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Gegen den "Irrsinn": Wissenschaftler fordern Abschaffung des Heilpraktikerberufs

"Staatlich geprüfte" Heilpraktiker brauchen kein Studium, um obskure Spritzen zu setzen und Therapien durchzuführen, die nicht nachweislich wirken müssen. Eine Expertengruppe lehnt sich nun dagegen auf.

Globuli gegen Nackenverspannung, Globuli gegen Mundgeruch, Globuli gegen Depression – und für die Strandfigur: Glaubt man der steigenden Zahl von Heilpraktikern, sind die bunten Kügelchen ohne nachgewiesene Wirkung wahre Allrounder im Salben und Laben der Deutschen.

Fragt man die Autoren des "Münsteraner Memorandums Heilpraktiker", wird man vermutlich das genaue Gegenteil zu hören bekommen. Die 17-köpfige Expertengruppe aus Ärzten und Wissenschaftlern hat gerade ein Statement veröffentlicht, in dem sie die Abschaffung oder die grundlegende Reform des Heilpraktiker-Berufes fordern.

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Die Gruppe um Bettina Schöne-Seifert, Medizinethik-Professorin an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster (WWU), kritisiert demnach die "unangemessene Ausbildung und die meist unhaltbaren Krankheitskonzepte" der Heilpraktiker.

Parallelgesellschaft Heilpraktiker

Aus der Sicht der Expertengruppe gebe es derzeit zwei Welten, die sich unversöhnlich gegenüber stünden: die Welt der akademischen Medizin und die Welt der Heilpraktiker. Erstere praktizieren eine evidenzbasierte Medizin – die Wirkung von Heilverfahren müsse in klinischen Studien nachgewiesen werden –, Letztere sei eine "gefährliche Pseudowissenschaft", deren Wirkungslosigkeit in vielen Studien belegt worden sei.

Patienten in gesundheitlicher Not und unter Zeitdruck seien besonders verletzlich und "anfällig für falsche Heilsversprechungen und ökonomische Ausbeutung", heißt es weiter. Daher fordern die Autoren des Memorandums, dass der Staat die alternativen Anbieter von Gesundheitsleistungen strenger reglementiere. Denn im Gegensatz zu Ärzten, die zuvor ein langes Medizinstudium und eine mehrjährige Facharzt-Ausbildung durchlaufen, müssen Heilpraktiker nur eine einzige Prüfung bestehen: Solange sie belegen können, dass ihre Heilkunde keine Gefahr für die Gesundheit der Patienten darstellt, gilt ein Heilpraktiker nämlich bereits als "staatlich anerkannt".

"Um es deutlich zu sagen", so beschreibt Schöne-Seifert das Ziel des hinter dem Memorandum stehenden "Münsteraner Kreises": "Wir wollten den gegenwärtigen Irrsinn nicht länger hinnehmen."

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Heilpraktiker dürfen "experimentelle Spritzen" setzen – und das kann schon mal tödlich enden

Die derzeitige gesellschaftliche Stimmung in Deutschland treffen die Münsteraner Mediziner mit ihrem scharf formulierten Schreiben jedoch kaum. Denn ob Bachblüten, Schüßler-Salze oder Grippe-Globuli – trotz fehlender Belege für die Wirksamkeit wächst die Zahl der Anhänger solcher alternativmedizinischer Verfahren in Deutschland. Auch Apotheker haben mittlerweile Globuli in ihr Verkaufssortiment aufgenommen, und manche Ärzte raten neben der üblichen Leistung zu "komplementären", also wissenschaftlich nicht erforschten Heilverfahren.

Dass solche ungeprüfte Methoden sogar tödlich enden können, zeigt ein Fall aus Nordrhein-Westfalen vom vergangenen Jahr. Ein Heilpraktiker hatte drei Menschen eine ungeprüfte chemische Substanz namens 3-Bromopyruvat (3-BP) injiziert, die laut Angaben des Alternativmediziners gegen Krebs helfen solle. Ende Juli starben die drei infolge der experimentellen Methode, die Staatsanwaltschaft begann Ermittlungen gegen Klaus R. wegen fahrlässiger Tötung. An dem in Deutschland geltenden Heilpraktikergesetz, das eine geregelte Ausbildung nicht vorsieht, hat sich seitdem nichts geändert.

An der Globulisierung der Bevölkerung ist die akademische Medizin nicht ganz unschuldig

Doch dass trotz solcher Horrormeldungen immer mehr Menschen in Deutschland fragwürdigen Methoden auf den Leim gehen, liegt laut Experten nicht nur an den verheißungsvollen Versprechen der Heilpraktiker oder an unmündigen Patienten. Gründe für die Fahnenflucht deutscher Patienten in die Parallelwelt esoterischer Kurpfuscher liegen laut Stefan Willich vom Berliner Charité Krankenhaus in der Schulmedizin selbst. Diese habe viel zu lange Patientenwünsche übergangen und Vertreter der Branche sich als allwissende "Halb-Götter" inszeniert, meint Willich der sich in einem WDR-Interview selbst als Schulmediziner bezeichnete.

Erst die Alternativmedizin habe der Schulmedizin gezeigt, dass ein empathischer Arzt-Patienten-Bezug, ausreichend Zeit für Gespräche und auch der Placebo-Effekt wichtig für den Therapieerfolg sein könnten. Auch wenn ein Großteil alternativer Heilverfahren bislang ohne nachgewiesene Wirkung sei, gebe es dennoch Beispiele für evidenzbasierte Alternativheilverfahren wie etwa Akupunktur, die "hervorragend" sei bei chronischen und Gelenkschmerzen, so der Arzt. Obwohl der subjektive Eindruck wichtig sei, so Willich, könne es gefährlich werden – etwa wenn fundamentales Fachwissen und eine anständige Ausbildung fehlten.

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Messer auf die Heilpraktiker-Brust: Reform oder Abschaffung

Auf solche möglichen, weichen Faktoren, die den Heilpraktiker-Boom befeuern, geht die Münsteraner Expertengruppe in ihrem Statement erstmal nicht ein – ihnen geht es zunächst um die falsche Autorität, die Heilpraktiker den Patienten als Lösung ihrer Leiden vorgaukeln. Zwei Lösungen schlagen sie daher vor:

- die Abschaffungslösung: Der staatlich geschützte Heilpraktiker-Beruf wird ersatzlos annulliert. Die Abschaffung habe den Vorteil, die "bizarre Qualitätslücke" zwischen "qualitätsgesicherter ärztlicher Gesundheitsversorgung" und dem "Heilpraktikerwesen" nachhaltig zu schließen.

- die Kompetenzlösung: An die Stelle bisheriger Heilpraktiker, die staatlich kaum geprüft sind, treten "Fach-Heilpraktiker". Sie unterscheiden sich von den Heilpraktikern dahingehend, dass sie eine wissenschaftliche Ausbildung haben und einer staatlichen Prüfung unterzogen werden. Nur wer dieses Prüfungsverfahren durchläuft, soll am Ende eine Lizenz für den Heilpraktiker-Beruf erhalten.

Ob es die Expertengruppe mit ihren Vorschlägen schafft, eine echte Debatte anzustoßen, oder ob sie im deutschen Homöopathie-Hype sanglos untergehen, wird sich zeigen – insbesondere, da viele gesetzliche Krankenkassen die "Therapie" mit Globuli auch heute noch dank hoher Nachfrage klaglos mitfinanzieren.