Wenn Menschen Menschen essen

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Kannibalismus

Wenn Menschen Menschen essen

To Eat or to be Eaten—A Guide to Cannibalism enthält menschliche Schlachtdiagramme und Rezepte, wie man Menschenhackfleisch am besten zu einem Mangotartare verarbeitet. Worum es in diesem Projekt wirklich geht, erklärt uns der Künstler Chamizo...
Phoebe Hurst
London, GB

Guides sind ja ein ziemlich großes Ding in der Welt der Foodies. Da gibts die Prominenten wie der Guide Michelin, daneben aber auch zahlreiche Listen à la „Die 20 besten Burger", „Die fünf leckersten Burger der Stadt" und „Nein, echt jetzt! Das sind die 10 leckersten Burger, die du je gegessen hast". Sie alle verbreiten sich Tag für Tag in den Weiten des Internets. Das geht so weit, dass man außerirdischen Besuchern des Planeten Erde verzeihen müsste, wenn sie glauben würden, dass wir Menschen nichts in den Mund nehmen, bevor es nicht mindestens zwei Blogs für gut befunden haben und es eine gute Bewertung bei TripAdvisor hat.

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Antonio Cascos Chamizos Food Guide ist aber ein bisschen anders. To Eat or to be Eaten—A Guide to Cannibalism [Deutsch: Essen oder Gegessen werden—ein Guide zu Kannibalismus] enthält, neben menschlichen Schlachtdiagrammen, Rezepte für menschliches Hackfleisch-Mango-Tartare und Menschenfilet mit Cidre.

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Modelle aus Plastilin, die Gerichte aus menschlichem Fleisch im A Guide to Cannibalism nachahmen.

Trotz des gruseligen Guides ist Chamizo nicht die Verkörperung deiner menschenfressenden Holocaust-Alpträume, sondern ein spanischer Absolvent der Kunsthochschule Oslo. Der Guide ist Teil seines Masterprojekts, zu dem auch Gefäße in der Form von menschlichen Körperteilen, die mit echten Haaren verziert sind, gehören.

Das Verstörendste an Chamizos Projekt ist eine bestimmte Seite des Guides, auf der Statistiken scheinbar den Kannibalismus rechtfertigen. Laut Guide to Cannibalism enthält der durchschnittlichen Menschenkörper „genügend Fleisch, um eine andere Person etwa einen Monat lang zu ernähren" und „genügend Eiweiß, um den Bedarf von 60 Erwachsenen zu decke".

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Falls dich das noch nicht überzeugt hat, wird im Guide außerdem angemerkt, dass es für Bürger „der Vereinigten Staaten und jedes europäischen Landes keine expliziten Gesetze, die den Verzehr von menschlichem Fleisch verbieten", gibt. Mord ist für zukünftige Kannibalen wahrscheinlich kein großes Ding.

Wir haben Chamizo kontaktiert, um mit ihm über die Komplexität rund um den Fleischkonsum—den menschlichen sowie tierischen—zu sprechen. SPOILER ALERT: Er ist kein fleischfressender Psychopath, sondern einfach nur ein netter Designer, der in Oslo lebt.

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MUNCHIES: Hallo Antonio. Erzähl uns, wie entstand die Idee zum Guide to Cannibalism? Antonio Cascos Chamizo: Ich war auf der Suche nach einer fiktiven Situation, die als Plattform funktionieren könnte, die die Struktur unserer kulturellen Vorurteileübersteigen würde. Durch die Schriften der deutschen Ärzte Johann Baptist von Spix und Karl Friedrich Philipp von Martius, die 1817 nach Südamerika gereist waren, stieß ich auf den Miraña-Stamm.

Als sie das erste Mal Mitglieder des Miraña-Stamms trafen, fragten sie den Stammesführer, wieso der Stamm Kannibalismus praktizierte. Dieser fand es komisch, dass manche Leute es ablehnen und sagte: Ihr Weißen esst keine Krokodile oder Affen, obwohl sie gut schmecken. Wenn ihr nicht so viele Schweine und Krabben hättet, würdet ihr auch Krokodile und Affen essen. Es ist alles eine Frage der Gewohnheit. Wenn ich einen Feind getötet habe, ist es besser, ihn zu essen, als seinen Körper zu verschwenden.

Das ist ein interessantes Zitat. Es hat mich wirklich bewegt und ich dachte mir, dass man mit einem Tabu der Esskultur, wie Kannibalismus es ist, die Grenzen des kulturellen Relativismus austesten könnte. Es fordert den Betrachter dazu heraus, zu definieren, was außerhalb des akzeptierten menschlichen Verhaltens liegt und entfacht eine Debatte darüber, was „ethisch" für uns bedeutet.

A human butchery diagram featured in To Eat or to be Eaten—A Guide to Cannibalism. Image courtesy Antonio Cascos Chamizo.

Die Bilder regen definitiv zum Nachdenken an. Da der Kannibalismus so ein Tabu in unserer Gesellschaft ist, lässt er dunkle und komplexere Emotionen hochkommen und vorgefasste Meinungen werden hinterfragt. Deshalb ist es das perfekte Thema, um das Interesse der Leute zu wecken.

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Bist du der Meinung, dass Menschen sich gegenseitig essen dürfen sollten? Alle Sitten sind eine Frage der Gewohnheit und ich kann nicht definieren, welches menschliche Verhalten angemessen ist und welches nicht. Aber in den meisten westlichen Ländern gibt es zumindest kein Gesetz, dass den Fleischkonsum explizit verbieten würde.

Der Guide beinhaltet auch Rezepte, um menschliches Fleisch zu kochen. Kannst du etwas darüber sagen? Das sind richtige, echte Rezepte. Ich habe mich mit Tierfleisch auseinandergesetzt, das ähnliche Eigenschaften wie die Schnitte des menschlichen Körpers, die in den Rezepten vorkommen, haben. Es lohnt sich, sie auszuprobieren!

Du hast auch Diagramme erstellt, die zeigen, wie man einen menschlichen Körper richtig schlachtet. Wie sah deine Recherche dazu aus? Ich nehme mal an, du hast nicht wirklich einen Menschen zerlegt. Nein, habe ich nicht. Es war recht einfach—ich habe einfach die Eigenschaften der verschiedenen Muskeln studiert und wie gut sie trainiert sind und das dann mit den bereits vorhandenen Schlachtdiagrammen von Tieren verglichen.

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„The Hairy Bowls"-Gefäße, die wie Körperteile aussehen.

Welche Tipps sind neben der menschlichen Schlachtung noch in deinem Guide zu finden? Ich gebe eine Empfehlung ab, welcher Wein am besten zu welchem Körperteil passen würde, und darüber, welche Körperteile nicht essbar sind und eher vermieden werden sollten, entweder weil sie nur wenig Nährwert haben oder weil sie schwer verdaulich sind oder weil sie neurodegenerative Erkrankungen hervorrufen können.

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Interessant. Teil des Projekts sind auch Gefäße, die wie Körperteile aussehen. Kannst du uns erklären, was es damit auf sich hat? „The Hairy Bowls" ist der Merchandise-Teil von A Guide to Cannibalism. Ich wollte, dass diese dreidimensionalen Objekte und der Guide nebeneinander existieren. Wenn das Gefäß aus dem Zusammenhang gezeigt wird, führt es den Betrachter zum gleichen Tabu und zur gleichen Abstoßung zurück.

Ich fand es auch interessanter, wenn die Objekte auf verschiedenen Ebenen funktionierten, nicht nur auf der visuellen. Indem der User die Gefäße verwendet, kann er sich auch auf haptischer Ebene das Tabu des Kannibalismus nachempfinden. Ich fing mit verschiedenem menschlichen Haar an und führte Tests mit Materialien durch, die von den Eigenschaften und der Konsistenz her dem menschlichen Fleisch ähnelten.

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Der Guide enthält auch Fakten, die den Kannibalismus als potentielle Lösung für globale Probleme wie die Überbevölkerung oder die Nahrungsmittelknappheit rechtfertigen. Hast du damit versucht, die Leute zu schocken und sie so anzusprechen? Genau, das ist meine Absicht. Das Projekt soll nicht Kannibalismus promoten, sondern auf globale Probleme wie Ressourcenmangel, Überbevölkerung und Probleme rund um unser Konsumverhalten aufmerksam machen. Ich wollte ein fiktives Szenario schaffen und eine „Was wäre wenn …?"-Frage in den Raum stellen, um Platz für Diskussionen und Reflexion zu schaffen. Das Projekt bietet einen alternativen Kontext, der uns die Gegenwart und die potentielle Zukunft hinterfragen lässt.

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Das sind wichtige Themen. Vielen Dank fürs Gespräch, Antonio. Nein, ich danke euch. Ich freue mich, dass ihr versteht, dass es bei meinem Projekt um Kommunikation und um Aktivismus geht und nicht darum, wirklich seinen Nachbarn zu essen!