Menschen

Ein Pfleger erklärt, warum er und Tausende andere in der sechsten Woche streiken

"Wie wir unsere Patienten betreuen müssen, können wir nicht mit unserem Gewissen vereinbaren."
Ein Gruppe Menschen schreitet mit Warnwesten und Fahnen durch Konfettiregen. Es sind Klinikangestellte in Köln, die streiken.
Seit fast anderthalb Monaten gehen Tausende Pflegekräfte in Nordrhein-Westfalen auf die Straße. Sie fordern nicht mehr Geld, sondern bessere Arbeitsbedingungen | Foto: IMAGO / Dominik Bund

Seit mehr als einem Monat streiken die Pflegekräfte aller Universitätskliniken in Nordrhein-Westfalen. Es ist einer der größten und längsten Streiks an den Unikliniken des Landes. Die Angestellten der sechs Krankenhäuser fordern nicht mehr Geld, sondern bessere Arbeitsbedingungen, zum Beispiel Ausgleichstage für besonders belastende Situationen oder besser besetzte Schichten. Sebastian Löder ist einer von etwa 2.000 Angestellten, die täglich im Streik sind. Als VICE ihn das erste Mal anruft, kann er gerade nicht sprechen. Er muss eine Power-Point-Präsentation vorbereiten. Denn am heutigen Dienstag vertritt er seine Station an der Uniklinik Köln bei den Verhandlungen. Einige Stunden später klappt es dann.

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VICE: Sebastian, was hast du gerade noch für den Streik vorbereitet?
Sebastian Löder:
Ich habe die Idealbesetzung für meinen Bereich aufgestellt. Ich arbeite auf einer Station für Altersmedizin. Dort begleiten wir ältere Menschen nach Operationen, bei Herzproblemen oder nach Krebsbehandlungen. Wir helfen ihnen dabei, im Alltag wieder klarzukommen. Es geht darum: Wie stehe ich aus dem Bett auf? Wie wasche ich mich? Wie gehe ich mit Inkontinenz um? Wie ändert sich mein Alltag nach einer Amputation oder wenn ich zur Dialyse muss? Oft üben wir das mit den Patienten. Das braucht Geduld. Im besten Fall würde ich am Tag drei Patienten in einer Schicht betreuen und in der Nacht fünf. Derzeit betreue ich aber sieben Patienten am Tag und nachts bin ich mit 14 Patienten allein. Das ist kein guter Betreuungsschlüssel und schafft eine belastende Situation.

Sebastian Löder trägt eine Brille, dunkle Locken und einen Bart. Er hat die OP-Maske unter sein Kinn gezogen und lächelt.

Sebastian ist 39 Jahre alt und arbeitet als Pfleger an der Uniklinik Köln. Er würde lieber arbeiten, statt zu streiken. Aber unter den derzeitigen Bedingungen gehe das nicht, sagt er. | Foto: privat

Wie macht sich diese Belastung bei dir bemerkbar?
Ich musste schon manchmal das Wechseln von Verbänden unterbrechen, weil ich woanders gebraucht wurde. Das ist eine blöde Situation: Beim Verbandswechsel muss man sauber arbeiten. In eine Wunde dürfen keine Bakterien kommen. Dann musste ich den Patienten sagen: Bleiben Sie bitte still liegen. So musste ich sie da manchmal eine Viertelstunde liegen lassen, bevor ich weitermachen konnte. Wenn auf unserer Station Menschen reanimiert werden müssen, stürzen oder aggressiv werden, sind wir alle eingespannt. Dann gibt es niemanden, der etwa beim Toilettengang helfen kann. Das ist zwar nicht super schlimm. Aber es hat ja etwas mit Menschenwürde zu tun, die Toilette benutzen zu können. Ich hasse es auch, Menschen allein lassen zu müssen, wenn sie Ängste wegen schlimmer Diagnosen haben. Solche Sachen frustrieren mich und meine Kollegen. Die Art, wie wir unsere Patienten derzeit betreuen müssen, können wir nicht mit unserem Gewissen und den eigenen Ansprüchen an gute Pflege vereinbaren. Hinzu kommt: Ganz oft haben wir auch keine Pause in unseren Schichten. Wir können nicht essen oder ausreichend trinken.

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Im Streik fordert ihr nicht mehr Geld, sondern weniger Belastungen. Wie soll das gehen?
Nehmen wir an, eine Kollegin ist krank. Das führt zu Mehrbelastung bei allen anderen. Oder nehmen wir an, ein Patient stirbt. Das ist auch eine belastende Situation für Pflegekräfte. In solchen Fällen soll es einen Punkt geben. Wer drei Punkte hat, soll zeitnah einen freien Tag bekommen, um sich zu erholen.
Außerdem kämpfen wir für mehr Personal. Denn mit mehr Kollegen könnten wir unsere Patientinnen und Patienten besser betreuen.


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Überall in Deutschland gibt es zu wenig Pflegekräfte. Wieso sollte ausgerechnet das Land NRW mehr einstellen können?
Dass es so wenige gibt, liegt eben an den schlechten Arbeitsbedingungen. Eine Studie der Hans-Böckler-Stiftung hat vor Kurzem gezeigt: Etwa 300.000 ausgebildete Pflegekräfte würden in ihren Job wieder einsteigen, wenn die Arbeitsbedingungen in Deutschland besser wären. Wären die Arbeitsbedingungen attraktiver, würden sich auch mehr Menschen zu Pflegekräften ausbilden lassen – oder ihre Ausbildung nicht abbrechen.

Durch euren Streik werden nun kranke Menschen noch schlechter versorgt als vorher.
Notfälle werden weiterhin auch an den Unikliniken angenommen. Natürlich müssen die Kolleginnen und Kollegen der kommunalen, kirchlichen und privaten Krankenhäuser mehr abfedern. Planbare Operationen wurden verschoben. Meine Station ist komplett geschlossen, genau wie 16 weitere in Köln. Sicher ist das doof für einige Patienten. Aber wir sind nicht Volkswagen und können einfach das Band ausstellen. Unsere Forderungen nach besseren Arbeitsbedingungen sind völlig gerechtfertigt. Irgendjemand muss den Anfang machen. Außerdem hätte unser Arbeitgeber, das Land NRW, diesen Streik vermeiden können.

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"Ich höre auf zu streiken, wenn wir einen Tarifvertrag bekommen."

Wie meinst du das?
Wir haben schon Anfang des Jahres ein 100-Tage-Ultimatum gestellt. Das lief am 1. Mai aus. Dann begann unser Streik. Das Land NRW hätte also 100 Tage gehabt, um mit uns über einen Tarifvertrag zu sprechen. Das haben sie nicht. Auch in den ersten Streikwochen tat sich nichts. Erst in der dritten Woche begannen die Vertreter des Landes mit unserer Tarifkommission und der Gewerkschaft ver.di zu verhandeln. ver.di unterstützt uns Klinikangestellte bei den Verhandlungen. Nun sind wir in der sechsten Streikwoche.

Du vertrittst deine Station bei dem Streik. Was machst du jetzt den ganzen Tag?
Ich bin im Streikzelt, nehme an Workshops und Demonstrationen teil. Als Ansprechpartner für die Tarifkommission spreche ich oft mit ver.di, den Mitgliedern der Kommission und mit den 14 Kollegen auf meiner Station. Vieles entscheiden wir basisdemokratisch. Ich bin jetzt zwölf Stunden am Tag unterwegs. Streiken ist viel anstrengender als Arbeiten. Ich arbeite seit 22 Jahren als Gesundheits- und Krankenpfleger und mache das sehr gern. Viel lieber würde ich zurück zu den Patienten. Dann hätte ich auch wieder mehr planbare Freizeit.

Wann würdest du aufhören zu streiken?
Wenn wir einen Tarifvertrag bekommen.

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