Wie kann ein sensibler, feingeistiger Mensch, der sich auf die Schönheit der Mathematik beruft, solche groben Straftaten gutheißen und selbst vollziehen? Der Werdegang des Unabombers ist eine komplexe Geschichte von Radikalisierung und Vereinsamung—und sie erzählt viel über unser gespaltenes Verhältnis zum technischen Fortschritt.Doch sein Sendungsbewusstsein, mit dem er den Rest der Gesellschaft überzeugen wollte, wurde ihm nach Jahrzehnten auf der Flucht schließlich doch zum Verhängnis. Heute sitzt er im Hochsicherheitsgefängnis in Florida und dient Rechtsterroristen wie Anders Breivik als Inspirationsfigur.Als Baby entwickelte Ted eine besonders schlimme Form der Nesselsucht und wurde über mehrere Wochen in der Isolationsabteilung eines Krankenhauses behandelt—Kontakt zu seinen Eltern war verboten. Als er endlich wieder zu Hause war, nahm seine Mutter ein verändertes Kind in ihre Arme. Sie notierte in ihr Tagebuch, ihr Sohn sei „ziemlich unansprechbar nach dieser Erfahrung". Möglicherweise wurden hier die Grundsteine für Kazcyinskis Phobien gelegt. In der fünften Klasse wurde Ted ein IQ von 167 bescheinigt und er durfte die sechste und elfte Klasse überspringen. Er wird als sehr kluger, verletzlicher Junge beschrieben, der Angst vor Gebäuden hatte, lieber alleine spielte und mit sechzehn Jahren bereits in Harvard studierte.„Es gibt keine logische Rechtfertigung für Moral", schreibt Kaczynski in sein Tagebuch.
Vor dem Hintergrund der ungesehenen Schrecken des 2. Weltkriegs, die auch zu einem großen Teil durch den technologischen Fortschritt ermöglicht wurden (so wie die Bombe von Hiroshima oder die maschinelle Massenvernichtung der Juden durch die Nazis)—stieß Ted dort auf eine ganze Reihe extrem pessimistischer Lehren: Von Nietzsches „Gott ist tot" über Joseph Conrads „Wissenschaft ist der sakrosankte Fetisch". Manche Studenten werden sich bei der Lektüre solcher düsteren Zeilen gelangweilt unter dem Tisch eine Zigarette gedreht haben—auf andere mögen diese kraftvollen Werke eine grunderschütternde, radikalisierende Wirkung ausgeübt haben. „Es gibt keine logische Rechtfertigung für Moral", schreibt Kaczynski später in sein Tagebuch.„Wurde der Unabomber in Harvard geboren?"; fragte der Atlantic vor 16 Jahren provokant. Die Frage ist nicht unberechtigt. In Harvard studierte er nicht nur in einem vorherrschenden Klima der akademischen Technophobie, er nahm auch er an einer Serie extremer psychologischer Experimente teil, die ihn nachhaltig verändern sollten.Das Umbringen von Menschen seien „drastische Maßnahmen, aber leider nötig", erklärte der Terrorist.
Henry A. Murray leitete die heute als ethisch verwerflich geltenden Tests im Auftrag der CIA für das legendäre, geheime Projekt MKULTRA, in dessen Rahmen unter anderem Menschenversuche unter LSD-Einfluss durchgeführt wurden. Die Harvard-Versuchsreihe sollte ausloten, wie Menschen unter Stress reagieren. Murray setzte seine verkabelten Testsubjekte Kreuzverhören aus und griff sie auf mehreren Ebenen persönlich an—mal zielten Beleidigungen auf das Ego ab, mal auf die eigene Person, mal auf die eigenen Ideale und politischen Überzeugungen. In mehreren Briefen legte der sowieso schon einzelgängerische Kaczynski dar, wie sehr ihn diese Versuche verstört hatten.MKULTRA war erst der Anfang: Die grausamsten Versuche vom Menschen am Menschen
1969 hielt er es nicht mehr unter Menschen aus. Seinem Bruder David schrieb er, er wolle wie der Philosoph Henry David Thoreau von der Zivilisation in die Isolation fliehen, autark leben, isoliert und möglichst ohne die Annehmlichkeiten der modernen Welt. Genau wie Ted hatte sein Bruder David schon darüber nachgedacht, in die Wildnis zu fliehen. Doch während der acht Jahre jüngere David es bei Träumereien beließ, machte Ted im Alter von 27 Jahren Ernst.„Statt mir noch mehr Fähigkeiten für die Wildnis anzueignen, würde ich daran arbeiten, es dem System heimzuzahlen. Rache."
Vielleicht hätte Kaczynski dort weiterhin in seiner Hütte als harmloser Schrat gesessen, glücklich an Pfeil und Bogen gefeilt und nachts Thesen über die Schrecken der Industrialisierung zu Papier gebracht. Doch ein Leben in den USA abseits der Zivilisation funktionierte auch 1973 schon nicht mehr besonders gut. Ausgerechnet auf einem Gelände in Nähe seines Verschlags wurde Land entwickelt und schon bald fraßen sich Industriemaschinen durch die urwüchsige Idylle. Der Einsiedler fühlte sich in seinem Lebensentwurf bedroht und formte in seinen Schriften und seinem Gedankengebäude den ultimativen Feind: den „gesellschaftlichen Fortschritt und die Geißel der Technologie". Er begann, sich mit politischen Rechtfertigungen für Sabotageakte auseinanderzusetzen und manche gegen die Baugesellschaft von nebenan auch durchzuführen.Doch als er einmal zu seinem Lieblingsort floh, einem etwas mehr als zwei Tagesreisen entfernten Plateau mit einem Wasserfall und Hügeln, sollte er einen nachhaltigen Schock erleiden, der sein Leben veränderte und das manch anderer Menschen sogar beenden sollte: „Als ich dort ankam, musste ich feststellen, dass sie eine Straße direkt mitten durch gebaut hatten…", schrieb er in einem seiner vielen Briefe. „Du kannst dir nicht vorstellen, wie wütend ich war. Das war der Punkt, an dem ich entschieden habe: Statt mir noch mehr Fähigkeiten für die Wildnis anzueignen, würde ich daran arbeiten, es dem System heimzuzahlen. Rache."
Schnell befand er, dass Sabotageakte nicht ausreichen würde. Er begann, Bomben zu bauen. In eines seiner mehreren hundert Tagebücher notierte er in der ihm eigenen Mischung aus klarer Analyse und Kälte: „Ich beabsichtige, Menschen zu töten. Wenn ich damit Erfolg habe und geschnappt werde (nicht lebend, hoffe ich inständig!), wird es möglicherweise Spekulationen in den Nachrichtenmedien über meine Motive zum Töten geben (…) Sie werden sicher versuchen, meine Psyche zu analysieren und mich als „krank" darstellen. Diese mächtige Vorverurteilung sollte bei einer nachträglichen Analyse meiner Psyche möglichst in Betracht gezogen werden."„Ich beabsichtige, Menschen zu töten."
Das erste Unabomber-Paket erhielt der Materialwissenschaftler Buckley Crist an der Northwestern University. Auf auf dem Paket stand „Rücksendung", doch Crist erkannte seine Handschrift nicht darauf, wurde misstrauisch und übergab das Paket dem Sicherheitsdienst. Als der Mitarbeiter das Paket öffnete, explodierte es sofort und verletzte ihn an der Hand.Der mysteriöse Unabomber schien einfach nicht zu fassen—gleichzeitig war er geschwätzig und meldete sich immer wieder mit politischen Radikal-Forderungen zu Wort.
500 Agenten, 20.000 Hinweise, 200 Verdächtige: Es war die umfangreichste und aufwendigste Menschenjagd, die das FBI jemals übernommen hatte und einer der teuersten Fälle in der Geschichte der Behörde.
Das war der Durchbruch, auf den die Agenten so lange gehofft hatten.Am 3. April 1996 griff das FBI zu—mitten in der Wildnis zerrten sie einen verwahrlost aussehenden Mann zwischen zehntausenden Seiten Handgeschriebenem, primitiven Utensilien zum Bombenbau und selbstgebastelten Waffen aus dem Verschlag nahe Lincoln, den die Ermittler als mutmaßlichen Unabomber festnahmen und dank Davids und Lindas Tipp bald darauf als Kaczynski identifizieren konnten.Es war die umfangreichste und aufwendigste Verbrecherjagd, die das FBI jemals übernommen hatte und einer der teuersten Fälle in der Geschichte der Behörde. 500 Agenten wurden in den 17 Jahren, in denen Kaczynski sein Unwesen trieb, auf ihn angesetzt, doch es sollten die beiden renommiertesten Tageszeitungen der USA sein—die Washington Post und die New York Times— die als unfreiwillige Plattform schließlich zu seiner Ergreifung führten.Teds Familie versuchte, den Terroristen kurz vor Prozessbeginn strategisch durch längere Interviews in Sixty Minutes und der Washington Post in der Öffentlichkeit als verrückt darzustellen—das war Taktik, denn sie glaubten, nur eine ganze Reihe Anekdoten, die seine Unzurechnungsfähigkeit untermauern könnten, würde ihn vor der Todesstrafe retten. Er entging dem elektrischen Stuhl nur knapp—zuvor hatte der Angeklagte selbst versucht, seine Anwälte zu entlassen, weil sie für ihn auf geistige Unzurechnungsfähigkeit plädieren wollten. Kaczynski aber hielt sich und hält sich bis heute nicht für verrückt, bekannte sich letztlich aber doch zwei Jahre nach seiner Festnahme in Lincoln, Montana in mehreren Waffendelikten für schuldig, um nicht sterben zu müssen.Der Durchbruch, auf den das FBI 17 Jahre gewartet hatte, hing an einem winzigen Detail und einem großen Verrat.
Heute ist Kaczynski 74 Jahre alt und sitzt eine vierfach lebenslängliche Haftstrafe in einem Hochsicherheitsgefängnis in Florida ab. Seit seiner Verurteilung ist er keinesfalls von der Bildfläche verschwunden, sondern wird zu einer popkulturellen Ikone verklärt. Nicht nur hat er eine hingebungsvolle Fan-Community um sich geschart, die mit ihm schriftlich über Politik diskutiert, sondern führt auch ein „untypisches Gefängnisleben in einem untypischen Gefängnis (…) meistens zu viel zu tun als zu wenig", wie er einem Fan 2009 in einem Briefwechsel mitteilte.Als Trainingspartner suchte er sich ausgerechnet den Nazi-Bomber Timothy McVeigh aus, der 1995 einen schrecklichen Bombenanschlag auf Oklahoma City zu verantworten hatte. In Briefen an einige seiner vielen Tausend Fans beschreibt er den Rechtsradikalen als „sehr intelligent und freundlich". Jüngst wurde bekannt, dass er überlegt, sein Schweigen über seine Taten zu brechen, „unter der Voraussetzung, dass mich der Journalist NICHT für verrückt hält", wie er aus seiner Zelle verkündete.Neben akademischer Lektüre schreibt Kaczynski weiter Briefe, die der Verlag Feral House 2010 als Sammelband unter dem Titel „Technologische Versklavung" veröffentlichte—und kommuniziert rege mit der Außenwelt; handschriftlich, versteht sich.Der Öko-Terrorist als Popkultur-Ikone und freundlicher Briefeschreiber von nebenan?
Es mutet daher ironisch an, dass sein Besitz aus dem Verschlag, den er so lange sein Zuhause genannt hatte—nur etwa 60 Gegenstände, darunter Köcher, Waagen, Pfeile, und selbstgeschmiedete Werkzeuge— im Jahr 2011 an einem Ort versteigert wurden, den Kaczynski selbst bis heute meidet wie der Teufel das Weihwasser: im Internet. Seine paar Sachen erzielten analog zu der kultischen Verehrung ihres Besitzers Rekordpreise—immerhin kam ihr Erlös den Opfern zugute, die durch die Nagelbomben erblindeten oder Gliedmaßen verloren hatten.Auch andere Terroristen hat der Unabomber bis ins neue Jahrtausend hinein „inspiriert". Im gleichen Jahr, im Sommer 2011 erschoss der Rechtsradikale Anders Breivik auf der norwegischen Ferieninsel Utoya Dutzende Kinder und ihre Betreuer. Sein Pamphlet, das er davor veröffentlichte: Ein Plagiat des Unabomber-Manifests.Kaczynskis präzise formulierte und radikal fortschrittsfeindliche Ideen stoßen jedenfalls damals wie heute auf breites Interesse und großes Verständnis. „Sind wir nicht alle ein bisschen Unabomber?", schrieb der Wissenschaftsjournalist Robert Wright direkt nach Veröffentlichung des Manifests einfühlsam. Noch heute gibt es im Internet ganze Clubs, die sich dem Kult des Unabombers widmen: Das Unapack, redacted.com, das Unabomber Political Action Committee; auch manche deutsche Tierrechtler-Seiten verbreiten sein Pamphlet unkritisch weiter.Tatsächlich ist bis heute umstritten, ob Kaczynski an einer paranoiden Schizophrenie litt oder nicht und ob es sich bei dem „Manifest" des Unabomber um ein Zeugnis seiner geistigen Klarheit oder Vernebelung handelt. Doch waren seine Thesen tatsächlich so radikal oder fand der Unabomber ein so fasziniertes Publikum eher deshalb, weil die Ablehnung der modernen Welt, Zurückweisung der Moderne, extremer Pessimismus, Überforderung und der Wunsch nach Rückzug alles Ideen sind, die viele Menschen im Ansatz bis heute teilen—und die sich in der Zuwendung zu Verschwörungstheorien und Antiwissenschaftlichkeit jeden Tag in sozialen Medien ausdrücken und festgeschrieben werden?Zurück zu David Kaczynski und seiner Frau Linda: Wie hatten sie eigentlich die Schreibe ihres Verwandten auf Anhieb unzweifelhaft identifiziert? Der Unabomber verriet sich, neben den anti-fortschrittlichen Thesen über die Umwälzung der Gesellschaft und die technologiefeindliche Militanz, die das episch lange Manifest durchzog, durch ein vermeintlich unscheinbares Detail: „You can't eat your cake and have it, too"—denn eigentlich sagt man das in umgekehrter Reihenfolge, „You can't have your cake and eat it, too". Trotz seines Genius konnte sich Ted Kaczynski diese winzige linguistische Kleinigkeit nie merken.„Sind wir nicht alle ein bisschen Unabomber?", schrieb der Wissenschaftsjournalist Robert Wright direkt nach Veröffentlichung des Manifests einfühlsam