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Warum Schüler, die den Parkland-Amoklauf überlebt haben, als 'Krisen-Schauspieler' beschimpft werden

Sie haben haarscharf einen Amoklauf überlebt, bei dem viele ihrer Freunde starben – nun werden sie beschuldigt, ihre Wut und Trauer nur zu simulieren. Wir haben untersucht, was hinter der Verschwörungstheorie steckt.
Parkland

Der Begriff "Krisenschauspieler" taucht in den letzten Tagen immer häufiger in Medienberichten auf. Denn Verschwörungstheoretiker beschuldigen Überlebende des Amoklaufs an der Marjory Stoneman Douglas High School in Parkland, Florida, nicht aus freien Stücken lautstark gegen die laxen Waffengesetze in den USA zu protestieren, sondern bezahlte Schauspieler zu sein. Die wilde, zynische Theorie lautet: Die Schüler tun nur so, als ob sie Zeuge einer schrecklichen Gewalttat geworden seien. Der Amoklauf sei in Wirklichkeit keiner gewesen, sondern von Regierungsmitgliedern inszeniert worden, um die politische Stimmung in Richtung eines Waffenverbots zu kippen.

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Bei Tragödien mit vielen Todesopfern lassen Verschwörungstheorien selten lange auf sich warten. Ein sehr prominentes Beispiel dafür sind die Anschläge vom 11. September, um die sich zahlreiche konspirative Thesen ranken. In den letzten Jahren gingen Verschwörungstheoretiker sogar so weit, zu behaupten, dass terroristische Attacken oder Amokläufe in Wirklichkeit niemals stattgefunden hätten.

Dabei spielt der Begriff "Crisis Actor", also "Krisenschauspieler", eine zentrale Rolle. Indem sie Überlebenden von Amokläufen oder anderen Katastrophen vorwerfen, von der Regierung engagierte Schauspieler zu sein, stellen sie die Glaubwürdigkeit der Opfer öffentlich in Frage – dieses Phänomen war auch bei den Anschlägen auf den Boston Marathon und den Bataclan Nachtclub in Paris zu beobachten.

Weil er einmal von einem lokalen Nachrichtensender interviewt wurde, wird David Hogg als "Schauspieler" beschimpft | Screenshot: CBS LA | YouTube

So auch beim Parkland-Shooting: Auf YouTube tauchte ein Video auf, in dem behauptet wird, dass der Überlebende des Amoklaufs David Hogg ein Schauspieler sei. Das Video führte am vergangenen Mittwoch sogar die Videotrends an, bevor es von YouTube gelöscht wurde. Auch Emma González, die zusammen mit ihrem Mitschüler David Hogg zum Gesicht der Schülerproteste geworden ist, wird vorgeworfen, eine Kinderdarstellerin zu sein. Echte Beweise gibt es für diese Theorien natürlich nicht. Trotzdem ist die Verschwörungstheorie inzwischen so sehr in den Mainstream geschwappt, dass prominente Late-Night-Hosts wie Stephen Colbert und Jimmy Kimmel in ihren Sendungen dazu Stellung bezogen haben.

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Um herauszufinden, warum sich die Theorie um "Krisenschauspieler" so rasant verbreiten, haben wir sie bis zu ihrem Ursprung verfolgt. Außerdem haben wir mit einem Katastrophenschutzexperten gesprochen, der seit über 40 Jahren mit Darstellern zusammenarbeitet, um den Ernstfall zu proben. Im Großen und Ganzen lässt sich festhalten: Der Begriff "Krisenschauspieler" ist ein recht junger Begriff für ein neues Phänomen.

Die Spur führt zum konspirativen Blog eines Hochschulprofessors

Der Begriff "Crisis Actor" taucht unseren Recherchen nach zum ersten Mal öffentlich am 31. Oktober 2012 in einer Pressemitteilung der Schauspielagentur VisionBox aus Colorado auf. Die Agentur bewarb damals ihre Schauspieler, die bei Katastrophenschutzübungen die Rollen von Tätern, Opfern oder Zeugen übernehmen könnten, um die Simulation realistischer erscheinen zu lassen. Auch in Deutschland gibt es solche Angebote: Das DART-Center for Journalism & Trauma etwa simuliert Katastrophen, um Journalisten oder Entwicklungshelfer möglichst realistisch auf ein solches Szenario vorzubereiten, und übt etwa den respektvollen Umgang mit verstörten oder verletzten Opfern am Ort des Geschehens.

Screenshot: CrisisActors.org

Wie schnell der Begriff "Krisenschauspieler" von Verschwörungstheoretikern instrumentalisiert wurde, zeigte sich nach dem Amoklauf an der Sandy Hook Elementary School im Dezember 2012. Sechs Tage nach dem Massaker, bei dem insgesamt 28 Menschen starben, veröffentlichte der Professor für Kommunikation James Tracy eine Reihe an Blogeinträgen, in denen er verschiedene "Ungereimtheiten" zwischen der offiziellen Geschichte und Interviews mit Zeugen an der Schule aufdecken wollte.

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"Eine Studentin erzählte mir, dass sie glaubt, dass die Bundesagentur für Katastrophenschutz für die Überschwemmung in New Orleans verantwortlich war."

In den Kommentaren zu Tracys Blogposts und seinen Einträgen selbst tauchen mehrfach die Begriffe "Krisenschauspieler" und "professionelle Schauspieler" auf. Auch andere Blogs griffen die Narrative auf. Die Argumentation ist dabei stets ähnlich: Die Augenzeugen in den Berichten wirken unglaubwürdig, ihre Aussagen einstudiert und unnatürlich. In den konspirativen Blogeinträgen wird immer wieder direkt auf die Pressemitteilung von VisionBox verwiesen und suggeriert, dass die Agentur von der Regierung für den Amoklauf angeheuert worden sein könnte. Auch heute noch werden Bilder der inzwischen inaktiven Website www.crisisactors.org von Verschwörungstheoretikern verwendet, um ihre Theorien zu "belegen".

Die Sandy-Hooks-Theorie wurde damals von der rechten, konspirativen Seite InfoWars aufgegriffen und weiter verbreitet. Da es sich bei Tracy um einen Hochschulprofessor und nicht nur irgendeinen Irren aus dem Netz handelte, lösten seine Posts sogar eine Diskussion bei renommierten Medien wie CNN aus. Seitdem werden nach jeder Schießerei oder Terrorattacke in den USA Stimmen laut, die behaupten, dass es sich bei interviewten Überlebenden und Zeugen tatsächlich um "Krisenschauspieler" handele, die von der Regierung bezahlt würden. Das wird auch bei einem Blick auf die Google-Trends deutlich: Suchanfragen nach dem Begriff "Crisis Actor" tauchen erstmals nach Tracys Blogeintrag 2012 auf und steigen nach signifikanten Ereignissen wie Terrorangriffen oder Amokläufen rapide an.

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Echte Krisenschauspieler sind wichtig für den Katastrophenschutz

Wie hinter jeder Verschwörungstheorie steckt auch hinter der Theorie um die bezahlten Krisenschauspieler ein Fünkchen Wahrheit. Denn es gibt tatsächlich Darsteller, die an Unfall- oder Katastrophenschutzübungen mitwirken.

Michael Fagel ist selbst Ersthelfer und organisiert seit 40 Jahren Unfall-Simulationen. Dabei setzt er regelmäßig Schauspieler ein. Sie seien ein wichtiger Bestandteil des Trainings, erklärte er gegenüber Motherboard. Den Begriff "Krisenschauspieler" habe er jedoch in den letzten Tagen zum ersten Mal gehört. "Wir nennen sie 'Rollenspieler"', sagte er.

Fagel ist mit Notfallsituationen bestens vertraut: Er war beim Bombenanschlag in Oklahoma City, beim Einsturz des World Trade Center am 11. September und bei Hurrikan Katrina als Ersthelfer im Einsatz. Als Leiter der Firma Aurora Safety organisiert er Trainings für Ersthelfer. Außerdem erstellt er Übungen für das Department of Homeland Security und gibt Sicherheitsseminare an der Louisiana State University. Fagel erzählt, dass Darsteller bereits in den 1970er Jahren bei Katastrophenschutzübungen eingesetzt wurden. Oft werden dafür Mitglieder von Schauspielgruppen angeheuert, oder die Rollen werden von Rettungskräften, Medizinstudenten oder Ersthelfern übernommen.

"Wir haben bei den Rettungs- und Bergungseinsätzen alles gegeben. Das waren keine Hollywood-Kulissen."

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Fagels Darsteller tragen Karteikarten bei sich, auf denen ihre Symptome stehen. Außerdem erhalten sie vor dem Einsatz ein Skript, damit sie so realistisch wie möglich auf die Rettungskräfte und Ersthelfer reagieren können. Außerdem werden ihnen oft Verletzungen aufgeschminkt. Denn je realistischer die Übung gestaltet ist, desto größer ist auch der Trainingseffekt für Einsatzkräfte, erklärt Fagel. Das ist auch durch mehrere wissenschaftliche Arbeiten belegt: Eine Studie, die 2004 im Journal of Contingencies and Crisis Management veröffentlicht wurde, zeigte, dass der Trainingserfolg für Polizisten, Feuerwehrleute und andere Rettungskräfte größer ist, wenn bei einer Übung Darsteller eingesetzt werden.


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Für die Verschwörungstheorien um die "Krisenschauspieler" hat Fagel kein Verständnis, denn sie gefährdeten seine Arbeit. "Eine Studentin erzählte mir, dass sie glaubt, dass die Bundesagentur für Katastrophenschutz für die Überschwemmung in New Orleans verantwortlich war und dass die Regierung hinter den Angriffen am 11. September steckte", sagte er. "Ich war bei beiden Ereignissen vor Ort. Wir haben bei den Rettungs- und Bergungseinsätzen alles gegeben. Das waren keine Hollywood-Kulissen."

Somit gelingt es Verschwörungstheoretikern, ein wichtiges Element von Katastrophenschutzübungen für ihre Zwecke umzudeuten. Indem sie die Überlebenden des Parkland-Amoklaufs als "Krisenschauspieler" verunglimpfen, schikanieren und diffamieren sie Jugendliche, die eine schreckliche Tragödie durchlebt haben – und versuchen, ihren Kampf gegen die Waffenlobby zu untergraben.