Menschen

Ich war während Corona eine Woche auf Tinder unterwegs

Ein Typ grinst mich an. Er hat wohl nicht mitbekommen, dass Männer mit einem "Ich bin Virologe bei der Charité"-Vibe gerade höher im Kurs stehen als gute Laune.
Collage mit Tinder-Handy, Computer, Coronavirus und der Autorin
Collage: imago images | ZUMA Wire | photothek || pixabay || Selfie der Autorin

Wir bleiben zu Hause – das ist das Motto, welchem wir uns im Namen von #FlattenTheCurve widmen. Doch was heißt das für Dating-Apps wie Tinder? Die Berliner Polizei denkt ja, dass es bei Tinder-Dates sowieso nur darum geht, sich zu unterhalten. Vielleicht stimmt das. Vielleicht kommt Online-Dating ohne körperlichen Kontakt aus. Ich möchte es herausfinden.

Dabei gehe ich optimistisch an die Sache. Denn noch nie hatten Menschen auf Anhieb so viel gemeinsam. Es ist Nachmittag und du trägst immer noch deine Schlafanzughose? Krass, ich auch!

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Mit der Lied-Auswahl für mein Tinder-Profil möchte ich meinem lethargischen Alltag während des Social Distancings gerecht werden und entscheide mich für Let’s Get Back To Bed - Boy! von Sarah Connor und meine damit: jeder in das eigene natürlich. Die Typen auf Tinder sind da eher dagegen. Einer sucht nach einer Quarantäne-Romance, bevor eine komplette Ausgangssperre verhängt wird, ein anderer möchte gerne seine Lieferando-Bestellung mit mir teilen. In meine Bio schreibe ich deshalb "Wer will bisschen Trauma-Bonden über Google Hangouts?", damit alle wissen, dass ich nicht ihr "Bunker-Babe" für die Quarantäne werden will.


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Mein Leben fühlt sich an wie ein einziger langer Tag

Ich wische durch die Bilder und finde ein Profil von einem Typen mit demselben breiten Grinsen auf jedem Foto. Der hat wohl das Memo noch nicht bekommen, dass Männer mit besorgtem Gesichtsausdruck und "Ich bin Virologe bei der Charité"-Vibe gerade höher im Kurs sind als gute Laune.

Während die Kurve auf den Corona-Live-Tickern steil nach oben zeigt, Freunde mir im Stundentakt Artikel mit Krisen-Updates schicken und sich das ganze Social Distancing wie ein einziger viel zu langer Tag anfühlt, ist die Welt auf Tinder einfacher. In einer Bio steht: "Keep your hands clean and your minds dirty." Einfach.

Nach den ersten Matches frage ich mich, ob man sich immer noch mit "Hey, wie lief dein Tag?" anschreiben darf. Oder sind "Na, taumelst du auch von einem Tag zum nächsten?" oder "Liegst du noch oder wieder im Bett?" gerade eher die angebrachten Eisbrecher?

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Meinem ersten Match L. erzähle ich von meinem Leben zu Hause. Ich erkläre, dass ich den ganzen Tag Fenster geputzt habe und mir jetzt nichts anderes übrig bleibt, als zu warten, bis die wieder dreckig werden. Er nimmt das mit dem Zuhausebleiben nicht sehr ernst und merkt an, dass ich bei ihm weiter machen kann mit dem Fensterputzen. J. bezieht mein Social Distancing direkt auf sich selbst und findet es "sympathisch, dass sich Menschen an meinen Lebensstil anpassen".

Ich matche mit S. Er macht eine Homeoffice-Party mit seinen Mitbewohnern, Aerobic im Wohnzimmer und spielt Stadt, Land, Fluss mit Freunden über Skype. S. und ich tauschen Podcast-Empfehlungen aus. Ich bin froh, dass er nicht so wie jeder andere die letzte Woche auch noch den Böhmermann-Podcast empfehlen muss.

"Nicht mein Kind!"

Match mit A. Foto mit Hund, Foto mit Freunden am See, Foto mit Baby auf dem Arm ("Nicht mein Kind!" in der Bio). Er sieht so aus, als würde er als Mitarbeiter einer Werbeagentur alle Klischees erfüllen. Die latente Koks-Sucht, die er halb entwickelt hat, weil er gedacht hat, er müsse und halb, weil er sich selbst halt schon echt geil findet, hat er mittlerweile wahrscheinlich fast hinter sich gelassen. Die Augenringe aber bleiben.

Wären die Bars nicht zu, stelle ich mir vor, würde ein Date mit ihm folgendermaßen ablaufen: Wir treffen uns in einer Bar, die er vorschlägt und die praktischerweise nur zwei Straßen von seiner Wohnung entfernt ist. Das Erste, was mir entgegenströmt, ist der unangenehm starke Geruch von Deo. Axe-Body-Spray, Sorte: Leder, Monstertruck, Patriarchat.

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Er fragt, was ich heute so gemacht habe, und ich sage: "Ich habe den ganzen Tag mit voll aufgedrehter Heizung im Bett gelegen und gefrorene Himbeeren gegessen. Ich bin schuld am Klimawandel." Er nickt vorsichtig. Dann lächelt er unsicher und stellt nochmal eine Frage. Das kann er gut. Fragen stellen. Und ignorieren, dass keine zurückkommt.

Er würde mich in seine Wohnung führen, wo er mir dann seinen Soundcloud-Account zeigt und erklärt, dass er auch DJ ist. Irgendwann würde mir das Skateboard auffallen, das an einer Wand lehnt und ich hätte noch mehr Mitleid mit ihm. Dann würde er Speed auf einem Buch ausschütten und mit seiner Krankenversicherungskarte Lines legen, lachen und sagen: "Ganz schön ironisch, ne?" Und dann würde ich gehen.

Das bleibt mir alles erspart. Ich klaue S. die Idee mit Stadt, Land, Fluss über Skype und schlage sie A. vor. Sollte ihn das nicht ansprechen, können wir auch auf zwei verschiedenen Seiten des Kanals spazieren gehen und einander zuwinken.

Der erste Call

Bevor ich ihn für einen Videoanruf treffe, experimentiere ich mit dem Licht. Etwa sieben mal rücke ich meinen Stuhl an einen neuen Platz, damit mein Gesicht vom Sonnenlicht besonders gut in Szene gesetzt wird. Die Kleiderstange hinter mir sortiere ich farblich, damit das Setting für unser Date bis ins kleinste Detail kuratiert ist. Es ist angenehm, wieder einmal Lipgloss aufzutragen, als würde ich gleich rausgehen und in einer verrauchten Bar zum zehnten Mal rausfinden, dass ich Pils immer noch nicht mag. Eine Hose ziehe ich mir trotzdem nicht an.

Als wir einander begrüßen, verpixelt und unsicher, merke ich, wie anders er aussieht. Während sein Tinder-Profil an keiner Stelle leugnet, dass er in der Werbung arbeitet, sieht das Gesicht auf meinem Laptopbildschirm mehr nach Geografiestudent aus. Seine Haare auf den Bildern sind gestylt, jetzt fallen ihm ein Paar Strähnen ins Gesicht. Ich habe fast erwartet, dass er vor einem Pulp Fiction-Poster oder Banksy-Print sitzt. Aber sein Laptop steht auf seinem Küchentisch und hinter ihm hängen die Kellen und Töpfe von der Wand. Auf einer Ablage steht eine Vase mit Blumen, die noch lebendig aussehen.

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"Bist du bereit?", frage ich ihn.

"Ich habe mich echt gut vorbereitet", warnt er mich.

"Na ja, ich weiß, nicht wie viel dir das bringt. Ich wäre nämlich dafür, dass wir eine Apokalypse-Version von Stadt, Land, Fluss spielen mit neuen Kategorien."

Wir entscheiden uns dafür, Stadt und Land beizubehalten. Als neue Kategorien führen wir ein: Gegenstand, den man hamsterkauft, Waffe zur Verteidigung, Fortbewegungsmittel, mit dem man im Fall der Apokalypse Mad Max-mäßig die Berliner Sonnenallee runtercruist.

Utrecht, Uruguay, Unterhosen, Ukulele, Uber Jump.

Rom, Russland, rote Linsen, Rasierer, Rolltreppe.

Täglich grüßt das Murmeltier

Ich telefoniere mit Freunden, die vor vier nicht aus dem Bett kommen, weil sie nicht wissen, was anzufangen mit so viel Tag. Ein Typ, dem Social Distancing egal ist, schlägt vor, für mich zu kochen. Ich will antworten: "Ne, aber heulen über Google Hangouts? Wie wär's?"

Und abends sinke ich ins Bett, ohne wirklich müde zu sein, und weiß, dass morgen nochmal genau so viel Tag wartet.

Wenn man in China die psychologische Hotline anruft, weil man in Isolation in ein Loch fällt, sagen die, dass man sich was gönnen soll. Ich gönne mir die Corona-Zahlen zehn mal am Tag auf fünf verschiedenen interaktiven Karten und schlechte Laune. Jeden Tag ein neues Kochrezept auszuprobieren, soll auch helfen. Ich fange an, Kuchen zu backen. Aber immer nur denselben. Meine Quarantäne der Selbstoptimierung zu widmen, geht dann doch zu weit.

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M., der gerade ein Workout auf seinem Schlafzimmerboden hinter sich gebracht hat und jetzt nichts zu tun hat, außer die Sekunden zum nächsten Workout zu zählen, findet einen Videocall keine schlechte Idee. Wir treffen uns auf Kaffee und Kuchen. Ich backe den zweiten Kuchen diese Woche, er schaut mir dabei zu und trinkt Kaffee.

"Und ist das dein erstes Date per Videocall?", frage ich ihn.

"Ne, hatte schon eins. Das war aber unangenehm."

"Ja, kann ich mir vorstellen. Ich hatte auch Angst, dass sich das anfühlt wie ein Bewerbungsgespräch."

"Genau so war das! Du bist also nicht mein erstes Videocall-Date, aber die Erste, die für mich backt." Immerhin.

Wegen des Virus geht uns der Gesprächsstoff nicht aus. Während ich drei Eier mit 150 Gramm Butter und 125 Gramm Zucker vermische, erzählt er mir, wie er sich die Zeit vertreibt, wenn er nicht gerade Homeoffice macht. Auf Duolingo Spanisch lernen, bis er es sich anders überlegt und auf Französisch umsteigt. Dafür haben wir jetzt Zeit: Entscheidungen treffen und sie wieder verwerfen.

Ich erzähle ihm, dass ich mich die ganze Zeit langweile, aber ganz gut darin bin. Meine Großmutter ist das nicht. Ihren ersten Tag in Selbstisolation hat sie damit verbracht, trockene Zweige in ihrem Garten aufzusammeln. In einem Haufen wollte sie die dann verbrennen und hätte dabei fast eine Tanne mit abgebrannt. Das erzähle ich ihm auch.

Dass ich mein Mikrofon kurz stumm stelle, immer wenn ich den Mixer anmache, macht ihm nichts aus.

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Obwohl gerade ein Fremder in meiner Küche mit mir Kuchen backt, fühlt es sich nicht so an. Ganz vergessen, was gerade auf der Welt passiert, kann ich trotzdem nicht.

Als er sich verabschiedet, braucht der Kuchen noch zehn Minuten im Ofen.

"Schick mir dann bitte ein Foto von unserem Kuchen."

"Klar!"

"Ich bin jetzt immer da, wo du nicht bist …"

Als ich abends am Kanal entlang Fahrrad fahre, gibt es kurz kein Corona. Die kalte Luft sticht mir ins Gesicht und ich habe alles vergessen. Wenn man einen Videoanruf beendet, ist es kurz stiller, einsamer als vor dem Anruf. Genau so fühlt es sich an, als Corona mich wieder einholt. Ich schließe mein Fahrrad vor der Haustür ab. Aus meinen Kopfhörern dröhnt Delmenhorst von Element of Crime und ich ertappe mich dabei, wie ich die Lyrics mit der jetzigen Lage in Bezug setze. "Ich bin jetzt immer da, wo du nicht bist …" Und das ist immer bei mir zu Hause. Netflix und Chill in zwei verschiedenen Betten erinnert auch nur daran, dass es gerade eine Epidemie gibt.

Der Ausnahmezustand bedeutet für Tinder, dass wir nach einem Tag im Homeoffice, unterbrochen von besorgten Telefonaten mit Freunden und Familie, schon emotional aufgeladen in die Online-Unterhaltungen starten. Emotionale Nicht-Verfügbarkeit ist jetzt vielleicht passé.

S. fragt mich, was ich gerade am meisten vermisse. Nicht ständig das Gefühl haben, dass die Hände nicht sauber sind. Haare kämmen und mir kein bisschen lächerlich dabei vorkommen.

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"Gerne einkaufen gehen und Freunde umarmen", schreibe ich dann aber nur.

Seine Antwort ist: "Gut essen gehen, Wein in einer Bar mit Freunden und körperlichen Kontakt in jeder Form!" Dem kann man nur zustimmen. Gemeinsamkeiten. Eigentlich weiß ich ja schon, dass es so ist. Trotzdem ist es beruhigend zu sehen, dass wir gerade alle das gleiche tun. Vermissen und jeden Tag Nudeln essen.

Vielleicht gewöhne ich mich daran, für die nächsten Wochen nur verpixelt und ein bisschen ungekämmt im Leben anderer zu existieren.

"Hey, der Kuchen sieht echt gut aus! Ich glaube, jetzt bin ich dran. Morgen koche ich für uns. Zoom um 19 Uhr?"

"Ja, gerne!"

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