Landstreicher 2.0
Die umherziehende Fotografin Molly Steele und ein Freund auf dem Dach eines Zugs. Alle Photos ​Molly Steele | Mit freundlicher Genehmigung

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Landstreicher 2.0

Auch heute noch fahren Menschen wie vor 125 Jahren als blinde Passagiere auf Güterzügen durch Amerika. Allerdings posten sie ihre Bilder jetzt bei Instagram.

Auch achtzig Jahre nach der Großen Depression gibt es in Amerika immer noch zahlreiche Freiheitshungrige, die sich mit Jobs weit entfernt von jeglicher Spießigkeit oder mit Straßendarbietungen für ein wenig Kleingeld durch ein unangepasstes Leben schlagen; die in verbeulten Autos durch das Land reisen und sich auf Güterzüge schleichen. Doch die neuen Vagabunden haben nicht nur ihre Landstreicher-Bündel gegen moderne Rucksäcke getauscht, sie haben auch Smartphones und andere erschwingliche, tragbare digitale Hilfsmittel im Gepäck, die ihnen helfen, Gelegenheitsjobs aufzuspüren, per GPS den Weg zu finden oder einfach mit Freunden und Familie in Kontakt zu bleiben.

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Sie sind die Landstreicher 2.0.

„Als ich vor etwas über elf Jahren anfing, haben wir im Prinzip genau das gleiche gemacht wie die Landstreicher vor 125 Jahren", erzählt der Tramper und regelmäßige blinde Passgier von Güterzügen namens Huck. „Unsere Landkarten waren aus Papier. Wir haben mündlich miteinander kommuniziert und Codes und Namen auf Gebäuden hinterlassen."

In einer neuen Stadt anzukommen bedeutete, von Tür zu Tür zu gehen und die Art von körperlicher Arbeit aufzutreiben, die sich heute größtenteils auf Craigslist finden lässt. ​Google Maps gab es noch nicht und Mobiltelefone konnten sich sowieso nur wenige mit diesem Lebensstil leisten.

„Wir haben uns nicht für Elektrizität interessiert, weil wir nichts hatten, was Strom benötigte", sagt Huck. „Jetzt werden wir von der Elektrizität irgendwie angezogen, weil sie für unseren Lebensstil so hilfreich ist, dass wir ihr nicht aus dem Weg gehen können."

Aus Angst vor rechtlicher Verfolgung—zum Beispiel aufgrund seiner illegalen Fahrten in Güterzügen—will mir der 33-jährige Huck seinen echten Namen nicht preisgeben.

Trotzdem ist er zu einer kleineren Internetberühmtheit geworden, nachdem er ​r/vaga bond gegründet hat, ein Reddit-Forum mit 10.000 Mitgliedern für „Tramper, Backpacker, Rubbertramps [die mit dem Auto oder im Van unterwegs sind], Hausbesetzer, Vagabunden und andere Reisende ohne feste Wohnung."

Dort werden Fragen und Antworten zu Themen wie der lukrativen Saisonarbeit in einer ​Meeresfrüchtefabrik in Alsaka bis zur Wahl des richtigen Mobiltelefons mit langer Akkulaufzeit ​behandelt.

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„Die Akkulaufzeit eines Geräts ist entscheidend für einen Landstreicher oder Vagabunden, weil wir wenig Gelegenheiten zum Aufladen haben", sagt Huck. Er reist mit einem langlebigen und leichten Kindle, um Karten und Überlebenstricks zu speichern, sowie einem solarbetriebenen USB-Ladegerät und einem tragbaren Akkupack, mit dem er sein Mobiltelefon wieder aufzuladen kann.

Wie die meisten anderen Reisenden weiß er genau, wie viel seine Sachen wiegen und wie viel Platz sie in seinem Rucksack benötigen. Außerdem weiß er die Laufzeiten der Akkus auswendig und wie lange es dauert, diese mit dem tragbaren Akkupack wieder aufzuladen.

Soziale Medien wie Reddit bringen Huck und zahllose andere Landstreicher laut eigener Aussage schnell auf den neuesten Stand, ohne zu viel des kostbaren Akkus zu beanspruchen.

Hucks Reddit-Forum ist allerdings nicht die einzige Online-Quelle für Umherziehende ohne festen Wohnsitz. Die Wiki-Seiten ​HitchWiki und ​TrashWiki bieten von der Community gestaltete, weltweite Reiseführer für Gegenden auf der ganzen Welt zum Trampen und Containern. Ein weiteres Forum namens Squat the Planet bezeichnet sich selbst als „das weltweit größte Netzwerk für unangepasste Reisende" und existiert laut ​Mitbegründer Matt Derrick seit 2001. Er hat die Seite als eine Art Blog gestartet, die sich zu einem Messageboard für Underground-Reisende ausgeweitet hat.

Mittlerweile bietet Squat the Planet Foren, in denen die Reisenden ​Mitfahrgelegenheiten, Güter zum ​Kauf und Tausch, sowie ​Schlafmöglichkeiten finden. Außerdem gibt es dort Ratschläge zu ​Hausbesetzung und ​Trampen sowie alle möglichen weiteren Informationen.

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Molly Steeles Reisebegleiter Kevin mit seinem Smartphone.

Derrick, der Gründer der Seite, ist ursprünglich „aus Versehen" zu diesem Lebensstil gekommen, als sein Auto mitten auf einem Road Trip nach Los Angeles den Geist aufgab. „Ich habe einige andere, nennen wir sie Punkrock-Kids, getroffen die getrampt und in Güterzügen mitgefahren sind. Ich habe dann einfach gefragt, ob ich mitkommen darf", sagt er.

Das war in den späten 90ern und den größten Teil des folgenden Jahrzehnts verbrachte er darauf als Tramper und blinder Passagier in Güterzügen. Oft hat er zum Geld verdienen dabei Computer repariert, Webdesign-Sachen und andere IT-Arbeiten gemacht. Die Fähigkeiten dafür hatte er sich in seiner Jugend angeeignet, als er ohne viel Geld aufwuchs und aus ausgedienten Kisten aus dem Trödelladen Gaming-PCs gebastelt hat.

In den letzten paar Jahren gönnte sich Derrick hauptsächlich Busfahrten und gelegentlich sogar einen Flug, auch wenn er immer noch ein paar Mal im Jahr auf den ein oder andern Zug aufspringt. In seiner Zeit auf der Straße beobachtete er, wie das Internet und Seiten wie Squat the Planet unter den Reisenden an Beliebtheit gewonnen haben. Der Großteil der Foren-Accounts wurde in den letzten fünf Jahren angelegt, erzählt Huck, und der mobile Traffic ist seit 2012, seit die Reisenden mit Smartphones und Tablets unterwegs sind, noch einmal in die Höhe geschnellt.

Auch wenn es laut Derricks Aussage einige jüngere Leute gibt, die erwarten, so schnell mit möglich mit vielen Informationen versorgt zu werden, ohne etwas zur Community beizutragen, sind die meisten Nutzer sehr hilfsbereit: Im Forum für ​Mitfahrgelegenheiten gibt es für gewöhnlich genauso viele Angebote wie Nachfragen. Ein Sex- und Romantik-Forum hat ein offenes Ohr für Reisende, die sonst vielleicht nicht viele Gelegenheiten zum Reden haben. Dort findet man auch einen bereits lange laufenden Thread, der sich wie die Landstreicher-Version des Penthouse-Forums ​liest. Oft treten die Mitglieder der Webseite auch erst bei, nachdem sie bereits gereist sind, um dort begeistert ihre Erfahrungen mit Gleichgesinnten zu teilen.

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Jenseits der Zivilisation

Ein 28-jähriger Nutzer, der unter dem Namen ​Viking_Adventurer aktiv ist, gibt an, dass er Ende 2013 nach einer Scheidung auf die Reise gegangen ist.

„Ich habe das Reisen schon immer geliebt und war an einem Scheideweg in meinem Leben", erzählt er mir. „Ich hatte mich gerade scheiden lassen und lebte in einer kleinen Stadt, in die ich nach meiner Heirat gezogen bin. Dort kannte ich nur meine Frau und ihre Familie."

Er ist vom Süden Kaliforniens nach New Orleans zum Mardi Gras getrampt, wo er sich in einem verfallenen Haus niedergelassen hat, das nach Hurricane Katrina anscheinend seinem Schicksal überlassen worden war. Auf dem Weg dorthin hat er in Arizona und Texas Halt gemacht und ein paar Monate in Seattle verbracht, wo ihm sein Bruder Arbeit in einem Hostel verschafft hat.

Irgendwann hat ihm ein Freund von Squat the Planet erzählt.

Seither hilft das Forum Viking_Adventurer, konkrete Informationen über die Städte, die er besucht, zu finden: „Vor welchen Straßen man sich in in Acht nehmen sollte, welche Restaurants freundlich zu Leuten sind, die eine Woche nicht geduscht haben und einen riesigen Rucksack mit sich herumschleppen."

Kevin wartet darauf, aufzuspringen.

Ein weiteres Mitglied von Squat the Planet namens Kevin O'Sullivan, der ​unter dem Namen Highwayman postet, sagt, dass er Craigslist und das Forum für Mitfahrgelegenheiten von Squat the Planet nutzt um sich mitnehmen zu lassen, sowie ​CouchSurfing-Übernachtungsmöglichkeiten zu finden. In einer privaten Nachricht auf der Seite schreibt er, dass er auf seinen Reisen Google Maps für die Suche nach Güterzugstrecken und die App von Megabus für die Suche nach günstigen Bussen verwendet.

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Er nutzt Online-Karten für die Suche nach Campingplätzen und öffentlichen Toiletten, Depots für Miet-LKWs, in denen unabgeschlossene Fahrzeuge Schutz vor Wind und Wetter bieten, sowie Orte mit Duschen und natürlich Steckdosen, um sein Smartphone aufzuladen. Und wenn der Akku seines mobilen Gerätes leer ist oder er keinen Empfang mehr hat, nutzt er wieder große Papierlandkarten oder geht in eine öffentliche Bibliothek.

O'Sullivan erzählt, dass er weder obdachlos noch ein Vollzeit-Reisender ist—er hat eine Wohnung und eine Familie, mit der er von unterwegs aus in Kontakt bleibt. Er bezeichnet sich als katholischen Anarchisten. „Wenn ich keine Frau und keine Kinder hätte, wäre ich wahrscheinlich ein katholischer Mönch und hätte keinerlei irdischen Besitz", schreibt er. Er ist unterwegs, um heilige Stätten zu besuchen und auf Punkrock-Konzerte zu gehen, manchmal arbeitet er auf dem Weg freiwillig bei gemeinnützigen Einrichtungen.

Die meisten Reisenden ziehen zwar—zumindest bis zu einem gewissen Grad—auf eigenen Wunsch umher, dennoch versuchen die Betreiber des Forums Neulinge und vor allem Teenager auf die Gefahren des Vagabundenlebens hinzuweisen.

Die Tatsache, dass es mittlerweile YouTube-Dokumentation über illegale Zugreisen und damit vorab einen Einblick in diesen Lebensstil gibt, hat laut Huck auch zu kleineren Zwischenfällen geführt, bei denen Unerfahrene versuchen, an verlassenen Straßen zu trampen oder auf Züge springen, die in die falsche Richtung fahren. Auch hat es in den letzten Jahren ernsthafte Verletzungen durch schnelle Züge gegeben.

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„Es gibt Kids, die getötet wurden, weil sie nicht wussten, was sie tun", sagt er.

Huck sagt, er sei froh, dass /r/vagabond sowohl die Gefahren als auch die glanzvolle Seite seines Lebensstils propagiert. Im Forum ist die Veröffentlichung von Schichtwechsel-Plänen oder Anleitungen, wann und wo Güterzüge halten, um Eisenbahnangestellte abzusetzen oder aufzunehmen, immer noch verboten. Diese Anleitungen wurden traditionellerweise sorgsam durch Zugreisende zusammengestellt und nur an Vertraute weitergegeben; teilweise aus Angst, dass Amateur-Landstreicher durch den zu leichten Zugang zu Informationen über Zugfahrten ernsthaft verletzt werden können, sagt er.

Da diese Art des Reisens auf den Schienen noch dazu illegal ist, befürchten die blinden Passagiere auch eine Zunahme an Mitreise-Versuchen, die auffliegen könnten und die Bahnbeamten härter durchgreifen lassen. Das würde das Reisen für alle riskanter machen.

Trotzdem sind Blogs und soziale Medien für die Tramper auch eine Möglichkeit, ihre Erfahrungen mit Freunden, Familie und der interessierten Öffentlichkeit zu teilen. Huck hat ​mehrere Ask Me Anythings bei Reddit veranstaltet und wie viele andere Reisende ​Bilder seiner Erfahrungen bei Instagram gepostet.

Für Molly Steele ist es nur natürlich, Bilder von ihren Trips online zu teilen, auch wenn sie einmal verhaftet wurde. Steele sagt, dass sie erst nur von Erspartem lebte und die Bilder nur aus Spaß bei Instagram postete, nun aber dazu übergegangen ist, Geld damit zu verdienen. Über ​ihre Webseite verkauft sie Abzüge und nimmt gelegentlich sogar Auftragsarbeiten an.

„Ich glaube, ohne Instagram wäre ich keine Fotografin", sagt sie.

Normalerweise reist Molly mit Campingausrüstung im Auto und sucht sich ihre Ziele mehr oder weniger spontan aus. „Ich hatte so viel gearbeitet plante, ein neues Auto zu kaufen", sagt Steele, „aber anstatt mir ein Auto zu leisten, bin ich einfach aus meinem Leben ausgestiegen und habe angefangen das zu machen, was auch immer ich will."