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Niemand weiß, was hinter dem kurzzeitigen Anstieg der Radioaktivität in Europa steckt

Atomwissenschaftler tun sich schwer damit, eine Ursache für die erhöhten Werte radioaktiver Strahlung zu finden, die im Januar in weiten Teilen Europas auftraten.
IAEA/Flickr

Das französische IRSN-Institut, eine Organisation für Strahlenschutz und nukleare Sicherheit, hat in einer Erklärung vom 13. Februar bekanntgegeben, dass Spuren von Jod-131 in der erdnahen Atmosphäre über Europa nachgewiesen wurden. Das radioaktive Nuklid wurde erstmals in der zweiten Januarwoche über dem Norden Norwegens entdeckt. Wenig später ließ sich es sich jedoch auch über Finnland, Polen, Deutschland, der Tschechischen Republik, Frankreich und Spanien nachweisen. Seither haben sich die Werte zwar wieder im Normalbereich eingepegelt, doch Wissenschaftler konnten bis heute keine gesicherte Erklärung für den Ursprung der Strahlung finden.

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Das norwegische Amt für Strahlenschutz (NRPA), das erste Spuren von Jod-131 über der nördlichen Grenze Russlands entdeckte, erklärte telefonisch gegenüber Motherboard, dass die Strahlenwerte kein Gesundheitsrisiko darstellten. „Ich kann Ihnen versichern, dass die Werte niedrig sind", sagte ein Pressesprecher.

Genauso sicher ist allerdings, dass aufgrund der kurzen Halbwertszeit von lediglich acht Tagen definitiv vor Kurzem Jod-131 in der Atmosphäre freigesetzt wurde, heißt es in einer Pressemitteilung vom IRSN.

Auch wenn der Ursprung der Strahlung noch unklar ist, läuft die Gerüchteküche natürlich schon auf Hochtouren: Russland, so wird gemunkelt, habe einen geheimen Atomwaffentest in der Arktis abgehalten, womöglich in der Nowaja-Semlja-Region. Die Doppelinsel war bereits in der Vergangenheit Schauplatz von russischen Atomtests. Das 1938 von zwei Forschern der Universität Kalifornien entdeckte Jod-131 entspricht jenem Radioisotop, mit dem in den 50er-Jahren zahlreiche US-amerikanische und russische Atombombentests durchgeführt wurden. Zuletzt gefährlich wurde es durch Lecks nach den Atomkatastrophen von Tschernobyl und Fukushima.

Jod-131 spielt jedoch auch in der Medizin eine Rolle und wird häufig zur Behandlung von Schilddrüsenerkrankungen und Krebs eingesetzt. Astrid Liland, Leiterin der Abteilung für Katastrophenprävention beim NRPA, bestätige Motherboard in einer E-Mail: „Da lediglich Jod-131 und keine weiteren radioaktiven Substanzen gemessen wurden, nehmen wir an, dass die Spuren durch ein Pharmaunternehmen entstanden sind, das radioaktive Medikamente herstellt. Jod-131 wird zur Behandlung von Krebs genutzt."

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Partikelgehalt von Jod-131 in der Atmosphäre (µBq/m3). Bild: IRSN

Auch die britische Gesellschaft für Strahlenschutz (SRP) führt das Vorkommen gegenüber Motherboard nicht auf einen nuklearen Zwischenfall, sondern auf einen medizinischen Ursprung wie Krankenhäuser oder Lieferanten von radioaktiver Pharmazeutika zurück. „Die Freisetzung war offenbar aktuellen Ursprungs. Darüber hinaus lassen sich keine gesicherten Aussagen treffen", schreibt SRP-Mitarbeiter Brian Gornall Motherboard in einer E-Mail.

Dennoch ist bislang nicht bekannt, wo dieses Pharmaunternehmen sitzt. „Aufgrund schneller Veränderungen der Windrichtung ist eine exakte Bestimmung des Ursprungs unmöglich. Es deutet jedoch auf eine Quelle im Osten Europas hin", sagte Liland gegenüber Motherboard.

Das radioaktive Wolke veranlasste auch die US Air Force dazu, ein Forschungsflugzeug auszusenden, das Partikel aufspüren kann. Laut The Aviationist  ist seit dem 17. Februar eine im englischen Mildenhall stationierte US-Air-Force-Maschine der Reihe WC-135 im Einsatz, um die Atmosphäre über Europa auf Strahlung zu testen. Zuletzt wurde das Flugzeug eingesetzt, um nach Berichten über einen nordkoreanischen Atomtest Atmosphäre der koreanischen Halbinsel auf Spuren radioaktiver Strahlung zu untersuchen.

Der aktuelle Einsatz der US-Maschine soll auf Gerüchte zurückgehen, die von einem russischen Atombombentest berichten. Ein Sprecher der Organisation des Vertrags über das umfassende Verbot von Nuklearversuchen (CTBTO) – eine internationale Körperschaft mit dem Ziel, Atomwaffentests zu überwachen – erklärt in einer E-Mail an Motherboard: „Obwohl seit Anfang des Jahres einige Spuren von erhöhtem Jod-131-Vorkommen nachgewiesen wurden, liegen diese Messungen nicht im außergewöhnlichen Bereich."

Laut einer Mitteilung des IRSN wurden die gesammelten Daten inzwischen mit Mitgliedern des informellen europäischen Netzwerks „Ring of Five" geteilt, einem Organisationen-Verbund, der radioaktive Strahlung in der Atmosphäre untersucht.

Die gesammelten Erkenntnisse und deren nüchterne Interpretationen zeigen deutlich: Es besteht kein Grund zur Hysterie. Sowohl Dauer als auch Höhe der Strahlenbelastung liegen deutlich unter internationalen Grenzwerten – gesundheitliche Folgen sind nahezu ausgeschlossen. Ob und welches Pharmaunternehmen für die erhöhten Messwerte verantwortlich ist und wie es im Zuge einer mutmaßlich routinemäßigen Produktion von Medikamenten zu einem nennenswerten Anstieg Jod-131 kommen konnte, ist jedoch weiterhin ungeklärt.