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Neue Studie: Große deutsche Medien an Verbreitung von Falschmeldungen beteiligt

Zum ersten Mal haben Forscher untersucht, wie sich Fake News und ihre Richtigstellungen in Deutschland verbreiten. Die größten Fake-Influencer sind Rechtspopulisten und Rechtsextreme. Aber auch Journalisten sind Teil des Problems.
Erika Steinbach verbreitete zehn der zehn untersuchten Falschmeldungen. Hier zum Volksfest in Schorndorf | Screenshot: Motherboard | Twitter

Ein Mob von 1000 Jugendlichen, darunter vor allem Migranten, randaliert auf einem Volksfest im baden-württembergischen Schorndorf, heißt es in verschiedenen Medien im Sommer 2017. Die Nachricht beruht auf einer Meldung der Deutschen Presse-Agentur dpa. Und die ist schon bei ihrer Veröffentlichung falsch: Die Polizei Aalen hatte zuvor eine missverständliche Pressemitteilung verschickt, die einen Zusammenhang zwischen der Ansammlung von etwa 1000 Jugendlichen, viele von ihnen mit Migrationshintergrund, und mehreren Straftaten im Umfeld der "Schorndorfer Woche" nahelegten. Die Causa Schorndorf ist eine von zehn Falschmeldungen, die die Stiftung Neue Verantwortung in ihrer neuen Studie "Fakten statt Fakes" hinsichtlich ihrer Verbreitung in sozialen Medien näher unter die Lupe genommen hat.

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Die dpa-Meldung wird von regionalen und überregionalen Medien, darunter den Stuttgarter Nachrichten, der Welt und dem SWR, aufgegriffen und zum Teil zugespitzt. Die AfD verbreitet die Meldung auf Facebook und erfindet eine "islamische Grapschparty" dazu. Und das rechte Blog anonymous-news.ru verbreitete die Meldung ebenfalls unter Bezugnahme auf die sexuellen Übergriffe in der Kölner Silvesternacht 2015.

Richtig ist: Die Ansammlung hat es gegeben. Unter den Jugendlichen waren auch etwa 100, die für Ärger sorgten und zum Teil mit Flaschen warfen. Andere Straftaten wurden in Bezug auf die Gruppe allerdings nicht gemeldet. In Schorndorf gab es während des Festes tatsächlich sexuelle Übergriffe. Sie standen allerdings nicht in Zusammenhang mit der Gruppe Jugendlicher.

Das Verhältnis von Poor Journalism, Fake News und Widerlegung im Fall Schorndorf | Bild: Stiftung Neue Verantwortung

Die dpa korrigierte ihre Meldung spät: Erst drei Tage nach Veröffentlichung der ursprünglichen Meldung ergänzte die Nachrichtenagentur den Artikel um einen Hinweis und entschuldigte sich. Die falsche Meldung hatte in der Zwischenzeit schon mehr als 127.000 Interaktionen in sozialen Medien erzeugt, die Widerlegungen nur etwa 95.000. Die AfD und anonymous-news.ru korrigieren die falschen Angaben nie.

Etablierte Medien sind an der Verbreitung von Falschmeldungen beteiligt

Ziel der Studie war es, die Verbreiter von Falschmeldungen und die Relevanz der dazugehörigen Widerlegungen in sozialen Medien, zu untersuchen. Die Falschmeldung aus Schorndorf zeigt exemplarisch: Etablierte Medien haben oft Anteil an der Verbreitung von Falschmeldungen. Häufig liegt das an journalistischen Fehlern, die später korrigiert werden. In der Studie werden diese Fälle als "Poor Journalism", also unsauberer Journalismus, eingeordnet. Die Studie zählt weitere Fälle auf, in denen Medien Meldungen verbreiten, die so einseitig zugespitzt wurden, dass sie mit der Wahrheit kaum noch etwas zu tun haben. Ein Beispiel: Eine Meldung der Bild-Zeitung, wonach 59 Prozent der Asylsuchenden in Deutschland keinen Schulabschluss hätten. Doch die Meldung beruht auf einer falschen Darstellung einer Erhebung zu Geflüchteten, die auf Jobsuche waren.

Besonders oft tauchen Bild und Welt als Verbreiter von falschen Informationen auf, in zwei von zehn Fällen war außerdem die dpa beteiligt. Außerdem läge die Ursache häufig an unprofessioneller Öffentlichkeitsarbeit, etwa der Polizei oder staatlicher Stellen.

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Rechtspopulisten bestimmen das Bild, Erika Steinbach als Fake-News-Influencerin

Bei sieben der zehn untersuchten Fälle war die AfD, allen voran der EU-Abgeordnete Jörg Meuthen, an der Verbreitung der Falschmeldungen in sozialen Medien beteiligt. Auch Erika Steinbach fiel laut Studie auffällig oft als Verbreiterin von Falschmeldungen auf: Sie teilte alle untersuchten Falschmeldungen. In allen zehn untersuchten Fallbeispielen seien Rechtspopulisten als Verbreiter aufgefallen. "In Deutschland ist das Bild von Rechtspopulisten bestimmt", sagt Projektleiter Alexander Sängerlaub im Interview mit Motherboard. Allerdings seien Falschmeldungen nur ein Teil der Kommunikationsstrategie von Rechtspopulisten. Im Wahlkampf hätten Rechtspopulisten dafür gesorgt, dass ihre Themenfelder in den Vordergrund rückten.

Zu den am häufigsten aufgegriffenen Themenfeldern gehören laut der Studie die innere Sicherheit und Asyl beziehungsweise Asylsuchende selbst. In acht von zehn Fällen spielen Geflüchtete eine Rolle. Hinweise auf russische Einflussnahme habe es hingegen kaum gegeben, ebenso wie aus linkspopulistischen Kreisen. In zwei Fällen waren andere Parteien an der Verbreitung von Falschmeldungen beteiligt: Einmal die CDU, einmal die CSU.

Unter den genannten Fake-Verbreitern findet sich auch die deutschsprachige Website des Gatestone Institute. Der rechte Thinktank hatte verbreitet, dass Geflüchteten in Deutschland der Führerschein bezahlt würde. Vorsitzender des Gatestone Institute ist Trumps neuer Sicherheitsberater John Bolton.

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Fact-Checking funktioniert nur in Ausnahmefällen

In neun der untersuchten Fälle erzeugten die Debunkings, also die Widerlegungen, nicht annähernd so viele Interaktionen von Nutzern wie die Falschmeldungen. Nur in einem Fall ist es anders: Im August 2017 verbreitet sich die Meldung, der nordrhein-westfälische Innenminister Herbert Reul habe angewiesen, Straftaten von Geflüchteten nicht zu verfolgen. Die Quelle soll ein Dokument sein, das ein vermeintlicher Kölner Polizist hochlädt. Obwohl das Dokument wegen vieler Fehler nicht den Anschein eines offiziellen Papiers aus einem Ministerium erweckt, verbreitet Erika Steinbach die Meldung über ihren Twitter-Account.

Am Tag des Auftauchens dieser Falschmeldung fragen diverse Twitter-Nutzer beim Innenministerium nach dem Wahrheitsgehalt und erhalten zügig Antwort, dass es sich bei dem Schreiben um eine "dreiste Fälschung" handelt. Dass dieses Debunking insgesamt etwa 6000 Nutzerinteraktionen erzielte, die Falschmeldung aber nur rund 1800, führen die Forscher auf die schnelle Reaktion des Innenministeriums zurück. Insgesamt wurden in diesem Fall, Fake und Debunkings zusammen gerechnet, 8000 Interaktionen gemessen. Ein niedriger Wert im Vergleich zu den anderen Meldungen, in denen die Falschmeldungen jeweils mindestens 20.000, in Fall Schorndorf sogar mehrere hunderttausend Interaktionen erreichten. Die Studie markiert die erste ausführliche Untersuchung der Wirksamkeit von Debunkings in Deutschland überhaupt.

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Das Verhältnis von Poor Journalism, Fake News und Widerlegung, hier im Fall der vermeintlichen, internen Anweisung des Innenministeriums NRW| Bild: Stiftung Neue Verantwortung

Die Forscher schlussfolgern, emotionale, sensationelle Falschmeldungen würden sich schlicht schneller verbreiten, als nüchterne, sachliche Widerlegungen. Auch der Zeitfaktor spiele eine Rolle. Das Debunking erfolge in der Regel erst einen bis drei Tage später. Das deckt sich auch mit den Erkenntnissen von Facebook, dass die Kennzeichnung von Falschmeldungen durch Fact-Checking-Partner durchschnittlich nach drei Tagen erfolgt. Debunkings würden demnach eher selten diejenigen erreichen, die ursprünglich auf die Falschmeldungen auf Facebook oder, durchschnittlich weniger stark, Twitter reagierten.

Was gegen Fake News hilft

Die Lösung gegen Desinformation in sozialen Medien scheint demnach noch nicht gefunden zu sein. Die Forscher kommen letztlich zur Einschätzung, dass heutzutage nicht nur Journalisten, sondern alle Bürger über journalistische Kompetenzen verfügen sollten, um Fakten einzuordnen und Quellen hinsichtlich ihrer Glaubwürdigkeit einordnen zu können.

"Das Fact-Checking muss zukünftig versuchen, mehr in die Echokammern in den sozialen Netzwerken vorzudringen, in denen Falschinformationen munter geteilt und verbreitet werden", sagt Sängerlaub im Gespräch mit Motherboard. "Auch wenn sich vielleicht nur ein Bruchteil der Nutzer von Fakten beeindrucken lässt, ist es die Mühe wert." Die gesamte Studie gibt es hier zu lesen.

Update, 28.03.18, 14:38 Uhr: Wir haben den Screenshot eines Artikels über Schorndorf entfernt, weil er nicht passend im Text kontextualisiert wurde.

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