4chan-Anons haben gerade die Petition zum Brexit-Referendum getrollt
Kim Il Sung ist für ein zweites Referendum | Bild: 4chan /pol/

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4chan-Anons haben gerade die Petition zum Brexit-Referendum getrollt

Wie ein paar Prankster eine hochoffizielle britische Parlaments-Petition kapern und sogar die BBC darauf reinfällt.

Dass London, Schottland und Nordirland sowie knapp zwei Drittel aller jungen Leute alles andere als begeistert über den Ausgang des Brexit-Referendums sind, ist bekannt. Trotzdem hatte es ziemlich hohe Wellen geschlagen, als sich die Fassungslosigkeit über das Ergebnis offenbar auch in einer Online-Petition auf der Plattform des britischen Parlaments niederschlug. Darin fordern nämlich Millionen Unterzeichner, nochmal über den Verbleib in der EU abzustimmen. Kurz nachdem die Ergebnisse der Abstimmung am vergangenen Freitag bekannt gegeben worden waren, schoss die Anzahl der Unterzeichner von 22 auf über 3,6 Millionen Stimmen hoch.

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Damit hat sie bei weitem die meisten Unterschriften aller Petitionen der britischen House of Commons-Website erreicht und die 100.000 Stimmen, die benötigt werden, damit das Parlament eine Debatte darüber „in Betracht zieht", um das 30-fache überschritten.

Klar, dass nicht nur britische Medien wie die BBC ausführlich über die Petition und ihre Millionen Unterzeichner berichten—dem Mirror ist die Meldung von „ZWEI Millionen Menschen" sogar die Titelseite wert, auch deutsche Medien wie der Tagesspiegel staunen über die Forderung: „Die Zahl der Unterstützer steigt und steigt."

Das Problem daran: Der massive Zuspruch zur Abstimmung ist ein riesiger Hoax, hinter dem unsere liebsten Scherzkekse von 4chan stecken. Wie ein hämischer Artikel auf Heatstreet beleuchtet, haben die Chads und Stacys aus dem Board „Politically Incorrect" (/pol/) die Petition nämlich getrollt—und zwar mit Skripten, die hunderttausende Stimmen automatisch fälschen und mit beliebigen Quatsch-Adressen aus der ganzen Welt füttern.

Es liegt in der Natur der 4chan-Community, dass es unmöglich ist, von „4chan" als einer geschlossenen Einheit zu sprechen: Jeder und jede, die sich auf dem anonymen Messageboard anmeldet, wird zum Anon und kann dort Screenshots posten und Dinge behaupten—so wie, selbst ein Skript zur Petitionsfälschung eingesetzt zu haben. Das anarchische Board ist nicht nur berüchtigt für zahlreiche Streiche, gemeinschaftliche DDoS-Attacken, Photoshop-Manipulationen und überzogene Witze, die sich aus der Gruppendynamik heraus verselbstständigt haben, sondern auch die Geburtsstätte der anonymen Hacker-Bewegung Anonymous, die nach ganz ähnlichen Mechanismen funktioniert: Jeder, der sich Anon nennt, wurde sofort als Teil des losen Kollektivs aufgenommen.

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So haben die Anons nicht nur viel Gerede um einen „Bregret" entfacht und die chaotische Stimmungslage rund um den Austritt weiter befördert, sondern auch eine schwere Sicherheitslücke aufgedeckt, die Betrug am öffentlichen britischen Petitionssystem des House of Commons zum Kinderspiel macht.

„Das war ich", triumphiert ein Anon.
„Ich hab 30.000 mal unterschrieben. Ich hab ein Skript laufen lassen, während ich unter der Dusche war."

Solche Petitionen auf der offiziellen Parlamentswebsite dürfen nämlich eigentlich nur Briten unterzeichnen, allerdings auch diejenigen, die im Ausland leben. Um zu bestätigen, dass der Unterzeichner Brite ist, muss er oder sie einfach nur ein Kästchen anklicken. So konnten sich die Troll-Bots in Scharen automatisiert mit beliebigen Fake-Adressen und Daten registrieren, und machten sich einen Spaß daraus, aus manchen Orten mehr Stimmen abzugeben, als es dort überhaupt Einwohner gibt.

Schaut man sich die öffentlich zugänglichen Daten der Petition im json-Format an, fällt schnell auf, dass 90 Prozent der Unterzeichner nicht aus Großbritannien stammen, seltsam ähnliche E-Mail-Adressen haben, und noch am Sonntag hatte selbst „Kim Il Sung" zusammen mit 23.000 anderen Nordkoreanern vermeintlich mitabgestimmt. Noch gestern stammten außerdem knapp 50.000 Stimmen aus Vatikanstadt; einer Stadt mit 842 Einwohnern, 3.000 Unterzeichner kamen aus dem britischen Überseegebiet Südgeorgien und den südlichen Sandwich-Inseln, auf denen sich laut WIkipedia allerdings gerade mal „ca. 30" Menschen niedergelassen haben.

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Bild: Screenshot 4chan

„Das war ich", triumphiert ein Anon in /pol/. „Ich hab 30.000 mal unterschreiben. Ich hab ein Skript laufen lassen, während ich unter der Dusche war." Zum Beweis finden sich im Thread Dutzende Screenshots der Skripte, die der Petition zu so viel Aufmerksamkeit verholfen haben.

Mittlerweile ist der Betrug aufgeflogen; die BBC berichtet, dass das House of Commons bereits rund 77.000 Stimmen entfernt habe.

Die Anons auf /pol/ freuen sich trotzdem tierisch über den Coup, baden sich in gewohnt überdrehter Manier im eigenen Ruhm und feiern den Sieg der Anarchisten über die Welt, wie wir sie kennen (mindestens aber über „dumme Journalisten der Brainstream-Medien").

Es ist nicht das erste Mal, dass 4chan eine Petition mit Hackerskripten kapert: 2009 übernahm eine Gruppe Anons bereits die TIME 100, eine Abstimmung für eine Liste der wichtigsten Persönlichkeiten des Jahres, und katapultierte dank eines Auto-Voter-Skripts den 4chan-Gründer Christopher „moot" Poole an die Spitze.

Die fragliche Petition zur Brexit-Abstimmung wurde paradoxerweise nicht mal von einem Remain-Unterstützer erstellt, sondern von einem Mitglied der rechten Partei „English Democrats" aus Leicestershire mit nicht allzu viel Weitblick. Als ein gewisser William Oliver Healey die Petition am 24. Mai 2016 ins Netz stellte, hatte er noch damit gerechnet, dass sich die Briten für einen Verbleib in der EU entschieden würde. Daher hatte er vorsorglich schon mal ein zweites Referendum mit strengeren Regeln gefordert, sollte die Wahlbeteiligung unter 75 Prozent bleiben und sich die Bürger mit einem Ergebnis von weniger als 60 Prozent für oder gegen die EU-Mitgliedschaft entscheiden.

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Doch als die Anzahl der Unterzeichner nach der Abstimmung kletterte und kletterte, wurde Heale aus der eigenen Partei heraus bedroht: Etwas hilflos erklärte er in einem Statement auf der Partei-Website: „Remain hat meine Abstimmung gekapert!" Er solle froh sein, dass nichts Schlimmeres passiert sei, knurren seine rechten Genossen dagegen in sozialen Medien, so jemand wie er schade „der Bewegung".

Das House of Commons will die Signaturen nun systematisch auf ihre Gültigkeit überprüfen—wie genau, ist aber unklar. „Wir nehmen Betrug am Petitionssystem sehr ernst", schreibt die Vorsitzende des Petitionskomitees, Helen Jones, in einem Statement auf Twitter. „Menschen, die gefälschte Unterschriften unter diese Petition setzen, sollten wissen, dass sie das Anliegen untergraben, welches sie vorgeblich unterstützen."

Read a statement from our Chair on the second referendum petition. pic.twitter.com/TzrtQXTwTE
— Petitions Committee (@HoCpetitions) June 26, 2016

Gefälscht oder nicht: Zieht man alle Stimmen aus allen Ländern außerhalb Großbritanniens ab, kommen nichtsdestotrotz 300.000 Unterstützer aus Großbritannien zusammen. Das sind dreimal so viel wie die 100.000 Stimmen, die für eine Diskussion über eine mögliche Parlamentsdebatte benötigt werden. Allein die 77.000 gelöschten Stimmen kommen dieser Grenze so nah, dass deutlich wird, wie leicht es Anons gelingen kann, das Petitionstool des Parlaments zu kapern und ein eigenes Thema beliebig groß aufzublähen.

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Am Dienstag wird die Petition dann auch—trotz der Anon-Manipulation—in einem Treffen des Petitionskomitees Thema werden, kündigte Helen Jones an.

Natürlich könnte man argumentieren, dass es völlig egal ist, wie viele Unterzeichner unter einer dilettantisch programmierten Online-Petition stehen. Dass die Petition null Chancen hätte, eine zweite Abstimmung zu befördern, ist sowieso schon klar—es wäre auch undemokratisch.

So sehen die Petitionsdaten heute aus, die Zahl hinter Signature Count" gibt an, wie viele Unterzeichner (oder Bots) angegeben haben, aus dem jeweiligen Land zu stammen. Bild: Screenshot Petition

Und doch trägt diese gefälschte Zahl dazu bei, ein Narrativ über die Folgen des Referendums zu formen, das die Stimmung im Land nicht akkurat abbildet. Ob sich die Anons dessen bewusst sind?

Die aktuelle Zahl der Petitionsunterzeichner liegt übrigens bei 3,6 Millionen und ist damit rund 300.000 niedriger als der zwischenzeitliche Höchststand. Fest steht momentan nur, dass der Admin der britischen Parlamentswebsite am Wochenende einige Überstunden schieben musste.

Update 16:30: Um dem Umstand der schweren Greifbarkeit des Kollektivs Rechnung zu tragen, haben wir die Headline angepasst und den 5. Absatz über die Ursprünge von Anonymous neu hinzugefügt.

Theresa ist auf Twitter, blockiert euch aber, wenn ihr sie trollt.