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Starbucks, Flixbus, BVG: Wie Anbietern die Kontrolle über ihr WLAN entgleitet

Seit Wochen erreichen uns Leseranfragen, dass alle VICE-Seiten im Flixbus gesperrt sind—wir haben uns den Fall genauer angeschaut.
Diese Meldung erscheint beim Aufruf von einer VICE-Seite im Starbucks-Netz. Screenshot: Starbucks

Ende letzten Jahres sitze ich in einem Starbucks in Berlin, nippe an einem Frappuccino und möchte einem Freund den Link zu einem Artikel schicken. Genau genommen, möchte ich ihm den Link zu einem gerade erschienen Artikel schicken, den ich selbst über ihn geschrieben habe. Ich google meinen eigenen Text, klicke auf den Link und stelle fest, dass ich den Artikel nicht über das WLAN von Starbucks aufrufen darf. Der Inhalt der Seite sei „in einem öffentlichen familiären Umfeld ungeeignet"—dabei handelt es sich eigentlich um einen aufklärenden Artikel über ein unterschätztes Krankheitssymptom.

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Ob die Definition von Starbucks als ein „familiäres Umfeld" die Art von öffentlich-privatem Raum einer Kaffeekette korrekt trifft, sei mal dahingestellt. Warum aber lässt sich mein Artikel über das Ordnungsproblem meines Freundes nicht aufrufen? Ich probiere ein wenig rum und stelle fest: Alle Seiten von VICE.com sind gesperrt. Dass Anbieter von WLAN Seiten sperren, ist nichts Neues und auch ihr digitales Hausrecht. Ich hätte erwartet, hier im Café keine Porno-Seiten absurfen zu können. Dass alle VICE-Websites pauschal gesperrt sind, obwohl nicht jugendfreie Inhalte eigentlich von VICE selbst hinter eine Altersabfrage gestellt werden, erscheint mir merkwürdig.

Tatsächlich betrifft die Sperre längst nicht nur das WLAN-Angebot von Starbucks. Immer wieder erreichen die VICE-Redaktion in den vergangenen Monaten Nachfragen zur Sperre in einem anderen, anscheinend ebenfalls sehr viel genutzten WiFi-Netz: Bei Flixbus, Deutschlands größtem Fernbus-Anbieter, können Texte von keinerlei VICE-Seite aufgerufen werden, wie uns mehrere verwunderte Nutzer schreiben.

Update 18.10.: Inzwischen sind alle VICE-Seiten im Flixbus-WLAN abrufbar. Das zeigen sowohl eigene Tests von Motherboard als auch Aussagen von Flixbus-Fahrern, die unsere Redaktion erreicht haben.

Doch das Problem betrifft nicht nur VICE. Auch andere Angebote wie die LGBT-News-Seite queer.de werden in öffentlichen W-Lans zum Opfer von Sperren, deren Grund nicht immer einfach nachzuvollziehen ist. Wenn man versucht herauszufinden, warum und nach welchen Regeln Seiten wie VICE gesperrt werden, zeigt sich schnell, dass bei vielen öffentlichen WLAN und ihren Sperrvorschriften und Jugendschutzregeln viel grundlegender etwas im Argen liegt—und das Anbieter das Problem nur allzu gerne ignorieren.

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Freies WLAN wird für Nutzer immer wichtiger—doch darüber, nach welchen Regeln dort Inhalte gesperrt werden, gibt es kaum Transparenz.

Auf meine Nachfrage bei Starbucks bekommen wir nur eine ausweichende Antwort: „In Zusammenarbeit mit dem Netzbetreiber BT haben wir einen Wi-Fi-Filter installiert, um Kinder ausreichend vor unangemessenen Internetinhalten zu schützen", erklärt die Pressestelle gegenüber Motherboard und verweist damit auf eine Praxis, die eigentlich für alle öffentlichen WLAN-Angebote gilt: Sie werden von einem externen Dienstleister eingekauft; doch wie gründlich schaut der WiFI-Anbieter sich an, was der technische Dienstleister ihm da hinstellt und wie sehr interessiert er sich dafür? „Wir arbeiten ständig mit unserem Netzbetreiber zusammen, um diesen Filter weiter zu verbessern", heißt es von Starbucks wenig konkret.

Auf der deutschen Webseite des Starbucks-Netzbetreibers BT findet man wenig Hintergrund zur Filterung von Webseiten; konkrete Kriterien dazu, warum Seiten auf jenen Blocklisten landen, auf der offenbar auch VICE steht, tauchen nicht auf. Auf eine konkrete Anfrage von Motherboard bei der Pressestelle reagiert BT nicht.

Unter „Social Responsibility" erklärt BT, dass man im SOS Kinderdorf Nürnberg eine Filter-Software installiert habe, damit die Kinder „künftig auch ohne die Aufsicht von Betreuern das World Wide Web sicher erkunden und nutzen können. Das Programm blockiert Seiten mit jugendgefährdenden oder rechtswidrigen Inhalten."

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Im Netzwerk von Flixbus scheint VICE bereits seit Jahren ohne Nennung weiterer Gründe geblockt zu sein, wie ein alter Tweet zeigt:

Hallo @flixbus warum ist #vice in Eurem WLan gesperrt? Kann man irgendwo die Blacklist einsehen? pic.twitter.com/Zvth9ycM74
— turrage (@turrage) 8. September 2014

Die FlixBus-Haltestelle am Berliner Alexanderplatz liegt auf meiner täglichen Rad-Strecke. Ich mache dort halt, zücke mein iPhone und logge mich in das WLAN eines Busses ein— was auch geht, wenn man neben einem Bus steht. Ich wähle das Netzwerk aus, bestätige die Nutzungsbedingungen und rufe VICE.com auf. Und tatsächlich: Der Zugriff ist gesperrt—noch ahne ich nicht, dass mein kurzer Test der Beginn einer kafkaesken Flixbus-Recherche sein wird, die sich noch über Monate hinzieht.

Bisschen W-Lan abzapfen am Alexanderplatz. Bild: Caspar Clemens Mierau

Diesmal teste ich weiter und rufe YouPorn auf: gesperrt. Als Gegentest tippe ich „porn" in Google ein und erhalte auf Anhieb unzählige Hardcore-Porno-Bilder. Mir ist bewusst, dass es technisch nicht einfach ist, die Ergebnisse einer Google-Suche zu kontrollieren. Aber wo der Jugendschutz ist, wenn eine einfache Suche nach „porn" bereits zum Ziel führt, frage ich mich schon.

Um diese und andere Fragen zu klären, schreibe ich die FlixBus-Presseabteilung an. Nach einer Woche erhalte ich eine überraschende Antwort: „Die von Ihnen genannte Seite wird durch die von uns verwendeten Systeme nicht aktiv geblockt. Meine Technik-Kollegen konnten diese problemlos auf unseren Systemen öffnen." Dass VICE.com gar nicht geblockt sei, widerspricht nicht nur meiner Erfahrung, sondern auch einer firmeneigenen Bestätigung der Sperre aus dem Jahr 2014. Man fragt nach meinen Fahrtdaten, verspricht den Fall noch einmal zu prüfen; im übrigen sei die Pflege der zu sperrenden Seiten beinhaltet, Aufgabe des „Systemanbieters", der lediglich „eine Reihe von anstößigen Seiten sowie Streamingseiten geblockt" habe.

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Wirklich nicht gesperrt? Ich fahre wieder an der FlixBus-Haltestelle vorbei und stelle abermals in mehreren FlixBus-WLANs fest: VICE.com ist gesperrt,

Auf erneute Nachfrage gibt FlixBus an, die Informationen an die Technik weiterzugeben. Tage später hat sich die Situation nicht geändert. Auf Drängen per Mail hin orakelt die Pressestelle über nicht fertig konfigurierte Router und verweist wieder auf den Hersteller. Meine Bitte um Klärung der Frage, wer nach welchen Kriterien entscheidet, welche Inhalte auf Filterlisten landen, wird mit dem Verweis auf Vertraulichkeit abgeschlagen:

„Das von Ihnen im Screenshot bezeichnete WLAN-System ist eine noch nicht auf FlixBus konfigurierte Version, die aber bereits in einem Bus verbaut wurde. Hier fehlt noch das FlixBus Look & Feel. Offensichtlich scheint hier die Website motherboard.vice.com ebenfalls vom Hersteller geblockt zu sein. Aufgrund Ihres Hinweises wird unser unternehmenseigenes Technik-Team mit dem Hersteller in Kontakt treten und sich für die Aufhebung dieses Blocks einsetzen. Ich kann Ihnen versichern, dass wir im Rahmen unseres WLAN-Angebotes alle gesetzlichen Regelungen und Vorschriften einhalten."

An dieser Antwort zeigt sich das eigentliche Problem. Während es Starbucks und FlixBus juristisch frei steht, Inhalte zu filtern, hat es einen faden Beigeschmack, wenn die Sperr-Entscheidungen offenbar nahezu beliebig durch Dritte erfolgen. Kaufen die landesweit und international agierenden Unternehmen Netz-Dienstleistungen ein, über die sie keine Kontrolle haben? Wer entscheidet eigentlich, was in ein „familiäres Umfeld" passt? Starbucks und FlixBus haben offensichtlich die Kontrolle verloren.

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Die Filterlisten selbst werden gehütet wie Staatsgeheimnisse. Sicher versucht man, Diskussionen über Sperr-Entscheidungen aus dem Weg zu gehen. Unter urlblacklist.com findet sich dennoch beispielhaft ein älteres Projekt, das eine mehr oder weniger gepflegte Zusammenstellung unzähliger klassifizierter URLs im Abonnement anbietet. Auf der Liste befindet sich in der Kategorie „adult" auch „VICE.com".

Die Kategorie „Adult" bezeichnet laut Betreiber „Sites containing adult material such as swearing but not porn". Dass VICE mit seinen offenen Artikeln über Sex, Drugs und Rock'n'Roll auf dieser Liste landet, verwundert kaum. Auch die LGBT-Newsseite Queer.de findet sich auf der Liste; sie ist als sowohl als „Adult" als auch als „Porn" eingestuft . Aber ist es richtig, eine Kategorie wie „Adult" genauso rigoros wie rein pornographische Inhalte zu filtern? Und wie logisch sind überhaupt die Regeln, die diese Unterscheidung vornehmen?

Um zu sehen, wie verbreitet das Filtern in öffentlichen WLANs ist, teste ich weitere von Firmen oder Organisationen angebotene Zugänge aus. Um die Ergebnisse vergleichen zu können, rufe ich ganz unwissenschaftlich neben VICE auch YouPorn (Pornographie), Indymedia Linksunten („extremistisch"), rotten.com (ein Klassiker der „Shock Sites") und queer.de (LGBT) auf. Das Ergebnis war recht eindeutig: Viele WLANs sind ungefiltert. Einige Anbieter entscheiden sich, klar erkennbare Pornographie zu sperren. So kann man zwar in der Drogerie-Kette DM bei einem Wasser aus dem Wasserspender im WLAN rumsurfen—die passenden Filme zur Kondompackung aber bleiben hinter einer Sperrmeldung.

Dann kommt der Treffer, den ich schon lange erwartet habe: Während ich diesen Artikel schreibe, veröffentlichen die Kollegen vom Tagesspiegel den einen Artikel über eine Sperrung, die in der Hauptstadt nicht gut ankommt: Ausgerechnet im WLAN der sich offen gebenden Berliner Verkehrsbetriebe lässt sich queer.de nicht öffnen. Die BVG reagiert schnell und gibt zu, dass auch ihr die Sperre „gegen den Strich" gehe, man beim Anbieter Hotspots nur die Sperre jugendgefährdender Inhalte beauftragt, aber nie selber die Liste gesperrter Inhalte überprüft habe.

An den Beispielen Starbucks, FlixBus und BVG zeigt sich ein strukturelles Problem: Viele Unternehmen bieten heutzutage ihren KundInnen WLAN-Zugänge an. Ein Angebot, dass viele Nutzer bei den teils absurden Datentarifen deutscher Mobilfunkanbieter noch heute in Scharen nutzen. Trotz der Ausbreitung von LTE geht der Ausbau von öffentlichen WiFI-Netzen weiter unvermindert voran, weshalb uns wohl auch die Frage nach der Transparenz von Blocklisten noch einige Jahre beschäftigen dürfte.

Um die Nutzung des WLANs auf in ihren Räumlichkeiten akzeptable Inhalte zu beschränken, beauftragt man technische Dienstleister, jugendgefährdende Inhalte zu filtern. Das ist gutes Recht. Jedoch wird die Entscheidung, was genau gefiltert wird, von einem Außenstehenden vorgenommen, der völlig intransparent nach Gutdünken Inhalte sperren kann. Seien wir ehrlich: Sollte ein Administrator die ethische, moralische oder juristische Frage entscheiden, ob eine Seite gesperrt wird oder nicht? Werden die Mitarbeiter entsprechend geschult? All das wissen wir nicht, denn das Thema wird auf Nachfrage in der Regel unter den Tisch gekehrt. Über Sperren redet man nicht gern.

Dabei täte ein offenerer Umgang mit Filtern den Anbietern gut. Statt KundInnen überraschend die Webseite vor der Nase zu schließen, wäre es für alle Beteiligten hilfreich, klar zu kommunizieren, warum eine Seite gesperrt wird—und wie man möglicherweise dagegen Beschwerde einreichen kann. Denn Fehler passieren—und nicht alles, wo „adult" oder „gay" draufsteht, ist gleich Pornografie, die man ins digitale Nirvana versenken muss. Und vielleicht, das nur als Idee, ist es auch einfach Aufgabe der Eltern, die Smartphones und Tablets ihrer Kinder entsprechend einzurichten, statt sich darauf zu verlassen, dass alle WLANs die selben Filter für jugendgefährdende Inhalte haben.