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Mit 35 Cent pro EU-Bürger könnten wir eine funktionierende Seenotrettung crowdfunden

Wir finanzieren doch sonst auch jeden Scheiß.
Friedhof der Flüchtlingsboote in Lampedusa. Bild: imago/Independent Photo Agency​

​In diesen Minuten ist ein Boot mit 300 Flüchtlingen im Mittelmeer in Seenot geraten, nachdem schon in der vergangenen Woche fast 1000 Menschen dort ertrunken sind—weil sich Europa ein lächerlich billiges Seenotrettungsprogramm nicht leisten will.

Europas Politiker nehmen damit billigend in Kauf, dass Menschen vor ihren Küsten sterben, um andere vom Aufbruch abzuhalten. Die Toten halten sie für politisch verträglicher, als sich den Flüchtlingen anzunehmen und sich die Mühe zu machen, ihnen hierzulande Perspektiven aufzuzeigen (Arbeit, Studium, Aufenthaltsgenehmigungen). „Es ist eine Schande", sagt der Papst und hat damit unbestritten Recht.

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Wie kann die EU, die mit einem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde, so eine humanitäre Katastrophe vor der eigenen Tür zulassen? Mit dieser Gleichgültigkeit vor dem Überleben anderer sind wir nicht allein; auch Australiens Einwanderungspolitik gegenüber Flüchtlingen zeichnet sich durch eine ähnlich unfassbare Grausamkeit aus. Eigentlich fehlt in Europa nur noch ein eiskaltes Abschreckungsvideo wie das aus der PR-Abteilung der dortigen Abbott-Regierung, aber selbst für diese logische Konsequenz ist die EU zu feige:

Im Oktober 2014 stellte Italien (sowieso schon das einzige Land, das es überhaupt geschafft hat, die eigene Marine zu einer Rettungsaktion zu mobilisieren) die Operation Mare Nostrum zur Seenotrettung ein, durch die 140 000 Menschenleben gerettet wurde. Ersetzt wurde die Mission durch die Operation Triton der Grenzschutzagentur FRONTEX.

FRONTEX arbeitet mit Europol zusammen, und ihr erklärtes Ziel ist die Kriminalitätsbekämpfung und die Verhinderung illegaler Einwanderung. Die Schiffe der Triton-Operation kreuzen in einem viel engeren Radius vor den europäischen Küsten und haben nicht den Auftrag, nach in Seenot geratenen Booten zu suchen. Triton operiert nur mit einem Drittel des Budgets von Mare Nostrum und soll hauptsächlich dafür sorgen, dass Europas Grenzen abgeriegelt bleiben—geschützt vor denjenigen, die bei uns Schutz suchen.

Wie wäre es, wenn wir unser Geld kollektiv in eine Sache investieren, die das Massensterben an unseren Außengrenzen eindämmen könnte?

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Doch die Flüchtlinge sind keine Wirtschaftsflüchtlinge, sondern verlassen ihre Heimat, weil ihr Leben bedroht ist. Es ist moralisch verwerflich, wenn wir uns einerseits als Retter der Freiheit, des Friedens und der Demokratie aufspielen und uns andererseits in unserem Wohlstand abschotten und Menschen, die in Gefahr sind, vor unserer Haustüre verrecken lassen. Es scheint schon in Vergessenheit geraten zu sein, dass nach dem Zweiten Weltkrieg Millionen Menschen innerhalb Europas auf der Flucht waren.

Mare Nostrum wurde aber nur eingestellt, weil die EU sich nicht stärker an den Kosten beteiligen wollte. Tolle Arbeit würde Italien leisten, wurde immer wieder von allen Seiten versichert, aber mehr als ein Zehntel finanzielle Unterstützung bei der Arbeit wollte die EU dann auch nicht übernehmen.

Bild: imago

Matteo Renzo sagte zu den Bootsflüchtlingen mal: „Wir dürfen nicht zulassen, dass das Mittelmeer zu einem Friedhof wird. Die EU darf nicht einfach wegschauen." Nun, das tut sie aber. Und bei weit über 4000 Opfern im vergangenen Jahr ist das Mittelmeer schon längt zu einem Massengrab geworden. Denn den Menschen, für die die sehr reale Möglichkeit, im Meer zu ertrinken die bevorzugte Option vor der Gefahr ist, ziemlich sicher im Krieg getötet zu werden, helfen noch so gutgemeinte Petitionen und das Phrasendreschen auf Soli-Veranstaltungen nicht so viel, wie wir letztlich glauben mögen.

Lauter sind die Stimmen derjenigen, die schon heute auf ihrem Privileg bestehen: Innenminister De Maizière will den Schwerpunkt auf Rückführung statt Seenotrettung setzen und lehnte eine Neuauflage des Rettungprogramms erstmal kategorisch ab. Und der Frontex-Chef Gil Arias-Fernandet hat zum Ende der Seenotrettung erklärt, dass kriminelle Schlepperbanden das Programm Mare Nostrum ausgenutzt hätten.

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Das sind kalt berechnete, betriebswirtschaftliche Pseudoargumente, die die Feigheit derer kaschieren sollen, die sich auf den Flüchtlingsstrom einstellen müssten. Während selbst Jordanien zwei Millionen Flüchtlinge aufnimmt, kann sich Europa nicht auf Dauer einmauern. Die einzige Alternative zu der Fortsetzung der beendeten italienischen Mission Mare Nostrum wäre der Aufbau einer zivilen europäischen Seenotrettung.

Wir können nicht mehr darauf warten, dass die Politik endlich auf die vielen Toten reagiert, während Steinmeier bei Gipfeln „eine Stabilisierung der Lage in Libyen" fordert. (Die fordere ich nämlich auch, aber es passiert irgendwie nichts.) Wir, die wir das Glück haben, in einer friedlichen, wohlhabenden Welt zu leben, sind selbst menschlich genug, um zu wissen, wie die Flüchtlinge auf ihrer Odyssee leiden. Und für jeden, der das nicht versteht oder gern vergessen würde, gibt es fast täglich Bildbeweise in Fersehnachrichten aus der Mittelmeerregion.

Wir finanzieren per Crowdfunding jeden Scheiß—je absurder, desto größer die Erfolgsaussichten: Kartoffelsalat, bescheuerte Actionfilme mit David Hasselhoff, Fairtrade-Kondome, nachträgliche  ​Tantiemen für die Schöpfer des Amen Break. Wie wäre es, wenn wir unser Geld kollektiv in eine Sache investieren, die das Massensterben an unseren Außengrenzen eindämmen könnte?

Mit 35 Cent pro EU-Bürger könnte das Rettungsprogramm Mare Nostrum weitergeführt werden.

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Es wäre nur konsequent, die Seenotrettung per Crowdfunding zumindest vorzufinanzieren. Das Programm kostet lächerlich wenig: Im Monat schlägt die Seenotrettung (wenn wir von einer Operation ausgehen, die im Umfang Mare Nostrum entspricht) mit ungefähr 9,3 Millionen Euro zu Buche, dazu kommen noch einmal Extrakosten für Personal und Hubschrauber, die über den Mare Nostrum-Einsatz herausgehen würden. Diese müssten sich alle beteiligten Länder teilen. Gehen wir von ungefähr ​15 Millionen Euro im Monat aus, müssten 180 Millionen Euro pro Jahr zur Verfügung gestellt werden. Geteilt durch 507 Millionen EU-Bürger wären die Betriebskosten mit 35 Cent im Jahr pro Kopf gedeckt.

Mal zum Vergleich: Eine Crowdfunding-Kampagne für ein Kartenspiel mit explodierenden Kätzchen brachte 8,7 Millionen Euro ein, die Finanzierungsaktion für eine Kühlbox mit Lautsprechern unfassbare 13,2 Millionen Euro, und zur Finanzierung des Videospiels Star Citizen ging die Kampagne mit über 73 Millionen Euro als höchste je crowdgefundete Summe in die kurze, bewegte Geschichte der kofinanzierten Konsumgüter ein.

Wenn also sogar das zynischste, ökonomischste Argument für die Fortsetzung der Seenotrettung spricht, gibt es wirklich keinen einzigen Grund, warum Flüchtlinge noch immer ertrinken müssen.

Harald Höppner hat mit seiner Organisation Sea Watch bereits vorgemacht, wie die Umsetzung einer DIY-Initiative geht: Mit seinem 100 Jahre alten, umgebauten Fischkutter und einer kleinen Crew schippert er vom Harburger Binnenhafen ins Mittelmeer, um Flüchtlinge  ​selbst zu retten. Gemeinsam mit Ärzten und anderen Mittelständlern will er zwischen Malta und Libyen Ersthillfe für Flüchtlingsboote leisten und gleichzeitig Nachrichten von See an die Behörden an Land weiterleiten. Für den Schiffsdiesel und Schwimmwesten sucht Sea Watch momentan nach Spendern.

Pragmatischer geht es kaum. Und privater auch nicht, denn Heppner ist beileibe kein wettergegerbter Experte, sondern einfach ein unbeirrter, engagierter Typ aus Brandenburg mit etwas mehr Menschlichkeit im Ärmel als unsere Innenpolitiker aufbringen können, die nur von abstrakten Problemen sprechen statt sich vorzustellen, was es heißt, seine Heimat zu verlieren.