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Zu Gast in der virtuellen Taverne, wo Gamer der Wettkampf-Logik entfliehen

Die Rollenspieler von 'Guild Wars 2' haben kein Interesse an Rüstungen, Levels und Bosskämpfen. Sie spielen nach ihren eigenen Regeln – und werden dafür von anderen Gamern angefeindet.
'Guild Wars'-Figur Liza Jäger in ihrer Taverne | Bild: Screenshot | 'Guild Wars 2'

"Deine frech'n Witze, ne, die wärn viel lustiger, wenn'de nich' so'n Schisser wärs!", schallt es durch die Taverne. Liza Jaeger starrt mit funkelnden Augen einen ihrer Gäste an, der mal wieder einen Schritt zu weit gegangen ist, als er ungefragt hinter den Tresen greifen wollte. Es ist ein Dienstag wie jeder andere im Gewürgten Flaschenhals, einer verrauchten Eckkneipe, deren trübe Buntglasfenster und zerkratztes Mobiliar aus massivem Holz von besseren Tagen erzählen.

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Die Besitzerin der Kaschemme ist Liza Jaeger, 38 Jahre alt. Selbstsicher stolziert sie durch den Raum und macht damit jedem sofort klar, wer hier das Sagen hat. Einen Türsteher braucht sie nicht. Störenfriede schmeißt sie persönlich raus und das nicht gerade sanft. Doch auch in Wortgefechten weiß sie sich zu behaupten und wirft ihren Kunden Sprüche an den Kopf wie: "Wenn du 'ne Seele hast, dann isse eher klein und schrumblich – wie'n fahkohltet Stück Brot." Aber da ist noch etwas, dass man über Liza wissen muss: Sie ist nicht real, genauso wenig wie ihre Kneipe; und was sie spricht, ist in einem Chat innerhalb des Computerspiels zu lesen – inklusive des künstlichen Dialekts.

Liza Jaeger ist eine von Millionen Figuren im Fantasy-Online-Rollenspiel Guild Wars 2. Die Taverne gilt seit dem Release des Spiels vor fünf Jahren als eine Institution, auch wenn sie von den Entwicklern nicht dafür gedacht war. Vor allem Neulinge lernen dort, sich in einer ungezwungenen Atmosphäre auszuprobieren.

Liza steht mit einem Gewehr hinter ihrer Theke

Wenn alle Stricke reißen, greift Liz auch mal unter die Ladentheke | Bild: Screenshot | 'Guild Wars 2'

Tolle Rüstungen und Waffen sind den Rollenspielern egal

Hinter der beinharten Liza steht der 33 Jahre alte Rollenspieler Diemen aus der Schweiz. Er ist Teil einer Community, die Spiele wie World of Warcraft , Final Fantasy XIV und Guild Wars 2 auf ihre ganz eigene Art und Weise spielen. Sie haben sich dem Leistungsdruck losgesagt, kümmern sich nicht ums Aufleveln und ziehen nicht mit großen Gruppen los, um die schwersten Bossgegner des Spiels zu jagen. Während die meisten Spielerinnen Quests erledigen und um die tollste Ausrüstung ringen, übernehmen Rollenspieler wie Diemen lieber einen fiktiven Charakter in der Spielwelt – und verkörpern ihn mit der Hingabe von Schauspielern. Ringsum versuchen andere Gamer, so viele Gegner wie möglich zu erledigen und ein ums andere Mal die Welt zu retten. Aber Rollenspielerinnen treffen sich, um gemeinsam Geschichten zu erleben, die sie selbst gestalten.

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Eine solche Geschichte hat sich in Lizas Taverne an einem Abend abgespielt, ausgerechnet als die Herrin des Hauses nicht da war. Lizas Gehilfin Lynn sah sich an diesem Tag einer hohen Ratsherrin gegenüber. Flankiert von der Stadtwache verlangte die Ratsherrin forsch, die Besitzerin der Taverne zu sprechen, während sich die Gäste im Hintergrund eine wilde Prügelei lieferten. Um das Problem zu lösen, spendierte Lynn Freibier an alle Freiwilligen, die halfen, die Ordnung im Laden wiederherzustellen.

Für ihr Rollenspiel pfeift die Community auf ausgefeilte Spielmechaniken und strategische Kämpfe. Auf das Gameplay, das Entwicklerteams über Jahre hinweg ausgefeilt haben, verzichten sie gern. Stattdessen gestalten sie das Spiel mit ihrer eigenen Sprache und ihrer Fantasie. Wenn Liza zum Beispiel das nächste Bier einschenken will, kann das im Spiel gar nicht grafisch dargestellt werden. Also beschreibt Diemen Lizas Tätigkeit einfach im Chat und die Umstehenden nutzen ihre Fantasie. Für Außenstehende mag es wirken, als wäre bei einem halben Dutzend Spielerinnen das Spiel abgestürzt, so regungslos stehen die Charaktere in der Gegend herum. Denn Bewegung hat im Rollenspiel nur eine geringe Bedeutung. Allein der Chat, der sich im rasanten Tempo füllt, lässt darauf schließen, dass hier gerade ganz viel passiert.

Die Taverne aus 'Guild Wars 2', in der sich Rollenspieler treffen.

Im Zweiwochenrhythmus treffen sich die Rollenspieler im Gewürgten Hals | Bild: Screenshot | 'Guild Wars 2'

Im echten Leben ist Diemen kein Wirt, sondern designt Benutzeroberflächen für große Firmen, seinen Nachnamen behält er lieber für sich. Er selbst beschreibt auch seinen realen Beruf gerne als Rollenspiel, denn auch hier muss er sich in seine Kunden hineinversetzen und seine Programme durch deren Augen sehen. Diemen ist seit über 20 Jahren Rollenspieler. Angefangen mit dem klassischen Pen-&-Paper-Rollenspiel, eine zeitlang in World of Warcraft und nun schon seit fünf Jahren in Guild Wars 2. Seit anderthalb Jahren ist er der Besitzer des Gewürgten Flaschenhals und öffnet in der Rolle von Liza seine Türen regelmäßig für Dutzende andere Rollenspieler, um ihnen eine Bühne zu bieten.

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Rollenspiel trifft auf Unverständnis und Interesse gleichermaßen

Die Reaktionen der Nicht-Rollenspieler reichen dabei von ehrlichem Interesse, über Unverständnis bis hin zu blankem Hohn. "In WoW ist es gang und gäbe, dass du für dein Rollenspiel beleidigt wirst, wenn du in der falschen Spielwelt landest. Das ist in Guild Wars sehr selten", erklärt Diemen. Hin und wieder komme es aber auch vor, dass Spieler über Stunden versuchen, das Rollenspiel zu stören, indem sie den Chat zuspammen oder bewusst im Weg rumstehen. Andere legen ihre Ausrüstung ab, sodass ihre Avatare nur noch in Unterwäsche dastehen, steigen auf die Tische und lassen die Figuren tanzen – nur um das Rollenspiel zu stören. "Das ist wirklich beeindruckend, was manche Leute für Energie manchmal haben", fügt Diemen lachend hinzu.


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Doch es kann auch anders laufen, weiß uns Rollenspielerin Susanne zu berichten. "Es gibt Leute, die setzen sich mit dazu, lesen mit und bedanken sich am Ende für den spannenden Abend". Für Spielerinnen, die nicht in einer Rolle auftreten, hat die Community sogar einen eigenen Namen entwickelt: Oocler heißen sie, das steht für "out of character". Dass andere Spieler ihr Rollenspiel mitverfolgen, stört Susanne nicht. Im Gegenteil, die 34-jährige Bürokauffrau und Mutter freut sich darüber, dass es Menschen gibt, die sich für Rollenspiel interessieren. "Manchmal stellen sie auch Fragen und ich antworte für gewöhnlich gerne darauf". Doch nicht alle sind den "Ooclern" freundlich gesonnen. Oftmals seien es alteingesessene Rollenspieler, die bereits mehrfach schlechte Erfahrungen mit Außenstehenden gemacht haben und allzu schnell mit Anfeindungen rechnen.

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"'Guild Wars' hat eine der gesündesten Communities, die ich jemals gesehen habe."

Insgesamt gehe es jedoch sehr friedlich in der Community zu, wie im gesamten Spiel. " Guild Wars hat eine der gesündesten Communities, die ich jemals gesehen habe. Irgendetwas hat das Spiel gemacht, dass die Community extrem freundlich zueinander ist", sagt Diemen. Das zeigt sich nicht nur im Umgang mit den Nicht-Rollenspielern, sondern auch untereinander. Öffentliche Räume wie der Gewürgte Flaschenhals gelten als Community-Projekte. Sie werden nicht nur von der jeweiligen Besitzerin geformt und gestaltet, sondern auch von denjenigen, die sie als Gäste betreten. Konsens ist das Stichwort: Denn eine Idee kann nur bestehen, wenn sie von den anderen Spielern akzeptiert wird.

Dass das nicht immer der Fall ist, musste Diemen bereits am eigenen Leibe erfahren. Zu Zeiten des NSA-Skandals wollte er das Thema der Massendatenspeicherung aufgreifen und in das Spiel übertragen. Er entwickelte einen neuen Charakter, einen skrupellosen Wissenschaftler, der den Adligen magische Technologie zur Überwachung ihrer Untergebenen verkaufen wollte. Die Rollenspielgemeinde war empört. Zu ernst sei das Thema, um es zu bespielen. Diemens Idee wurde nie umgesetzt, der skrupellose Wissenschaftler trat nie bei Guild Wars auf.

Der Rollenspieler Diemen

Diemen – nicht nur Besitzer der Taverne, sondern auch Kopf hinter zahlreichen anderen RP-Projekten | Bild: privat

"Du kannst niemals ein Rollenspielkonzept so spielen, dass du Leute per se ausgrenzt."

Aktuelle Politik spielt also auch in der virtuellen Taverne von Guild Wars eine Rolle, und die Moralvorstellungen der Gamer können sich auf das Rollenspiel übertragen. Während der NSA-Skandal den Gamern im Gewürgten Flaschenhals offenbar zu viel ist, haben sie ein anderes gesellschaftliches Problem in ihr Spiel integriert: Rassismus.

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In Guild Wars 2 können die Spielerinnen nämlich nicht nur die Kontrolle über menschliche Figuren übernehmen, sondern auch über Fantasiewesen. Eines dieser Fantasie-Völker, die Charr, sind monströse, humanoide Katzen – und die hatten lange Zeit Hausverbot in der Schenke. Wer die Taverne als Charr trotzdem betrat, musste mit Anfeindungen rechnen, denn im Spiel hatten sich Menschen und Charr einst bekriegt.

Diese Art der Diskriminierung, die rassistische Denkmuster nachahmt, hatte sich über die Jahre eingespielt und wurde von den Rollenspielern sogar eingefordert. Erst seit Diemen in der Rolle von Liza das Sagen in der Taverne hat, hat sich das etwas geändert. So werden die Charr zwar immer noch nicht in der Schenke bedient, dürfen sich aber dort aufhalten. Wenn ihnen ein Mensch ein Getränk bestellt, beschwert sich keiner.

Diemen sieht in der neuen Regelung einen Kompromiss: Auf der einen Seite sollte Rollenspiel für ihn immer inklusiv sein; auf der anderen Seiten erwarten die Spielerinnen, die Konflikte der Wesen aus Guild Wars auch in der Taverne darzustellen. Als Bedenklich empfindet er diese gespielte Diskriminierung nicht. "Es ist wahrscheinlicher, dass du einen Nazi in anderen Teilen des Spiels triffst, als in deiner Rollenspielgruppe", erklärt er. Tatsächlich sei die Community eher politisch links einzuordnen. Letztlich, erklärt Diemen, seien Rollenspieler vor allem Menschen, die im Rollenspiel Ideen ausprobieren und Konflikte lösen möchten – und jemand sein können, der sie im echten Leben nicht sind.

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