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Deshalb sind die Landesverrat-Ermittlungen gegen Netzpolitik.org eine Frechheit

Eigentlich müsste der Generalbundesanwalt gegen die NSA und den BND wegen flächendeckender, anlassloser Überwachung ermitteln. Netzpolitik.org macht nur ihren Job.
Markus Beckedahl, der Gründer von netzpolitik.org. Bild: imago

Über 50 Jahre nach der Spiegel-Affäre ermittelt die Bundesanwaltschaft wieder gegen Journalisten wegen des Vorwurfs des Landesverrats—ausgerechnet gegen Redakteure von Netzpolitik.org. Die Anzeige, über die die Beschuldigten am Dienstag informiert wurden, richtet sich gegen die beiden Blogbetreiber Markus Beckedahl und Andre Meister sowie gegen ihre unbekannten Quellen.

Konkret geht es um zwei Artikel, in denen Netzpolitik-Mitarbeiter Andre Meister den Aufbau einer neuen Einheit des Verfassungsschutzes zur Internetüberwachung dokumentierte. Im Zuge dessen hatte die Netzpolitik-Redaktion in einem Artikel auch auszugsweise Originaldokumente des Verfassungsschutzes veröffentlicht. Darin befinden sich zum Beispiel Budgetpläne der neuen Abteilung. Hier kann der Artikel nachgelesen werden.

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Besonders ironisch daran ist, das netzpolitik.org fast zeitgleich mit der Anklage eine besondere Auszeichnung von der staatlichen Initiative Land der Ideen als Blog für digitale Bürgerrechte erhielt. Nun soll zunächst ein Gutachter prüfen, ob sich in den Dokumenten tatsächlich Staatsgeheimnisse befinden, die durch die Veröffentlichung und Berichterstattung von Netzpolitik.org verraten wurden. Wie die FAZ berichtet, hat Generalbundesanwalt Range inzwischen erklärt, dass die Ermittlungen bis zum Eingang dieses Gutachtens ruhen sollen.

Sollte der Gutachter dennoch zum Schluss des Geheimnisverrats kommen, steht den Blogbetreibern theoretisch eine Klage und möglicherweise eine Gefängnisstrafe ins Haus—auch wenn dies nach einer deutschlandweiten Solidarisierungswelle momentan kaum denkbar scheint.

#Landesverrat schön gerahmt neben Grimme Online Award und "Journalist des Jahres 2014" pic.twitter.com/AIRxmLWGD9
— Linuzifer (@Linuzifer) July 30, 2015

Der Netzpolitik-Bericht zeigt dabei unter anderem mit Budgetübersichten und (namenlosen) Personalplänen aus den geleakten Dokumenten, wie der Verfassungschutz die neue Abteilung aufbaut—und was seine wenig überraschenden Ziele sind: Die „Referatsgruppe Erweiterte Fachunterstützung Internet" (EFI) soll beispielsweise Facebook-Chats von Verdächtigen überwachen und auch Metadaten sammeln. Außerdem soll die Abteilung Bewegungsprofile und Beziehungsnetzwerke erstellen—dabei lassen die Dokumente offen, über wie viele Beziehungsebenen eines Verdächtigen diese Netzwerke erstellt werden. Technisch sensibles Detailwissen wie die Machart der Überwachungswerkzeuge, Passwörter oder Agentennamen kommen in dem Bericht nicht vor.

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Kurzum: Der Report von Netzpolitik macht Informationen öffentlich, die einen wichtigen öffentlichen Diskurs über den unbekümmerten Ausbau der Überwachung fördern und liest sich durchaus nach klassischer Journalistenarbeit. Diese Anklage ist somit als Angriff auf die Pressefreiheit zu werten.

Ist es nicht viel eher Landesverrat, wenn eine Regierung und deren Geheimdienste die massenhafte, flächendeckende Spionage von privaten und Wirtschaftsdaten durch ausländische Geheimdienste zulässt? Ist es nicht eher Landesverrat, wenn der oberste Ermittler Deutschlands einer Überwachung zusieht, die sich ungestraft bis hin zum Handy der Kanzlerin und über unsere gesamte digitale Kommunikation erstreckt? Oder wenn unser Geheimdienst mit der NSA bei der Überwachung jedes einzelnen von uns auch noch kooperiert und hilft, unsere Grundrechte zu brechen? Wenn der Verfassungsschutz (unter anderem) bei der Abwehr dieser Spionage komplett versagt? Genau deshalb sollte—müsste—der Generalbundesanwalt ermitteln.

#Landesverrat. German (and American) for transparency.
— Nein. (@NeinQuarterly) July 30, 2015

Leider hat die Bundesregierung nicht die Eier, um gegen die NSA zu ermitteln. Heiko Maas hat als Justizminister und Chef des Generalbundesanwalts nie auf den Anfangsverdacht des Rechtsbruchs durch NSA und BND reagiert—der durch die Presse aufgedeckt wurde—geschweige denn eine Ermittlung initiiert.

Auch aus dem NSA-Untersuchungsausschuss ist bislang rein gar nichts Substantielles herausgekommen, das zur Aufklärung hätte beitragen können. Zeugen, die sich wiederholt öffentlich zur Aussage vor dem Ausschuss bereiterklärt haben (wie Julian Assange), werden nicht gehört; was wir wissen, wissen wir durch die Snowden-Leaks und durch die Recherchearbeit der Journalisten von The Intercept, Spiegel, NDR, SWR und SZ sowie eben netzpolitik.org. Eine gesellschaftliche Debatte über Ausweitung der Massenüberwachung ist nach den Enthüllungen von Edward Snowden nicht nur möglich, sondern dringend notwendig. Genau das regt Netzpolitik an.

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Schon im vergangenen Jahr hatte das Bundeskanzleramt mit Strafanzeigen gegenüber dem Spiegel und der SZ gedroht. Dass es nun ausgerechnet den spendenfinanzierten Blog netzpolitik.org trifft, ist für viele Beobachter kein Zufall. Auch die Blogmacher selbst bewerten den Ermittlungsansatz als Einschüchterung—schließlich informieren sie seit Jahren an der Schnittstelle von Journalismus und Aktivismus sowohl über Geheimdienste als auch über Datenschutzthemen und begleiten die Politik kritisch.

Im schlimmsten Fall gehen Markus Beckedahl und Andre Meister für ihre gemeinnützige Arbeit ins Gefängnis.

Inzwischen schlägt den Ermittlern von zahlreichen deutschen Medien scharfe Kritik entgegen. Stefan Laurin vom Blog Ruhrbarone fordert in seinem Kommentar inzwischen sogar den Rücktritt von Justizminister Mass, Generalbundesanwalt Range und dem Verfassungsschutzpräsidenten Maaßen: „Ein Generalbundesanwalt, der es nicht schafft, gegen die NSA zu ermitteln, ein Minister, der ihn in dieser Frage stützt und ein Bundesamt für Verfassungsschutz, das bis heute weder genau weiß, wie viele Islamisten aus Deutschland nach Syrien und in den Irak ziehen, um zu morden und im NSU-Verfahren mehr mit Verschleierung und Schutz des eigenen Personals als mit Beiträgen zu Aufklärung beschäftigt ist. (…) Der Angriff auf Netzpolitik sollte genau diese Konsequenzen haben: Das Ende der Karrieren der drei (…)."

Kleine Kontra-Überwachungsmaßnahme: Gehackte Privatfotos von NSA-Generälen auf den Straßen Berlins

Und auch das Recherchebüro Correct!v solidarisiert sich in einer Videonachricht mit dem Titel „Landesverrat? Wir machen mit." und kündigt an, die umstrittenen Dokumente selbst zu veröffentlichen und eine Anzeige gegen sich selbst beim Generalbundesanwalt zu stellen. Der Aufforderung, dies ebenfalls zu tun, sind andere deutsche Medien bislang allerdings nicht nachgekommen.

Im besten Fall wird das Verfahren schnell eingestellt, netzpolitik.org hat ein paar mehr Hardcore-Unterstützer und einen Haufen Gratis-Promotion bekommen—und es wird endlich über bessere Gesetze zum Schutz von Whistleblowern geredet. Im schlimmsten Fall gehen Markus Beckedahl und Andre Meister für ihre gemeinnützige Arbeit ins Gefängnis.

Damit das nicht passiert, ist der Blog auf Mithilfe angewiesen. Falls ihr die Redaktion von Netzpolitik unterstützen wollt, könnt ihr hier spenden, um den Angeklagten bei der Deckung der Prozesskosten behilflich zu sein. Mit Herzblut aufgearbeiteter und hervorragend recherchierter „Landesverrat" ist eben nicht umsonst.