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Ich habe meinen Musikgeschmack mit dem neuen Google-Datensammel-Tool analysiert

Danke, Big Data.

Es ist ziemlich wahrscheinlich, dass irgendjemand bei mir Zuhause eine Party veranstaltet hat, meinen Rechner an die Anlage angeschlossen hat—und vergessen hat, mich einzuladen. Wie ich das rausgefunden habe? Dank der Daten, die eine neue Transparenz-Kampagne von Google über mein Surf-Verhalten zu Tage gefördert hat. Anders kann ich mir die Auflistung all der YouTube-Videos, die ich vor Jahren einmal gehört habe, nicht erklären. Wer sonst soll denn bitte „gloria von thurn und taxis auf dem frühlingsfest" bei Youtube gesucht haben?

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Google hat diese Woche ein neues Tool öffentlich gemacht, das umfassend auflistet, was der Suchmaschinen-Gigant über mich weiß: Einstellungen zu Sicherheit, Privatsphäre oder angezeigter Werbung sind seit Montag über eine einzige Menüseite einsehbar und zu bearbeiten.

Willkommen auf der Big-Data-Couch zur datengestützten Selbstanalyse

Das Tool ist auch nutzbar, wenn man kein Google-Konto besitzt, und zeigt jedem ganz bequem an, welche Daten Google bereits gespeichert hat: Standortverläufe, Apps auf meinem Telefon, die Sprachsuchen oder eben deine YouTube-Playlist. Das ist auf jeden Fall ein Beitrag zu mehr Benutzerfreundlichkeit, den sich jeder genauer anschauen sollte, der Wert auf den Umgang mit seinen privaten Daten legt. Und der Dinge über sich selbst erfahren möchte, die er schon längst wieder vergessen hat.

Schon im April bot Google die Möglichkeit, all deine Suchabfragen als Zip-Datei herunterzuladen. Mein Kollege Jason Koebler lud damals 52.595 Datensätze über sich herunter. Das neue Tool ist nun wieder gleichermaßen Big-Data-Gedächtnisstütze wie eine gruselige Erinnerung daran, was der Suchmaschinen-Gigant tatsächlich alles über uns weiß. Über myaccount.google.com listet er dir zum Beispiel auf, wohin du in den vergangenen Jahren verreist bist (wenn du auf einem Android-Phone die Standortfreigabe aktiviert hast).

Dank deiner YouTube-Historie bietet es auch ungeahnte Einblicke in deine geschmackliche Vergangenheit. Das ist entweder wie von einem Privatdetektiv verfolgt zu werden oder aber, als ob man sich selbst auf die eigene Psycho-Couch legt und im Spiegelbild der eigenen Daten analysiert. Eine Reise in eine Datenblase der eigenen Identität oder eine Warnung davor, was das Netz alles über mich weiß?

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Das Video vom Motherboard-Panel zu Big Data: Vom Nutzen und Nachteil von Big Data

Während ich mich ungern daran erinnere, dass ich Wankelmuts „One Day" wirklich ein paar Tage gut fand, ist Google da weitaus schonungsloser. Doch auch von musikalischen Fundstücken, die man nie gekauft hat, die aber trotzdem an den schönsten Sommer erinnern, weiß Google. Ich hatte wirklich vergessen, dass Ushers „Climax" einer der besten Songs der Welt ist.

Das neue Transparenz-Tool ist das digitale Äquivalent zum Wühlen in den alten, verstaubten Jugend-Mixtapes auf dem Dachboden. Für Google geht es vor allem darum, den Menschen das Gefühl zu geben, Kontrolle über ihre Netzprivatsphäre und Sicherheit zu haben. So heißt es auf dem eigenen Firmenblog: „Google builds simple, powerful privacy and security tools that keep your information safe and put you in control of it." Von der Möglichkeit die Datenauflistung als Spaziergang durch das eigene Leben zu nutzen schreiben sie nichts.

Die Liste all meiner YouTube-Videos ist tatsächlich so lang, dass ich für ein Jahr Datenvergangenheit eine Stunde brauche. Erschwerend kommt hinzu, dass die Phase, in der mein früheres Ich mal Deep House gehört hat, wohl doch nicht so kurz war, wie ich heute denke. Ich komme kaum bis zum Anfang der Aufzeichnungen vor drei Jahren, da ich all die Fink Videos noch mal schauen muss, die ich mir angesehen hatte, als Nils Koppruch starb.

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Das ist der Widerspruch, in dem wir uns befinden: Unsere Datensammelei kann gefährlich sein—und doch kann ich nicht darauf verzichten.

Der Verlauf der gesuchten YouTube-Videos bietet ein paar Überraschungen. In meinen Suchanfragen erkenne ich mich oft nicht wieder— da muss jemand anderes meinen Rechner benutzt haben. Ich habe doch ganz sicher nicht nach dem „sucker punch trailer" gesucht, auch mein Freund steht nicht auf Action-Fantasy-Filme, zumindest wusste ich bisher nichts davon. Und „affe finger im po"? War ich vor zwei Jahren betrunken? Wie oft bin ich betrunken auf YouTube? Gut, Tocotronic, Lady Gaga, The Books, Angel Haze. Das war ich, da kann ich auch heute nichts gegen sagen.

Ein Ausschnitt meiner YouTube-Historie.

Leider veröffentlicht Google neben den Datensätzen nicht auch das Datum, das anzeigt, wann genau ich die Videos aufgerufen habe (damit ließe sich wohl zu beängstigend genau mein Leben rekonstruieren). So muss man ein wenig selbst kombinieren, ob man Money-Boy-Fan der ersten Stunde war oder ein Spätzünder. Unendlich scrollt man von den jüngsten zu den ältesten Views. Vorbei am Video von der Arschbombe in den gefrorenen Pool. Vorbei an Mariah Careys „All I Want For Christmas". Das höre ich also wirklich jedes Jahr.

Und was weiß Google jetzt von mir? Dass ich Polizeisirenen aus fremden Städten anhöre, wenn ich Fernweh habe? Dass ich dachte, Charlotte Free würde die neue Kate Moss, und ich mich geirrt habe? Nur zur Hälfte natürlich. Google weiß, dass ich Musikphasen habe. Mal mehr Hip Hop, mal mehr Techno, mal mehr Schnulzen. Auch wenn ich weiß, dass die Existenz dieser Datenspur normal ist, so bleibt es gruselig, diese vor sich zu sehen. Erst recht, wenn einem auffällt, wie oft man das Video geschaut hat, in dem man selbst vorkommt.

Das ist der Widerspruch, in dem wir uns befinden: Zu Wissen, dass die Datensammelei grundsätzlich gefährlich ist, dass sie die Unfreiheit anderer bedeuten kann und gleichzeitig zu wissen, dass Firmen mit meinen Daten ihr Geld verdienen—und dennoch nicht darauf verzichten zu wollen oder zu können. Google weiß, dass dieses Selbstanalyse-Tool, das ja vor allem auch ein Selbstvergewisserungs-Tool ist, ein hübsches Geschenk ist, eines. das uns über die Widersprüche seufzen lässt. Und dann schnell wieder den Video-Verlauf checken. Zwei Stunden später, drei Jahre später.

Erst mal die Standortfreigabe „pausieren", wie Google es nennt.

Du kannst den gesamten Verlauf mit zwei Klicks löschen, für das bessere Gewissen. Oder einzelne Videos entfernen—zum Beispiel dieses: DCVDNS „Du machst dir keine Sorgen solange Nutella nicht nach Scheiße schmeckt". Selbstverständlich bietet dir Google auch die Möglichkeit, deine gesamte Verlaufsliste mit der Welt zu teilen und auf deinen YouTube Channel hochzuladen.

Ich habe erstmal die die interressensbezogene Werbung deaktiviert. Ob ich die Archivierung meines YouTube-Lebens abstelle, weiß ich noch nicht. Aber hey, Sasha Grey, A-Ha, Django Django, Dead Kennedys, Bilderbuch und Christian Kracht bei Harald Schmidt und ganz oft Lady Gaga, ich habe wirklich nichts zu verbergen. Menowin Fröhlich habe ich nämlich nur aus Recherche-Gründen geschaut.