Physiker züchten Zeitkristalle – aber was zur Hölle soll das sein?
Ben Ruby für MOTHERBOARD

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Physiker züchten Zeitkristalle – aber was zur Hölle soll das sein?

Neben den klassischen Aggregatzuständen fest, flüssig und gasförmig gibt es jetzt noch einen weiteren nichtklassischen Aggregatzustand: den Zeitkristall. Was ist das überhaupt und was bedeutet das?

Vergangenen Monat hat ein Physikerteam der University of California Berkeley unter der Leitung von Norman Yao einen Entwurf für einen neuen Aggregatzustand namens Zeitkristall erschaffen. Die bei Physical Review Letters veröffentlichte Arbeit verwandelte ein ziemlich abgefahrenes Gedankenkonstrukt in eine pragmatische Anleitung für die Herstellung eines Zeitkristalls im Labor.

Nachdem letztes Jahr eine vorläufige Studie erschien, befolgten Forscher der University of Maryland und der Harvard University das Rezept und fertigten eigene Zeitkristalle an. Dafür benötigten sie nur zwei Hilfsmittel: Laser und gefangene Ionen.

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Ein Zeitkristall ist kein Gegenstand, den du in der Hand halten kannst. Genauso wenig kannst du sie mit ein bisschen Salz und einem Glas Wasser selbst herstellen. Leider. Das Konzept der Zeitkristalle existierte lange nur als mathematische Kuriosität auf dem Papier. Erst jetzt wurden Zeitkristalle tatsächlich in (quanten)physischer Form in einem Labor umgesetzt.

Zeitkristalle sind eine unglaublich komplizierte Angelegenheit und für 99 Prozent der Bevölkerung (zumindest vorerst) nicht wirklich relevant. Deshalb hast du trotz der Bedeutung dieses wissenschaftlichen Durchbruchs wahrscheinlich noch nicht viel davon gehört. Nach geduldigen Erklärungen der Physiker habe ich mir nun alle Mühe gegeben, die Essenz von Zeitkristallen in eine möglichst einfache, aber dennoch hoffentlich akkurate Erklärung für uns alle zu verpacken.

Warum sollte man sich überhaupt mit Zeitkristallen beschäftigen? Nun, wie bereits gesagt, ist dieser Durchbruch ein Meilenstein. Immerhin wird nicht jeden Tag eine praktische Anleitung für die Herstellung eines komplett neuen Aggregatzustands geschrieben – ein Aggregatzustand, der weder fest, flüssig noch gasförmig ist. In der Zukunft werden Zeitkristalle auch in der Technik eine große Rolle spielen. Sie könnten zum Beispiel die Grundlage für die Speichereinheiten leistungsfähiger Quantencomputer bilden. Selbst Physiker können das komplette Potenzial von Zeitkristallen noch nicht erfassen – und genau das macht die ganze Angelegenheit so aufregend.

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Kristalle: Eine Raum- und Zeit-Odyssee

Lass uns die zusätzliche Dimension der Zeit vorerst ignorieren und zuerst einmal einen ganz normalen 3D-Kristall betrachten. Im Grunde besteht ein Kristall nur aus ein paar Atomen, die in einer periodischen, also sich wiederholenden Struktur angeordnet sind.

Bevor eine Flüssigkeit kristallisiert, ist der Raum, den sie einnimmt, homogen. In anderen Worten: Wenn man zum Beispiel in einem vollen Glas Wasser das untere, das mittlere und das obere Drittel untersucht, dann wird man keine Unterschiede finden. Dieser Raum ist von Symmetrie geprägt.

Wenn das Wasser dann kristallisiert, bilden die Atome feste und vorgegebene Strukturen. Du kennst sicher noch die Gittermodelle aus dem Physikunterricht. Der vom Kristall eingenommene Raum ist periodisch geworden. Der Kristall hat die räumliche Symmetrie durchbrochen, weil er regelmäßige Strukturen nur in manchen Richtungen aufweist, anstatt komplett gleichmäßig zu sein.

2012 sagte der Nobelpreisträger Frank Wilczek voraus, dass die Periodizität von Kristallen um die vierte Dimension – also Zeit – erweitert werden könnte. Er stellte sich dabei ein System im niedrigsten Energiezustand vor. Dieser Zustand würde das System im Raum einfrieren – wie ein normaler Kristall.

Wenn sich die Atome dieses Systems jedoch von ihrer Ausgangsposition wegbewegen, dann würde das laut Wilczek die zeitliche Translationssymmetrie aushebeln. Diese besagt im Grunde, dass jeder zeitliche Moment genauso ist wie jeder andere zeitliche Moment. Wenn du zum Beispiel eine Münze wirfst, dann besteht eine 50/50-Chance, dass Kopf oben liegt. Dabei macht es keinen Unterschied, ob du die Münze in zehn Sekunden oder in zehn Nanosekunden wirfst. Die Wahrscheinlichkeit ist immer gleich.

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Im Beispiel mit dem Wasser war die Flüssigkeit im kompletten eingenommen Raum gleich (räumliche Symmetrie). Objekte verhalten sich in der Zeit ähnlich. Das heißt: Genauso wie die Atome eines räumlichen Kristalls im Raum in regelmäßigen Intervallen auftreten, treten die Bewegungen von Wilczeks 4D-Kristallen in regelmäßigen Perioden auf.

Ich nehme wieder die Münze als Beispiel: Wenn der Zeitkristall die zeitliche Translationssymmetrie aushebelt, dann unterscheidet sich eine bestimmte Periode vom Rest. Und die 50/50-Wahrscheinlichkeit des Münzwurfs verändert sich nach diesem Zeitintervall etwa in eine 75/25-Wahrscheinlichkeit.

Foto: Stéphane Magnenat | Flickr | CC BY-SA 2.0

In der Physik ist es möglich, dass sich spontan Kristalle bilden, die mit ihrer Periodizität die räumliche Symmetrie brechen. Deshalb sollten sich auch Zeitkristalle spontan bilden können, deren Periodizität die Symmetrie der Zeit bricht. Laut Wilczek würde sich das im periodischen Ablauf verschiedener thermodynamischer Prozesse zeigen. Ein Beispiel hierfür wäre ein rotierender Ionen-Ring im niedrigsten Energiezustand. Das wäre dann eine Art natürlich vorkommendes Pendel, mit dem man die Zeit messen könnte. So meinte Wilczek 2012 gegenüber dem MIT Technology Review: „Die spontane Formation eines Zeitkristalls ist die spontane Entstehung einer Uhr."

Wilczeks Gedanken waren zwar genauso visionär wie elegant, aber letztendlich lag er bei den Details falsch. Eines der offensichtlichsten Probleme war dabei folgendes: Sein Zeitkristall kam dem unmöglichen Konzept eines Perpetuum mobiles verdächtig nahe. Woher sollte das System im niedrigsten Energiezustand (es kann also keine Energie abgeben) überhaupt die Energie bekommen, um in die periodische Bewegung überzugehen?

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Auf einer noch fundamentaleren Ebene war außerdem nicht ersichtlich, wie Physiker diese mathematische Besonderheit in ein durchführbares Experiment ummünzen sollten.

Vom Papier ins Labor

Erst im Jahr 2016 entdeckten Physiker von Station Q, einer Microsoft-Forschungseinrichtung an der University of California Santa Barbara, eine Möglichkeit, die theoretischen Probleme von Wilczeks Zeitkristallen zu eliminieren. Damit lieferten sie das nötige Fundament für die tatsächliche Herstellung. Grundlage war hierbei die vorhergegangene Forschung der Princeton University. Angeführt von Chetan Nayak fanden die Physiker heraus, dass der spontane Bruch mit der zeitlichen Translationssymmetrie in einem lokal gesteuerten Floquet-Quantenvielteilchensystem erfolgen muss. Klingt unfassbar komplex, aber eigentlich ist damit schlicht ein System gemeint, das irgendwie aus dem thermischen Gleichgewicht geraten ist. Anders gesagt: Das System erhitzt sich nie und kann nicht durch eine Temperatur charakterisiert werden – dafür ist nämlich das eben erwähnte Gleichgewicht vonnöten.

Um dieses Konzept besser zu verstehen, kannst du dir einen Topf vorstellen, in dem sich links ein brennendes Streichholz und rechts ein Eiswürfel befindet. Die Frage nach der Temperatur des Topfes lässt sich damit nicht wirklich beantworten, denn die linke Seite ist heiß und die rechte kalt. Das System besitzt also kein thermisches Gleichgewicht. Sobald das Streichholz jedoch heruntergebrannt und der Eiswürfel geschmolzen ist, kommt das Gleichgewicht zustande und man kann die Temperatur des Topfes bestimmen.

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Die Physiker von Station Q fanden heraus, dass solche Floquet-Systeme ohne Gleichgewicht neue Aggregatzustände beherbergen können. Aggregatzustände, die in Systemen mit Gleichgewicht nicht möglich wären. Mit einem gleichgewichtslosen System im Hinterkopf war es den Microsoft- und UCSB-Forschern dann möglich, eine spontan aufgebrochene zeitliche Translationssymmetrie vorherzusagen. Der Zeitkristall war geboren.

In Wilczeks eigentlichem Plan sollte die fortlaufende zeitliche Translationssymmetrie aufbrechen, damit ein Zeitkristall entsteht. Im Modell von Nayak und Co. bricht jedoch die diskrete zeitliche Translationssymmetrie eines periodisch mit Energie versorgten Systems.

Obwohl diese neue Theorie keinen detaillierten Plan für die Herstellung eines Zeitkristalls lieferte, zeigte sie doch eine sehr interessante Eigenschaft des neuen Aggregatzustands auf: Wenn ein Zeitkristall in einer bestimmten Frequenz mit Energie versorgt wird, dann reagiert er nicht mit der gleichen Frequenz. In anderen Worten: Wenn du eine Ionenkette (das Medium des Zeitkristalls) alle zehn Sekunden mit einem Laser (die Energiequelle) beschießt, dann ist das Zeitintervall dieser Ionen nicht zehn Sekunden lang, sondern ein Vielfaches des eigentlichen Zeitabstands.

Warum das nun so bemerkenswert ist? Folgender Vergleich hilft beim Verständnis: Stell dir vor, drei Personen vertreiben sich die Zeit mit Seilspringen. Hans und Franz halten jeweils ein Ende des Seils in der Hand, während Anna in der Mitte springt. Alle drei Sekunden vollführen Hans' und Franz' Arme eine Rotation. Das Seil ebenfalls. Anschließend durchlaufen die Arme und das Sportgerät wieder die Ausgangsposition. Es herrscht also eine zeitliche Translationssymmetrie mit einer Periode von drei Sekunden.

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Um in diesem Vergleich nun den Sprung zum Zeitkristall zu schaffen, muss man die zeitliche Translationssymmetrie brechen, indem man das System in einer unterschiedlichen Frequenz reagieren lässt. In anderen Worten: Hans' und Franz' Arme rotieren zwar mehrmals komplett, das Seil jedoch nur einmal. Anna muss demnach auch nur einmal hochspringen.

Foto: Ed Schipul | Flickr | CC BY-SA 2.0

Die Frage war nun jedoch, wie man diese mathematische Kuriosität in einem physikalischen Experiment umsetzen kann. Hier kamen Norman Yao und sein Team von der University of California Berkeley ins Spiel.

Nayak und seine Mitarbeiter hatten die theoretischen Probleme von Wilczeks Idee gelöst. Yao und seine Kollegen lieferten dann die praktische Anleitung zur tatsächlichen Erschaffung eines Zeitkristalls.

Es gibt mehrere Wege, um einen Zeitkristall herzustellen

Nach der Veröffentlichung von Yaos Arbeit schafften es Forscherteams von der University of Maryland und von Harvard zum ersten Mal, einen Zeitkristall herzustellen. Dabei folgten sie Yaos Anleitung, nutzten aber zwei unterschiedliche Versuchsaufbauten.

Die Forscher aus Maryland arbeiteten mit Yao zusammen und erzeugten dabei eine Kette aus zehn Ytterbium-Ionen, deren Elektronenspins alle zusammenhingen. Damit sich die Ione nie im Gleichgewicht befanden, hat das Team diese mit zwei Lasern beschossen. Der eine erzeugte ein Magnetfeld, während der andere die Spins immer wieder umkehrte. Da die Elektronen miteinander verbunden waren, löste die Umkehrung eines Spins die Umkehrung eines anderen Spins aus und so weiter. Dadurch entstand ein sich wiederholendes Muster, das die zeitliche Translationssymmetrie durchbrach und einen Zeitkristall entstehen ließ (in diesem Fall war die Dauer der Ionenumkehrung doppelt so lange wie die Dauer des Laserbeschusses).

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Wenn man das elektrische Feld sowie die Dauer des Laserbeschusses verändert, dann wechselt auch der Zustand des Zeitkristalls – wie ein Feststoff, der zu einer Flüssigkeit wird. Nur eben ohne Gleichgewicht. Yao hat auch dem Team der Harvard University bei der Herstellung des Zeitkristalls weitergeholfen. Dabei kamen anstelle von Ytterbium-Ionen kleine Fehlerstellen in Diamanten als Medium zum Einsatz.

Die Ergebnisse beider Experimente werden derzeit für eine eventuelle Veröffentlichung im Wissenschaftsmagazin Nature geprüft. Deswegen konnten die involvierten Physiker nicht allzu viele Details zu den Versuchen verraten.

Zeitkristalle existieren also nicht mehr nur in der Theorie. Deshalb denken viele Physiker nun über Einsatzmöglichkeiten nach. Bei Station Q überlegen die Forscher zum Beispiel, wie sie das Konzept in einen Quantencomputer integrieren können. Der Fokus liegt dabei auf topologischen Quantencomputern.

Laut Nayak ist diese Einsatzmöglichkeit wie gemacht für Zeitkristalle, weil man dabei auf die eng miteinander verknüpften Interaktionen zwischen Partikeln setzt. Und solche Interaktionen ließen sich ja bei der Ytterbium-Ionenkette im Versuch der University of Maryland beobachten.

„Zu unseren Forschungen im Bereich der Quantencomputer lässt sich hier eine Brücke schlagen", sagt Nayak. „Ein Quantencomputer erledigt viele Rechenprozesse in einem bestimmten Taktzyklus und ist außerdem periodisch angetrieben. Dank dieser Umstände können wir untersuchen, wie sich topologische Aggregatzustände in periodisch angetriebenen Systemen verhalten."

„Wie sich herausstellte, ließen sich viele der Ideen und mathematischen Techniken, die wir für Quantencomputer entwickelt haben, sofort auf dieses Projekt anwenden. Sie verhalfen uns zu unserem Durchbruch in Sachen Zeitkristalle", fügt er hinzu.

Laut Nayak steckt die Forschung von Station Q aber noch in den Kinderschuhen und es wird noch lange dauern, bis Zeitkristalle wirklich sinnvoll eingesetzt werden können: „Wir wissen jetzt, was Zeitkristalle genau sind. Außerdem haben wir schon eine grobe Vorstellung, wie wir sie bei topologischen Quantencomputer nutzen können. Trotzdem stehen wir hier noch ganz am Anfang."

Die lange Erklärung, die ich gerade versucht habe, dir aufzutischen, war wirklich das Maximum, was ein einfacher Mensch wie ich gerade noch begreifen und in einen Text packen konnte. Sollte dir während der Lektüre ein Knoten im Gehirn gewachsen sein, mach dir bewusst: Selbst die Physiker, die direkt an der Herstellung eines Zeitkristalls beteiligt waren, wissen noch nicht genau, welche Einsatzmöglichkeiten in dem neuen Aggregatzustand schlummern. Wir Laien müssen uns also nicht schämen, wenn wir das hochkomplexe Thema der Zeitkristalle nur schwer begreifen.