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"Überprüfte mein Konto, wollte mich übergeben": Gamer erzählen von ihren Lootbox-Krisen

Hohe Schulden, gescheiterte Beziehungen, Selbstmordgedanken – für einige Gamer hat die Sucht nach den virtuellen Schatzkisten fatale Folgen. Auch Sucht-Experten meinen, dass man die psychologischen Auswirkungen nicht unterschätzen sollte.
Screenshot: Blizzard 

"Online-Kasino im Star-Wars-Look, das Kinder zum Prassen verführt," so bezeichnete der US-Kongressabgeordnete Chris Lee den großen Online-Shooter Star Wars: Battlefront II. Schuld daran waren die sogenannten Lootboxen, digitale Schatztruhen mit zufällig zusammengewürfelten Belohnungen: neue Kostüme für den Lieblingshelden, aber auch spielentscheidende Gegenstände sind oft dabei. Gamer erspielen die Kisten oder kaufen sie für echtes Geld. Ein großes Geschäft für Entwickler.

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Tatsächlich gab es im vergangenen Jahr kaum ein Thema, dass die Gaming-Debatte so sehr dominierte wie die Diskussion um die Lootboxen, die in immer mehr Videospielen zum Einsatz kommen. So wurden die Releases von lang erwarteten Spielen wie Assassin's Creed: Origins, Mittelerde: Schatten des Krieges oder Star Wars: Battlefront II von den wütenden Stimmen der Spieler überschattet. Mehr noch, Politiker, Psychologen und andere Experten fürchten, dass hinter den digitalen Schatzkisten eine neue Art von Glücksspiel steckt, das vor allem Kinder gefährden könnte.

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Doch haben Lootboxen tatsächlich das Potenzial, Menschen abhängig zu machen? Wir haben in den letzten Wochen mit Gamern über ihre ganz persönlichen Erfahrungen mit Mikrotransaktionen, Lootboxen und Skin-Gambling gesprochen. Über Twitter fragten wir nach Gamern und bekamen eine Vielzahl von Rückmeldungen. Mit über zehn von ihnen sprachen wir detailliert. In den Gesprächen wird klar: Es gibt zahlreiche Menschen, die schwer mit Impulskäufen in Videospielen zu hadern haben und die Konsequenzen ähneln denen einer ausgewachsenen Glücksspielsucht.

So bewarb Blizzard die Weihnachts-Skins für 'Overwatch' | Bild: Blizzard

Scham und Stress statt Spielspaß

Um zu verstehen, wie sich Glücksspielmechanismen in Videospielen auswirken können, haben wir mit Gamern verschiedenen Alters gesprochen. Sie spielen auf unterschiedlichen Plattformen, von Smartphones über PC zu Konsolen. Die befragten Gamer hatten für gewöhnlich Probleme mit einem bestimmten Spiel, nicht mit Videospielen im Allgemeinen. Der Inhalt der Lootboxen hat dabei keinen Unterschied gemacht: Probleme hatten die Gamer, egal ob in den Schatzkisten nur optische Belohnungen ( Overwatch) waren oder spielentscheidende Vorteile ( Mittelerde: Schatten des Krieges, Battlefront II). Wie unterschiedlich die Gamer und ihre Erfahrungen auch waren, durch all ihre Geschichten zogen sich ähnliche Verhaltensmuster wie ein roter Faden.

Alle Gamer, mit denen wir sprachen, beschrieben ihr Kaufverhalten im Bezug auf Lootboxen allgemein als impulsiv, beschämend und stressauslösend. Der Drang, immer weitere Lootboxen zu kaufen und so heiß ersehnte Ausrüstungsgegenstände zu ergattern, wurde vor allem durch zeitlich begrenzte Events und Gruppenzwang befeuert.

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Nachdem sie ein paar hundert Euro in Fire Emblem Heroes und Overwatch ausgegeben hatte, bereute es die 26-jährige Fennel, jemals mit Lootboxen angefangen zu haben, wie sie uns erzählte. "Jedes Mal, wenn ein zeitlich begrenztes Event startete, fühlte ich mich genötigt, Geld auszugeben, um nichts zu verpassen", sagte sie. "Angst und Stress. Daraus bestand für mich das Spiel irgendwann." Sobald ein Event lief, musste ich entweder Geld ausgeben oder permanent spielen, um nicht leer auszugehen." Auf diese Weise häufte auch ein anderer Gamer mehrere Tausend Euro Schulden mit dem Online-Rollenspiel Neverwinter an.

"Wie das Öffnen von Weihnachtsgeschenken" – aber mit üblem Nachgeschmack

Wir wollten von den Gamern wissen, warum Lootboxen für sie überhaupt so attraktiv sind. Immerhin sind die meisten Inhalte in vielen Lootbox-Spielen völlig optional und nur als zusätzliche Belohnung gedacht, nicht als einziger Spielinhalt. Ein ehemaliger Overwatch-Spieler, der anonym bleiben möchte, beschrieb, was ihn zur Lootbox-Sucht trieb: Für ihn fühlte sich das gleichzeitige Öffnen mehrerer Lootboxen wie ein "konstanter Rausch" an. "Wie das Öffnen von Weihnachtsgeschenken," sagte er.

Ein anderer Spieler beschrieb, was für ihn den unwiderstehlichen Reiz der virtuellen Schatzkisten ausmacht: "Eine enttäuschende Box bedeutet nur, dass du dem Erfolg einen Schritt näher gekommen bist." Ein FIFA-Spieler, der über 1.000 Euro für Ultimate Team ausgeben hat, sagte, das ihn der Wunsch antrieb "einen bestimmten Spieler zu bekommen und ein gutes Team zusammenzustellen."

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Halloween-Horror bei 'Overwatch' | Bild: Blizzard

Ein anderer Spieler beschrieb uns den fast magischen Moment, wenn er eine neue Kiste öffnete: "die langsame Enthüllung, das sanfte Glühen, die Optik, wenn der Loot aus der Box explodiert, das goldene Licht für ein paar Frames". Diese geschickte Präsentation animierte ihn dazu, immer mehr Geld auszugeben.

Doch der Rausch, den die Spieler fühlten, wenn sie eine neue Box öffneten oder ein seltenes Item gewannen, hielt nie lange an. Stattdessen wurde das Hochgefühl schnell von Reue und Schamgefühl abgelöst. Irgendwann sei ihm "richtig schlecht" gewesen, sobald er sich einloggte, erzählte der anonyme Overwatch-Spieler. "Damals wachte ich auf, erkannte, was ich getan hatte, überprüfte mein Konto und wollte mich übergeben."

"Nach dem Kauf saß ich oft nur so da und hatte einen bitteren Geschmack im Mund", erzählte ein ehemaliger Marvel-Heroes-Spieler.

Probleme mit der Familie, Schulden, Selbstmordgedanken – die Konsequenzen sind ernst

Viele Spieler berichteten, dass ihr Kaufverhalten sich auch signifikant auf ihre Beziehungen, Finanzen und ihre Psyche auswirkte. Einige Gamer waren auch überrascht, wie bereitwillig sie plötzlich Geld ausgaben. So zum Beispiel die 26-jährige Fennel, die Overwatch und Fire Emblem Heroes spielte. Sie meinte, dass sie den Reiz von traditionellem Glücksspiel nie verstanden habe.

Andere Spieler hingegen verfielen durch die Lootboxen wieder in alte Verhaltensmuster. Kyle erzählte uns, dass er schon in der Vergangenheit ein Problem mit Online-Shopping hatte, die Lootboxen machten ihm aber noch viel mehr zu schaffen. Matt hatte früher Probleme mit Glücksspielsucht und Online-Wetten. In Counter-Strike kaufte er sich zunächst nur gelegentlich Lootboxen, bis er dann auch hier eine Art Sucht entwickelte. In vielen Fällen verschlimmerten die Gaming-Gewohnheiten bestehende Angstzustände und Depressionen oder sorgten für Zerwürfnisse mit Partnern oder Familienmitgliedern.

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In 'Shadow of War' konnten Gamer ein spezielles Starterpaket erwerben

In den schlimmsten Fällen führte die Sucht nach den Boxen sogar zu schweren Depressionen oder Selbstmordgedanken. Ein Spieler, für den die hohen Ausgaben bei Musikspielen wie Idolm@ster und und Love Live zu einer schweren Krise führten, beschrieb seinen persönlichen Tiefpunkt wie folgt: "In dieser Nacht rief ich eine Suizid-Hotline an. Ich fühlte mich verzweifelt und erbärmlich, weil ich gerade so viel Geld für virtuelle Juwelen ausgegeben hatte. In diesem Moment war ich der Meinung, dass ich den Tod verdient hätte, weil ich es so weit hatte kommen lassen und so viel Geld verschwendet hatte."

Psychiater vergleichen Videospielsucht mit Drogen- und Alkoholmissbrauch

Um die Effekte von Lootboxen auf Gamer besser zu verstehen, sprechen wir mit einer Reihe von Experten. Dazu gehören Ärzte und Leiter von Selbsthilfegruppen, die sich mit dem Thema Spielsucht befassen, sowie Macher von Glücksspielautomaten und Glücksspiel-Kritiker. Stellvertretend lassen wir hier einen Arzt und einen Glücksspiel-Entwickler zu Wort kommen.

So erklärt etwa der Psychiater Richard Freed gegenüber Motherboard, dass Glücksspielsucht und Videospielsucht dieselben persönlichen Konsequenzen haben können wie Drogenmissbrauch. Freed arbeitet mit vielen Familien zusammen, die mit digitaler Abhängigkeit kämpfen. "Auch Verhaltensmuster können süchtig machen", sagte Freed. Verschiedene psychiatrische Studien belegen, dass Spielsucht dieselben Bereiche im Gehirn anspricht wie es auch bei Drogen- oder Alkoholsucht der Fall ist.

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Pathologisches Glücksspiel wird nach dem ICD-10 als Störung der Impulskontrolle eingestuft. Der Betroffene ist unfähig, dem Glücksspiel zu widerstehen, auch wenn das schwere Folgen auf sein persönliches und berufliches Umfeld hat. Auch wenn dieses Gebiet noch nicht sehr gut erforscht ist, deuten neuere Studien an, dass dasselbe auch für die Sucht nach Videospielen gelten könnte. Aus einer vorläufigen Version des ICD-11 geht hervor, dass auch die WHO dieser Meinung ist und die Gaming-Sucht künftig offiziell als Krankheit anführen wird.

Die Grenze zwischen Videospiel und Glücksspiel verschwimmt immer mehr

Blaine Graboyes kennt sich gut mit Glücksspiel aus, denn seine Firma entwickelt Arcade-Spiele für Kasinos. Er meint, dass Videospielhersteller dieselben Taktiken anwenden wie die Glücksspielindustrie. "Die Gaming-Industrie muss verstehen, welche menschlichen Verhaltensmuster sie da ansprechen", sagte Graboyes gegenüber Motherboard. "Die Lootboxen ähneln dem Prinzip eines Glücksspielautomaten – dem effektivsten und ausgeklügeltsten Produkt im ganzen Kasino."

Ein Screenshot von Idolm@ster | Mit freundlicher Genehmigung von Bandai Namco

Die Glücksspielindustrie setzt sich gezwungenermaßen damit auseinander, dass ihr Produkt süchtig machen kann. In Deutschland gibt es beispielsweise durch den Glücksspielstaatsvertrag klare Regeln, in welchem Rahmen Glücksspiel im Fernsehen und Internet beworben werden darf – dabei stehen Suchtprävention und Jugendschutz im Vordergrund.

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Die Videospielindustrie hingegen vermeidet es bisher, glücksspielartige Elemente in Videospielen klar zu benennen oder zu regulieren. Das Entertainment Software Rating Board, das in Nordamerika Altersempfehlungen für Computerspiele ausspricht, weigerte sich, Lootboxen als Glücksspiel anzuerkennen. Auch in Deutschland sieht es im Moment ähnlich aus. Lootboxen fielen nicht unter den Glücksspielstaatsvertrag, so die USK im Oktober in einer Pressemitteilung. Trotzdem erkennt die USK, die in Deutschland für die Prüfung von Computerspielen zuständig ist, die Lootboxen in derselben Mitteilung als problematisch an.

Auch wenn die Videospielindustrie sich bisher gegen diese Einsicht sträubt, ist es kaum von der Hand zu weisen, dass Lootboxen dieselben Charakteristika wie Spielautomaten aufweisen. Das bestätigen auch unsere Gespräche mit Glücksspielexperten. Mehr noch: Es spricht viel dafür, dass Videospiele diese Mechanismen bewusst einsetzen. Schließlich stellen Spielestudios extra Soziologen ein, die bei der Entwicklung von Lootboxen helfen. Sie sorgen dafür, dass ihr Design und die Musik im Hintergrund sie so verführerisch wie möglich machen. Keith Whyte verglich einen seltenen Gegenstand, den man durch eine Lootbox erhält, mit einem Lottogewinn: "Es ist die gleiche Aufregung, die man beim Gewinnen verspürt." Politiker aus verschiedenen Ländern verlangen bereits, Lootboxen genauer unter die Lupe zu nehmen und gegebenenfalls als Glücksspiel einzuordnen und zu regulieren.

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Ebenfalls auf Motherboard: Wenn Gamer zu Versuchskaninchen werden


Die Spieleindustrie muss Verantwortung übernehmen

Welch ernste Konsequenzen Lootboxen und andere Mikrotransaktionen haben können, wird in den Geschichten deutlich, die Gamer uns erzählt haben: Menschen, die mit Lootboxen und Skin-Gambling Schuldenberge angehäuft haben. Jugendliche, die ihr gesamtes Geld für Lootboxen ausgeben. Wir haben sogar mit einem 16-Jährigen gesprochen, der im Alter von 11 Jahren die Kreditkarte seiner Mutter nutzte, um ohne ihr Wissen mehrere hundert Euro für App-Käufe zu verwenden.

Auch wenn es essentiell ist, dass die Videospielindustrie Verantwortung übernimmt, kann auch die Gaming-Community ihren Teil tun, um Betroffenen zu helfen. Cam Adair, der die Selbsthilfegruppe Game Quitters leitet, erzählte uns, dass viele Leute sich scheuen, Hilfe zu suchen, weil sie sich schämen und die Spielsucht mit einem Stigmata belegt sei.

Wir alle wollen Spiele, die Spaß machen – und wenn man am Ende eines frustrierenden Tages ein neues, heißes Outfit für den Lieblingscharakter aus einer Lootbox zieht, kann das zweifelsohne die Stimmung aufbessern. Doch leider gibt es Games, die die Schwachstellen in unserer Psychologie ausnutzen – und es ist wichtig, dass wir uns dessen bewusst sind.

Die BZgA bietet eine kostenlose und anonyme telefonische Beratung zum Thema Glücksspielsucht. Auch der Fachverband Glücksspielsucht e.V. bietet auf seinen Seiten weiterführende Informationen und eine Übersicht über Beratungsstellen und Selbsthilfegruppen in deiner Nähe.