Popkultur

Wie Mariah Carey mein Leben als queerer Jugendlicher gerettet hat

Für die einen ist sie eine überhebliche Diva, für mich ist sie ein Rettungsanker: Mariah Carey half mir in der Schulzeit, mich vor "Schwuchtel"-Rufen und Gewalt zu schützen.
Mariah Carey steht 2018 bei einem Auftritt in Shanghai auf einer Bühne
Foto: IMAGO / imaginechina

Ein Junge schlägt mir auf dem Schulflur auf den Rucksack und ruft "Schwuchtel". Eine Freundin – oder zumindest dachte ich das – setzt sich in der Pause neben mich und sagt "Hey, Schwuli, alles klar?" Nach dem Unterricht gehe ich zu meinem Fahrrad und höre sie leise "schwule Sau" zischen.

Es ist Mitte der Nullerjahre und in der Mittelstufe ist die Beleidigung mein täglicher Begleiter. Egal, wo ich in meiner Heimat, dem beschaulichen Drensteinfurt, hingehe – selbst nach der Schule –, bin ich stets darauf vorbereitet, in irgendeiner Form angegriffen zu werden. Ich habe versucht mich zu wehren. Es bringt nichts. Sie wollen nicht aufhören. Also flüchte ich.

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Ich flüchte zu einer Person, die mich ebenfalls stets begleitet und mir ins Ohr flüstert: Mariah Carey. Für andere ist sie die Frau in den zu engen Kleidern, die Queen of Christmas, die Frau mit pfeifenden Tönen. Für mich ist sie die Frau, die mich rettet und mir Zuflucht gewährt.

Mariah ist für alle da

Mariah begleitet mich als Teeanger auf meinem MP3-Player und heute auf meinem Smartphone überall hin. Wir meistern Krisen, gehen durch Beziehungen und feiern Erfolge zusammen. Und darum soll es in diesem Text gehen: Wieso popkulturelle Ikonen wie Mariah für marginalisierte Menschen wie mich so wichtig sind.

Mariah wurde 1969 auf Long Island, New York geboren. Ihre Mutter ist irischer Abstammung und arbeitete als Opernsängerin, ihr Vater war ein Luftfahrttechniker mit afroamerikanischen und venezolanisch-amerikanischen Wurzeln. Ihre Kindheit war geprägt von Ausgrenzung in der Schule und einer dysfunktionalen Familie, wie Mariah in ihren 2020 erschienen Memoiren The Meaning of Mariah Carey schreibt: 

Sie sei für die Weißen zu Schwarz und für die Schwarzen zu Weiß gewesen. Sie sei beschimpft und ausgegrenzt worden. Ihre Eltern trennten sich, als Mariah drei Jahre alt war. Ihre Mutter sei streng und gemein gewesen, soll Dinge gesagt haben wie: "Du kannst höchstens darauf hoffen, eines Tages eine halb so gute Sängerin zu werden, wie ich sie bin." Als Kind habe sich ihre Mutter kaum um sie gekümmert, sei später neidisch auf ihre Karriere gewesen. Mariahs Schwester verfiel früh den Drogen, soll Mariah als Zwölfjährige bei Zuhältern vorgestellt, ihr Verbrennungen zugefügt und Drogen angeboten haben. Ihr Bruder sowie ihr Vater sollen gewalttätig gewesen sein. Mariah war durch all diese Faktoren eine Außenseiterin, genau wie ich.

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"Wer ist die Bitch, die da so hoch singt?"

Und dann sind da die Erfolge, die Mariah feiern konnte – als Triumph über diese traurige Kindheit: 19 Nummer-eins-Hits in den USA, über 230 Millionen verkaufte Alben, sie gilt als eine der erfolgreichsten Sängerinnen aller Zeiten. Sie schreibt und produziert die meisten ihrer Songs selbst. Ihre Stimme schafft fünf Oktaven. Kaum eine andere steigt in der Popgeschichte in die Höhen und Tiefen, in die sich Mariah begibt – in ihrer Karriere, aber auch im Privaten.

Ich entdeckte Mariah, als ich etwa zwölf Jahre alt war. Ich hörte den Song "When You Believe" mit Whitney Houston auf einer meiner unzähligen Spazierrunden, als ich nach der Schule mal wieder allein war und dachte: "Wer ist die Bitch, die da so hoch singt?" Meine Antipathie verwandelte sich schnell in Bewunderung. Mariah war genau die, die ich als ausgegrenzter Jugendlicher gebraucht hatte. Sie sang, was ich hören musste: Es können Wunder geschehen, wenn du nur glaubst ("Theeerree can bee miiiracles, wheen youuu beliiieevee"). Als ich mich genauer mit ihrem Leben befasste, fand ich dieses Versprechen: Ein anderes Leben, als mein jetziges, ist möglich. Es gibt einen Ausweg.

Da setzte ich mir ein Ziel: Ich befreie mich von den Beleidigungen und suche mir etwas, in dem ich erfolgreich bin. Mit 14 Jahren fing ich durch Zufall als freier Mitarbeiter bei großen Tageszeitungen an. Die Arbeit gab mir die Möglichkeit, mich auszudrücken und mir ein Stück Freiheit zu kaufen. Ich trug immer neue Klamotten, hatte unendlich viele Paar Sneaker zu Hause stehen. Ich stellte mich durch meine Arbeit und den materiellen Erfolg – damals definierte ich das so – über die, die sich zuvor über mich gestellt hatten und zeigte: Ich bin besser als ihr. Die Beleidigungen verloren scheinbar ihre Wirkung.

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Songs wie "Hero", "Fly Like A Bird", "Close My Eyes", "I Wish You Well" und "The Art Of Letting Go" wurden zum Soundtrack meines Lebens. Ja, das ist eine Floskel, aber sie trifft es einfach perfekt. Egal, ob in der Schule, später im Studium oder heute in der Arbeitswelt. Ich finde in Mariahs Musik Zuflucht und Hoffnung.

Mariah Carey legt ihre Hand auf meine Schulter

Und dann steht sie auf einmal vor mir: Am 13. April 2016 gehe ich dank der Zeitung, für die ich schreibe, nach Mariahs Konzert in der Kölner Lanxess-Arena ins Backstage. Ich bin 22 Jahre alt und aufgeregt wie ein Zwölfjähriger. Graue Vorhänge verdecken die Wände, Kerzen verströmen einen dezenten Duft, Mariahs Musik läuft leise im Hintergrund. In diesem Setting steht nonchalant die Frau, deren Musik ich seit knapp einem Jahrzehnt vergötterte, deren Songs ich auswendig mitsingen kann, deren Biografie ich besser kenne als meine eigene. Mein erster Gedanke: Die ist ja wirklich nur ein Mensch. Die gottgleiche Superikone wird auf einmal greifbar.

Mariah Carey und der Autor

Der schockgefrohrene Autor und Mariah Carey bei einer Backstagebegegnung 2016 in Köln | Foto: Privat

Und dann redet sie auch noch. Mariah redet! Mit mir! Einfach so: "Oh, look at him! He's so nice and tall", sagt sie, die echte Mariah Carey, als ich den Raum betrete. Ich bin aufgeregt, ich schwitze, oh mein Gott, oh mein Gott. Also sage ich einfach mal: nichts.

"Hey, how you doin'?", fragt sie mich.
"Hey, how you doin'?", stammle ich zurück.
"I'm good, how are you?", fragt mich Mariah Carey erneut.

Dabei legt sie ihre Hand auf meine rechte Schulter und ich schwöre mir innerlich, sie nie wieder zu waschen. Klick, klick, der Fotograf macht zwei Bilder. Und dann ist alles vorbei. Anstatt noch ein paar Minuten mit Mariah zu plaudern, verlasse ich schnurstracks den Raum. Und bin erleichtert: Ich habe den besten Moment meines Fan-Lebens überstanden, ohne umzufallen, mich zu übergeben oder zu kreischen. Egal, welchen Promi ich in meiner Karriere danach interviewte, ich war nie wieder derart aufgeregt.

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Menschen, die zeigen: Es wird besser

Mariah ist für mich, was Lil Nas X, Kim Petras und Sam Smith heute für queere Jugendliche sind. Damals gab es bei weitem nicht so viele queere Menschen in der Öffentlichkeit – höchstens Olivia Jones und Dirk Bach, die meinem Erleben als Teenager so nah kamen, wie Franziska Giffey einem sympathisch-authentischen Auftreten. Die jüngeren Generationen haben heute das Glück, dass ihnen Social Media und Popkultur etliche Vorbilder und damit auch Identifikationsfiguren servieren. In Zeiten, in denen US-Staaten wie Tennessee die Auftritte von Drag Queens verbieten, ist diese Sichtbarkeit besonders wichtig.

Queere Menschen wie ich brauchen in einer heteronormativen Welt dringend Identifikationsfiguren, um unsere Persönlichkeiten zu bilden. Und um in schwierigen Zeiten zu sehen, dass es besser wird. Sie setzen der Queerfeindlichkeit ein schillerndes Stoppzeichen entgegen und sagen: Wir sind hier und wir haben das Recht gesehen zu werden. Als Teenager gab es in meinem Umfeld niemanden, der mir diese positive, selbstbewusste Haltung vorgelebt hätte. Also wand ich mich an Mariah Carey. Sie ist zwar eine heterosexuelle cis Frau, aber ihre Erfahrungen gleichen so sehr meinen eigenen, dass ich mich damit identifizieren kann – bis zum heutigen Tag.

Aber auch diese Erkenntnis ist wichtig: Ich kann heute ohne Mariah leben. Sie war lange nicht nur mein Rettungsanker, sondern auch mein Bewältigungsmechanismus. Ich versteckte mich hinter ihr, bildete ähnliche Allüren, brauchte Erfolg und materielle Dinge, um mein bis heute geplagtes Selbstwertgefühl nicht zu spüren. In mir ist immer noch der Teenager, den die anderen in der Schule beleidigt haben und der nicht nach Hause wollte, weil dort, gelinde gesagt, die Scheiße am Brennen war.

Ich weiß heute jedoch, dass äußere Einflüsse mir diese negativen Gefühle nicht nehmen können und dass ich mich nicht hinter Mariah verstecken muss. Gegen einen “Schwuchtel”-Ruf wehre ich mich heute und stelle die Person zur Rede. Ich habe gelernt, auf meinen eigenen Beinen zu stehen.

Die Musik von Mariah Carey und ihre fabelhafte Welt sind immer da, wenn ich sie brauche. Wie fanatische Fußballfans bei ihrem Verein Zuflucht und Gemeinschaft finden, finde ich dieses Gefühl der Zugehörigkeit bei Mariah – das, was mir als Kind und Jugendlicher gefehlt hat. Mariah, you’ll always be my baby.

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