebssystem Tails einsetzt. Aller Wahrscheinlichkeit nach kamen diese Verfahren auch in der ein oder anderen Kombination zum Schutz der Snowden-Daten zum Einsatz. Klar ist, dass Snowden selbst genau wusste, was die NSA knacken kann, und dass die Journalisten auf die Hilfe von renommierten Krypto-Experten wie unter anderem Micah Lee und Bruce Schneier zurückgriffen.
Unverschlüsselte Ahnungslosigkeit
Anzeige
Vom Spiegel veröffentlichte Dokumente zeigen, dass die Kryptographie von PGP und Truecrypt der NSA bis mindestens 2012 große Probleme bereitete. Auch wenn bekannt ist, dass die NSA massiv in Hochleistungsrechner investiert, die moderne Verschlüsselungsstandards brechen, so halten Experten eine Brute-Force-Attacke von Systemen wie TrueCrypt noch heute rechnerisch für nicht vorstellbar. Es liegt in der Natur der Sache, dass die Geheimdienste nicht genau verraten, was sie können. Doch der mathematische Aufwand, der für eine Entschlüsselung von Systemen wie TrueCrypt oder OTR erforderlich ist, lässt nur den wahrscheinlichen Schluss zu, dass russische und chinesische Dienste wohl kaum entschlüsselt haben, was selbst die NSA vor zwei Jahren noch als Endgegner bezeichnete.Von solcherlei Details ist in dem Bild-Artikel, der Hintergründe und Konsequenzen untersuchen soll, keine Rede. Stattdessen nutzte man die Zeilen, um dem Wissenschaftler Sandro Gaycken im luftleeren Raum „fünf schlimme Erkenntnisse aus der neuesten Entwicklung in der NSA-Affäre" zu entlocken. „Laut Cyberwar-Experte Gaycken kursiert in westlichen Geheimdiensten sogar das Gerücht, dass der russische Geheimdienst FSB steuert, nach welchem Muster das von Snowden gestohlene Geheim-Material an die Presse lanciert werde." Ist zwar nur ein Gerücht, dass sich logisch nicht weiter mit der Veröffentlichungsstrategie der vergangenen zwei Jahre verbinden lässt, aber wir schreiben es trotzdem mal.Bruce Schneier erklärt Kryptographie im Motherboard-Interview über digitale Sicherheit