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Physik-Fachjournal lässt sich von 9/11-Verschwörungstheorie vereinnahmen

Der jüngste Artikel des ehemaligen Physik-Professor Steven Jones zeigt, wie 9/11- Verschwörungstheorien die akademische Welt infiltrieren.
Die brennenden Zwillingstürme des World Trade Center am Tag des Anschlags. Foto: Imago

Kaum ein weltpolitisches Ereignis hat so beharrliche Verschwörungstheoretiker auf den Plan gerufen wie die Terroranschläge auf das World Trade Center am 11. September 2001. Am hartnäckigsten hält sich dabei bis heute die niemals auch nur ansatzweise belegte Behauptung, dass der Einsturz der Zwillingstürme sowie des Gebäudes WTC-7 durch eine gezielte Sprengung—möglicherweise sogar durch die US-Regierung selbst veranlasst— herbeigeführt worden sei.

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Dies postuliert auch der ehemalige Physik-Professor Steven Jones, gemeinsam mit einem Professor für Bauingenieurswesen, einem Maschinenbauer aus der Luftfahrtindustrie und dem Architekt und Direktor der dubiosen Architektenvereinigung „Architects & Engineers for 9/11 Truth". Neu sind die Behauptungen der vier Herren wirklich nicht gerade—allerdings wurde ihnen nun eine erschreckend seriöse Plattform zur Verfügung gestellt, um ihre vagen Spekulationen zu verbreiten, die das Zeug zum handfesten Skandal haben: Jones und seine Mitstreiter veröffentlichten ein Pamphlet mit dem Titel „15 Years Later: On the Physics of High-Rise Building Collapses" nämlich in den „Europhysics News" (EPN), einem wissenschaftlichen Print-Fachblatt, herausgegeben von niemand geringerem als der European Physical Society. Diese repräsentiert als Dachverband 42 physikalische Gesellschaften—und damit über 100.000 Physiker aus ganz Europa.

Auch wenn die Autoren sich zieren, es so direkt auszusprechen, ist klar, worauf sie hinauswollen: Die drei Gebäude des World Trade Centers müssen kontrolliert in die Luft gesprengt worden sein.

Mit den EPN verfolgt die Gesellschaft eigentlich das hehre Ziel, „wissenschaftliche Artikel" zu veröffentlichen. Dass man bei besagtem Paper allerdings beide Augen fest zugedrückt hat, kündigt der Herausgeber vorsichtshalber dann auch lieber von vornherein an: Dieser Beitrag sei „ein bisschen anders als unsere gewöhnlich rein wissenschaftlichen Artikel", warnt eine einleitende Anmerkung der Redaktion den Leser. Man wischt dann jedoch jede Verantwortung elegant beiseite: „Angesichts des Timings und der Wichtigkeit des Themas" befände man dieses Feature doch „technisch hinreichend und interessant genug", um es den Lesern zuzumuten.

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Das ist insbesondere extrem bedenklich, wenn man sich näher mit der Autorenschaft des Papers beschäftigt: Steven Jones hatte seine These von der „kontrollierten Sprengung" des World Trade Center, die er in früheren Interviews auch als „inside job" der US-Regierung bezeichnet hatte, bereits 2005 erstmals öffentlich an einer Universität geäußert, die ihn daraufhin beurlaubte. Bis zu seiner Pensionierung wenige Monate später durfte er auch nicht wieder als Dozent tätig werden. Als überzeugter Mormone versucht er seit Jahren, mit Hilfe seiner archäologischen Kenntnisse den angeblichen Besuch von Jesus Christus in Amerika nachzuweisen, wie es im Buch Mormon niedergeschrieben ist. Bislang ist er dabei—wer hätte es gedacht—erfolglos geblieben.

Einen Beweis liefert der Text und seine Veröffentlichungsform dann allerdings ganz eindeutig: Verschwörungstherorien sind nicht nur im Mainstream angekommen, sondern sickern auch auf gefährliche Art und Weise immer weiter in die akademische Welt.

Umso fragwürdiger scheint es da, dass Verschwörungstheorien wie die im nun veröffentlichten Text Einzug in ein nüchternes Fachblatt gefunden haben. Dort nehmen Jones & Co den offiziellen Abschlussbericht des US-amerikanischen National Institute of Standards and Technology (NIST)—die „World Trade Center Collapse Investigation"— zu den Ereignissen des 11. Septembers auf ihre ganz eigene Art und Weise auseinander: Mitunter mutet die Lektüre wie ein Best-of der in den vergangenen 15 Jahren heruntergebeteten Pseudo-Indizien aus der 9/11-Verschwörungscommunity an. Wissenschaftlichkeit, zu der nicht zuletzt auch Empirie zählt, sucht man dagegen vergebens.

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Noch nie vor oder nach 9/11 hätte ein bloßes Feuer die Stahlkonstruktion eines Hochhauses zerstört, so die Autoren. Daher seien die ausgebrochenen Feuer gar nicht heiß genug gewesen, um den Stahl zerstören zu können. Wie ein wütender Schmied aus den Südstaaten diese allzu vertraut klingende Truther-Behauptung praktisch und handfest in wenigen Minuten widerlegt, seht ihr hier.

Anschließend präsentieren die Autoren vier Einwände, weshalb Wolkenkratzer mit Stahlskeletten auch lange andauernde Brände überstehen würden, ohne komplett einzustürzen. Leider bleiben die Erläuterungen sehr allgemein und werden mit Ausdrücken wie „typischerweise" oder „die meisten Hochhäuser" eingeleitet. Der einzige Rückgriff auf die konkrete Situation im World Trade Center bleibt eine Behauptung hinsichtlich der Struktur des WTC-7: „Hier hätte ein Verlust von 67% der Stärke zum Defekt geführt, wofür eine Erhitzung des Stahls auf rund 660°C notwendig gewesen wäre." Darauf, wie genau diese Berechnung zu Stande gekommen ist oder wie es sich dagegen tatsächlich im WTC-7 nach dem Einschlag der Flugzeuge in den Twin Towers verhalten haben könnte, wird nicht weiter eingegangen.

Auch wenn die Autoren sich zieren, es so direkt auszusprechen, ist klar, worauf sie hinauswollen: Die drei Gebäude des World Trade Centers müssen kontrolliert in die Luft gesprengt worden sein. Um diese These an den Mann zu bringen, bedienen sie sich einigen schmutzigen Tricks: Auf Seite 3 wird beispielsweise John Skilling zitiert, seines Zeichens Chefstatiker des World Trade Centers. Dieser hatte 1993 nach dem ersten islamistisch motivierten Angriff auf den Bürokomplex gegenüber der Seattle Times erklärt, dass die Twin Towers so konzipiert seien, dass sie sowohl der Kollision mit einem Flugzeug als auch der Wucht einer Autobombe standhalten würden. Aus dieser korrekt zitierten Aussage, die sich hier nachlesen lässt, schlussfolgern Jones und Co. dann dreist: „Mit anderen Worten: Skilling glaubte, dass der einzige Mechanismus, der die Twin Towers zum Einsturz bringen konnte, eine kontrollierte Sprengung sei." Skilling wird also eine Aussage in den Mund gelegt, die er nie getätigt hatte.

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Belege dafür, dass ein solcher mysteriöser Sprengmeister sich am 11. September 2001 auch in Manhattan betätigte, gibt es freilich nicht. Stattdessen argumentiert Jones damit, eine „Messung des [freien] Falls [von Gebäude WTC 7] auf Video" durchgeführt zu haben. Einen solchen freien Fall hätte das NIST in seinen Computermodellen nicht berücksichtigt. Jones kritisiert außerdem, dass die Simulation des NIST eine Deformierung des Gebäudes zeige, die er anhand von Videomaterial aber nicht erkennen konnte. Das Paper zitiert schließlich noch weitere Forscher und Experten, die die Ergebnisse der Untersuchung des NIST ebenfalls anzweifeln, doch in ihrer Argumentation beschränken sich Jones & Co in erster Linie auf die „verfügbaren Anzeichen, die darauf hinweisen, dass die Flugzeugeinschläge und nachfolgenden Brände nicht den Einsturz der Twin Towers" verursacht hätten.

Auch wenn es aus dem verfügbaren Material nicht abschließend zu klärende Ereignisse oder sogar Unstimmigkeiten im Prüfbericht des NIST geben mag, kann das wohl kaum der umgekehrte Beweis dafür sein, dass statt des Flugzeugeinschlags eine kontrollierte Sprengung den Kollaps der Türme verursacht hat. Im Fazit bilanzieren die Autoren allerdings trotzdem unbekümmert: „Die Beweislage deutet überwältigend daraufhin, dass alle drei Gebäude von einer kontrollierten Sprengung zerstört wurden."

Unterdessen verbreiten Verschwörungsfreunde das neue Paper rasend schnell in den sozialen Medien—und fühlen sich einmal mehr bestätigt.

Fachmagazin veröffentlicht 9/11-Verschwörungstheorie .aber das wussten wir doch schon seid 15 jahren. nichts neues. busch junior sein plan
— peter müller (@thegreatballon) 7. September 2016

Das „Timing" für Steven Jones' Artikel ist nicht nur angesichts des nahenden 15. Terror-Jahrestags ideal: „Verschwörungstheorien gedeihen immer dann besonders gut, wenn es Krisen, Konflikte und undurchschaubare Entwicklungen gibt", so der Politologe Tobias Jaecker gegenüber der Stuttgarter Zeitung.

Einen Beweis liefert der Text und seine Veröffentlichungsform dann allerdings ganz eindeutig: Verschwörungstherorien sind nicht nur im Mainstream angekommen, sondern sickern auch auf gefährliche Art und Weise immer weiter in die akademische Welt. Und da wundert es dann auch nicht, wenn sich die Herausgeber des Fachjournals im Vorwort nochmal extra absichern: „Natürlich liegt dieser Artikel in der Verantwortung der Autoren."

Genau diese Verantwortung der Nachprüfbarkeit und Unabhängigkeit aber muss ein renommiertes wissenschaftliches Fachblatt leisten, wenn es sich als solches bezeichnen lassen will.