Der Autor, der über eine Essstörung schreibt, trägt eine Bomberjacke und sitzt auf einer Treppe
Foto: Yasmin Nickel
Menschen

Wie die Krisen unserer Zeit meine Essstörung verschlimmern

Und wie ich gelernt habe, besser damit umzugehen.

Das Popcorn würde süßer schmecken, würde ich damit nicht meine Gefühle betäuben. Ich stehe in meiner Küche und lese über den Krieg in der Ukraine. Es ist zwei Wochen nach Kriegsausbruch. Mit jeder Zeile greife ich tiefer in die Tüte mit den zuckrigen Maiswolken, die so schön zwischen meinen Zähnen kleben. Mit jeder Zeile ein weiterer kleiner Zuckerkick, mit jeder Zeile ein bisschen mehr Angst, die ich unterdrücke.

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Zwei Jahre zuvor. Es ist kurz vor Mitternacht. Ich stehe in der Kassenschlange meines Supermarktes und klammere mich an etliche Packungen Kekse, Eis und Gummibärchen. Sie sind meine Rettungsanker im März 2020, als die Coronapandemie und ihre Lockdowns Einzug halten. Ich wohne allein, bin Single, arbeite von zu Hause als Freelancer. Ich verbringe wochenlang nur Zeit mit mir selbst. Am Abend esse ich, um meine Angst vor dem Virus und dem Alleinsein nicht zu spüren.


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Die Krisen unserer Zeit erschüttern meine Essstörung. Die Coronapandemie, die Klimakrise, der Krieg in der Ukraine – der Schmerz der Welt wird zu meinem Schmerz. All das halte ich schlecht aus. Ich esse abends oft so viel, dass ich morgens müde und ausgelaugt bin. Ich esse aus Angst. Ich esse aus Einsamkeit. Ich esse aus Wut und ich esse aus Trauer. Ich esse meine Gefühle. Ich bin ein Binge-Eater.

Laut Zahlen der DAK wurden mit Pandemiebeginn 2020 wesentlich mehr Mädchen und Jungen im Vergleich zum Vorjahr wegen Essstörungen behandelt: 60 Prozent mehr wegen Übergewicht, 35 Prozent mehr wegen starkem Untergewicht und zehn Prozent mehr mit Bulimie. Untersucht wurden die Krankenhausdaten von 800.000 Kindern und Jugendlichen im Alter bis zu 17 Jahren. Ich war früher einer dieser Teenager.

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Ich war etwa fünf oder sechs Jahre alt, als ich anfing meine Gefühle mit dem Essen zu unterdrücken, kurz nach der Trennung meiner Eltern. Wenn ich nachmittags stundenlang allein war, sollte ich eigentlich meine Hausaufgaben machen, stattdessen stopfte ich mir Eis, Schokolade und Cola rein.

In der Grundschule wurde ich wegen meines Gewichts gemobbt. Sie nannten mich Fetti, Fettsack und Fettklopps. Ich lernte damals: Wer dünn ist, ist gut. Wer dick ist, ist minderwertig – wer heute auf Instagram scrollt, sieht ähnliche Glaubenssätze unserer Gesellschaft. Im Sommer traute ich mich nicht ins Freibad, weil ich meinen Körper nicht zeigen wollte. Selbst wenn ich bei Freunden im Gartenpool planschte, hatte ich immer ein T-Shirt an. Ich schämte mich für mich selbst. "Sagt dir deine Mama nicht manchmal, dass du zu dick bist?", fragte mich die Mutter meines besten Freundes einmal. Erinnerungen wie diese sind tief in mein Gedächtnis eingebrannt und bestimmen bis heute mein Selbstbild.  

Die drei häufigsten und bekanntesten Essstörungen sind laut der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung die Magersucht, die Bulimie und das Binge-Eating. Von 1.000 Mädchen und Frauen erkranken 28 im Laufe ihres Lebens durchschnittlich an einer Binge-Eating-Störung, 19 an Bulimie und 14 an Magersucht. Jungen und Männer sind seltener betroffen. Von 1.000 Personen erkranken durchschnittlich etwa zehn an einer Binge-Eating-Störung, sechs an Bulimie und zwei an Magersucht. Mischformen, die man nicht exakt einer dieser Kategorien zuschreiben kann, sind genauso häufig. Ich habe eine Mischform.

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Mit etwa 15 Jahren wollte ich nicht mehr der dicke Teenager sein. Ich wollte dazugehören. Also fing ich an Sport zu treiben und hörte auf zu essen. Mir graute es vor jedem Bissen, jeder unnötigen Kalorie. Denn wer dünn war, der war liebenswert – das war meine Quintessenz aus all den Mobbing-Jahren.

Mein Gewicht sank, meine Beliebtheit stieg. Ich wurde zu Partys eingeladen und hatte immer mehr das Gefühl, dazuzugehören. Als ich nach den Sommerferien, in denen ich jeden Tag exzessiv Sport getrieben hatte, zurück in die Schule kam, bekam ich so viele Komplimente, dass ich überwältigt war. Der Preis dafür war ein Selbsthass, der mich dazu brachte jeden Tag meinen Körper zu kritisieren, jede Kalorie in ein Notizbuch zu schreiben und mich, selbst wenn ich erschöpft war, mit Kaffee hoch zu pushen. Mit 22 ging ich zum Modeln ins Ausland. Ich trieb jeden Tag zwei bis drei Stunden Sport und aß fast gar nichts. 

Stattdessen hatte ich immer wieder Binges, bei denen ich Unmengen Zucker in mich stopfte oder ein ganzes Glas Erdnussbutter auf einmal löffelte. Ich behielt den Zucker und das Fett in mir, so wie all die Gefühle, die sich über die Jahre angestaut hatten: Das ewige Gefühl nicht dazuzugehören, nicht geliebt zu werden und mich wahnsinnig anstrengen zu müssen, um akzeptiert zu werden.

Der Autor mit 14 und mit 19

Mit 14 war der Autor übergewichtig und fühlte sich als Außenseiter (l.), mit 19 lebte er in Berlin und versuchte den dicken Teenager loszuwerden | Fotos bereitgestellt vom Autor

Es hätte in dieser Phase gut sein können, dass ich mich an einem Ort wie der Schön Klinik Roseneck in Bayern wiederfinde. Dort behandelt Ulrich Voderholzer, Chefarzt für Psychosomatik und Psychotherapie, Menschen mit Essstörungen. Auch er beobachtet die Auswirkungen der Krisen unserer Zeit auf Essstörungen. "Die Pandemie, und vor allem die damit verbundenen Lockdowns, haben bei zahlreichen Menschen eine Essstörung mit verursacht, oder eine bestehende Essstörung verschlimmert", sagt er. Gründe dafür seien der Verlust von sozialen Kontakten, von Aktivitäten und Tagesstruktur. Bei jungen Menschen komme hinzu, dass viele die Zeit nutzten, um das eigene Essverhalten und das Körpergewicht vermeintlich zu optimieren – indem sie gesünder essen, kochen und Sport treiben.

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Es gebe viele Ursache für Essstörungen, sagt Voderholzer: Probleme im Umgang mit Gefühlen, Traumata, Veranlagung und Vorbilder in der Familie. "Menschen mit Essstörungen wissen häufig nicht, wie sie mit ihren Gefühlen umgehen sollen und entdecken im Fasten, in Essanfällen oder Erbrechen eine Möglichkeit, Gefühle zu unterdrücken." 

Mit dem zu viel oder zu wenig Essen lassen sich demnach unerwünschte Gefühle abwehren. Wer sich zum Beispiel einsam oder minderwertig fühle, oder unter belastenden Erlebnissen leide, könne sich durch einen Essanfall mit nachfolgendem Erbrechen kurzzeitig von den unangenehmen Gefühlen befreien und ablenken. In einer Therapie müsse der Umgang mit den eigenen Gefühle wieder gelernt werden.

Der Umgang mit dem Essen heute

Männer in Speedos mit Sixpacks steigen aus dem Wasser und schauen selbstsicher durch die Schwimmhalle. Ich sitze auf einer Bank am Beckenrand und bedecke meinen Bauch mit einem Handtuch. Ich bin keine 16 mehr, ich bin 28 Jahre alt. Ich bin ein schlanker, sportlicher, großer Mann, aber ich fühle mich wie das dicke Kind von damals. Die fünf Kilo mehr, die ich in den letzten zwei Jahren seit Pandemiebeginn zugenommen habe, sieht man kaum. Aber ich fühle sie. Es dauert zwei Anläufe bis ich ins Wasser gehen kann und ein paar Bahnen schwimme. Einmal verstecke ich mich in einer Umkleide und weine. Das andere Mal vergrabe ich mich in den Armen meine Freundes. Ich schwanke zwischen Trotz und Trauer. Und das ist OK, solange ich nach jeder Heulattacke wieder rausgehe und meinem inneren Kritiker sage, dass er sich ficken kann. Ich höre nicht mehr auf ihn. Ich bin mutig.

"So streng wie ich mit mir selber bin, so streng bin ich selten mit anderen. Was ich an mir nicht mag, finde ich an anderen Männern schön."

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Wenn ich heute in den Spiegel schaue, sehe ich noch häufig den dicken Teenager von damals. Mein Bauch scheint mir zu weich, die Hüften zu rund, meine Brust nicht aufgepumpt genug. Ich erwische mich dabei, wie ich mir selbst sage, dass ich zu dick sei und einen Sportkurs buche, plane, tagelang nur noch Salat zu essen. Ich vergleiche meinen Körper immer und immer wieder mit denen anderer. So streng wie ich mit mir selber bin, so streng bin ich selten mit anderen. Was ich an mir nicht mag, finde ich an anderen Männern schön.

Stolz bin ich an den Tagen, an denen ich dem Teenager von damals zuwinken und sagen kann, dass er gut ist wie er ist. Tage, an denen ich ins Schwimmbad oder an den See gehe, mein T-Shirt ausziehe und mich und meinen Körper einfach sein lasse. Wer unter einer körperdysmorphen Störung leidet, sieht seinen Körper nicht so, wie er tatsächlich ist. Deswegen bin ich erst einmal dankbar für meine Gesundheit, dass ich fit und objektiv betrachtet schlank bin. Irgendwann komme ich hoffentlich dahin, ein gesundes Selbstwertgefühl zu haben und meinen Körper so zu lieben, wie er ist – die ersten Schritte dahin gehe ich bereits.

Seit letztem Jahr versuche ich meine Gewohnheiten mit dem Essen zu ändern. Ich plane feste Zeiten zu denen ich esse, aufstehe und schlafe, treibe regelmäßig aber nicht zu viel Sport. Ich spreche über meine Gefühle, gehe weiter zur Therapie, schreibe Tagebuch, meditiere, versuche zu reflektieren, wieso ich was wann essen möchte. Ich suche nach Männern, die einen ähnlichen Körper haben wie ich, statt mir unendlich viele Sixpacks auf Instagram anzuschauen. All das hilft. Und all das vergesse ich manchmal ganz schnell, wenn es mir scheiße geht. Auch das ist OK. Mit jeder weiteren Krise lerne ich, dass Krisen vorübergehen. Mit dem Essen ist es nicht wie mit einer Alkoholsucht – man kann nicht einfach aufhören. Stattdessen begleiten mein Körper und das Essen mich jeden Tag.

Meine Therapeutin hat mir den Tipp gegeben mich nackt vor den Spiegel zu stellen und mir meinen Körper genau anzusehen. Ich soll nicht werten. Ich soll feststellen: Da ist es rund, da ist es weich, da ist das Gewebe straff. Vielleicht schaffe ich es sogar zu sagen, dass ich meine Augen mag, meine Wangenknochen, meine langen Beine. Und wenn alle Stricke reißen und ich mich einen Tag lang selbst hasse, dann soll ich mir vor Augen führen, dass es immer Menschen geben wird, die mich attraktiv finden – ganz egal wie viele Kekspackungen sich gerade in Fettgewebe an meinem Bauch umwandeln.

Der Name des Autors ist ein Pseudonym

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