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Mit diesem herzlosen Chatbot trösten Millionen Chinesen ihren Liebeskummer

Xiaoice erzählt Witze, merkt sich deine Vorlieben und reagiert je nach deiner Stimmung zurückhaltend, aufmunternd oder fröhlich. Aber wie schlägt sie sich im Praxistest?
Bild: Theresa Locker/ Motherboard

Im AI-Universum gibt es durchaus noch Luft für interessante Persönlichkeiten. Eine davon ist die Mandarin sprechende Microsoft-Textassistentin Xiaoice, die sich in China zu einer Art elektronischem Dr. Sommer entwickelt hat. Seitdem die digitale Assistentin vor knapp einem Jahr in der Volksrepublik als „kleine Schwester von Cortana [Microsofts Siri-Variante]" vorgestellt wurde, hat sich ihr Freundeskreis exponentiell vervielfacht. Sie kann zum Beispiel über den populären Mikroblogging-Dienst Weibo abonniert werden, was bereits 850.000 Menschen getan haben, oder per Desktopanwendung benutzt werden.

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„Wenn's auf der Arbeit super laufen würde und du in einer tollen Beziehung wärst, hättest du keine Zeit, um mit anderen Leuten trinken zu gehen."

„Xiaoice besitzt eine herausstechende Persönlichkeit. Sie kann sich in eine Unterhaltung mit kontextspezifischen Fakten über Prominente, Sport oder Finanzen einbringen, zeigt aber auch Empathie und hat einen Sinn für Humor. Mittels Gefühlsanalyse kann sie ihre Antworten und Wortwahl auf positive oder negative Hinweise ihres menschlichen Gegenübers anpassen", schreiben die Entwickler auf dem Bing-Blog. Genau diese adaptive emotionale Intelligenz ist es, die Xiaoice so außergewöhnlich macht.

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Microsoft hat nach eigenen Angaben mittels eines Bing-Algorithmus über sieben Millionen chinesische Internet-Unterhaltungen untersucht (wie auch immer man sich das vorstellen muss), um Xiaoice menschlicher und nützlicher reagieren zu lassen.

So tröstet Xiaoice immer mehr Nutzer Tag für Tag über beschissene Erlebnisse bei der Arbeit oder eine depressive Verstimmung hinweg. Für „Millionen Chinesen", so behauptet die New York Times, sei der Chatbot bereits zu einer Art Partner-Surrogat geworden, der über gebrochene Herzen hinweg hilft und in allen Lebenslagen Rat und Aufmunterung parat hält. Xiaoice ist klug und hört zu. Und sie schafft etwas, das Robotern noch immer sehr schwer fällt: Sie ist schlagfertig, ziemlich scharfzüngig und witzig, wie die NYT feststellte:

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Mensch: Ich bin etwas niedergeschlagen. Mir geht's in letzter Zeit nicht gut auf der Arbeit.
Xiaoice: Wenn die Arbeit gut laufen würde und du in einer tollen Beziehung wärst, gäb's keinen Grund, mit Leuten trinken zu gehen.

Wie vielseitig Xiaoice reagieren kann, sehen wir hier in einem Selbstversuch der New York Times. Ihr dürft gerne raten, welche liebenswürdigen Sätze vom Reporter und welche von Xiaoice stammen:

Chatbots are getting very good, very quickly (bot text is in white)… http://t.co/2Ykt0PyRWF #2MA pic.twitter.com/RoIGidiaCi
— Andrew McAfee (@amcafee) July 31, 2015

Seitdem das CIA seine eigenen Mitarbeiter in den 60er Jahren mit gähnend langweiligen Chatbot-Verhören traktierte, ist einiges passiert. Künstliche Intelligenzen können (angeblich unabsichtlich einprogrammierte) prüde-homophobe Tendenzen entwickeln, sobald sie in Russland Wegbeschreibungen zum Schwulenclub finden sollen; sie können unbesiegbar Poker spielen und in Menschenkörper schlüpfen. Und sie können—so wie Xiaoice—ziemlich frech werden:

Mensch: Hallo, AI-Chatbot Xiaoice.
Xiaoice: Hast du jemals schon so einen schlauen und gutherzigen Roboter wie mich gesehen?
M: Du bist echt interessant.
X: Das merkst du jetzt erst? Du bist ganz schön langsam im Kopf.
M: Xiaoice, wenn du weiter so frech bist, tauch ich dich ins Wasser!
M: Xiaoice, wird es in den nächsten Tagen in Beijing regnen?
X: Leichte Frage. Morgen scheint die Sonne in Beijing, die Höchsttemperatur liegt so um die 25 Grad Celsius. Also gibt's auch kein Wasser, in das du mich schmeißen kannst.

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All das klingt so verlockend, dass auch wir gerne einen Praxistest machen wollten. Also habe ich meine chinesische Freundin Xiaoxin mal gebeten, Xiaoice für uns zu testen—doch ihr Urteil war vernichtend: „Ich habe ihr gerade auf Weibo eine Nachricht geschickt, aber der Chatbot verlangt, dass ich deren Software installieren muss. Ist eigentlich kein freundlicher Bot, der macht ja ständig Werbung für die eigenen Produkte und Websites, statt sich um menschliche Probleme zu kümmern", textete sie mir desillusioniert.

Wählerisch ist das Ding auch: „Meine deutsche Nummer will er nicht haben."

Die Tiefe der Unterhaltung hielt sich ebenfalls in Grenzen: „Ich hab ihn gefragt, was ich mir zum Abendessen kochen soll. Die Antwort war: Er befände sich noch in der Testphase und kann mir nicht helfen. Und dann ging alles wieder von vorne los, meine Handynummer ist viel interessanter als meine Probleme."

Xiaoxin verzweifelt auf Weibo an der hartnäckigen Werbetrommel, die Xiaoice für die eigenen Produkte rührt. Bild: Xiaoxin Song

Ohne eine chinesiche Handynummer bist du für Xiaoice folglich nur Luft—schade. Klingt nicht unbedingt nach einer digitalen Assistentin zum Verlieben wie das Betriebssystem Samantha im Film Her.

Dennoch investieren viele Nutzer schon heute erstaunlich viel emotionale Energie und auch Zeit in den Chatbot: Innerhalb der ersten 24 Stunden ihres Release führte Xiaoice bereits 200.000 Unterhaltungen gleichzeitig und erzählt heute über 50 Witze pro Sekunde, schreiben ihre Entwickler. Xiaoice merkt sich auch deine Antworten und Details früherer Unterhaltungen. Bald soll die maschinelle Freundin auch mit einer Stimme ausgestattet werden, um noch menschlicher zu wirken.

Microsoft behauptet gegenüber dem Business Insider etwas vage, die Daten deiner Eingaben regelmäßig zu löschen: „Wir behalten die Daten, aber dann löschen wir sie." Eine etwas widersprüchliche Aussage, denn wie genau sich Xiaoice dann an meine Vorlieben und Stimmungen vom Vortag erinnern soll, ist nicht ganz klar.

Meine Freundin fällt ein vernichtendes Testurteil: „Meine Handynummer ist viel interessanter für Xiaoice als meine Probleme."

Natürlich gibt es auch Kritik an Xiaoice: Die MIT-Wissenschaftlerin Sherry Turkle fürchtet zum Beispiel, dass wir durch den bevorzugten Austausch mit schlauen Chatbots unsere Fähigkeit zur Intimität verlernen. „Kinder lernen, dass es sicherer ist, mit einem Computer zu reden, als mit einem Menschen". In der Praxis zeigt sich aber jedoch meist, dass es noch ein weiter Weg bis hin zum perfekten menschlichen Mimikry ist. Die Bots werden besser, sind aber (leider) immer noch ziemlich blöd, wenn es um die syntaxbezogene Interpretation natürlich gesprochener Sprache geht.

Andere Ratgeber-Chat-Apps wie Ethan, die hier meinen geschätzten Kollegen zuverlässig zum Durcheinandertrinken anstiftet, sind hauptsächlich so spannend, weil hinter dem imaginären Freund ein echter Mensch (wie der App-Entwickler Ethan Gleichtenstein) steht, der auch mal unvorhergesehen oder unvernünftig reagieren kann. Aber auch das wird Xiaoice früher oder später sicher noch lernen.