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Die Geschichte der japanischen Sekte, die mit Yoga, Schlamm und Giftgas gegen den Weltuntergang kämpfte

Als die Polizei die Räume der Sekte Omu Shinrikyo durchsuchte, fand sie einen russischen Militärhubschrauber, ein Meth-Labor und genug Nervengift, um vier Millionen Menschen zu töten.
Sektenführer Shōkō Asahara im Oktober 1990
Sektenführer Shōkō Asahara im Oktober 1990 | Bild: imago | Kyodo News

Am Morgen des 20. März 1995 betreten zwei Physiker, ein KI-Forscher, ein Ingenieur und ein Kardiologe einen U-Bahnhof in Tokio. Es ist Hauptverkehrszeit. Jeder von ihnen hat einen Regenschirm dabei und je zwei kleine Plastikbeutel, in Zeitungspapier eingewickelt. Sie betreten unterschiedliche Waggons von drei U-Bahnlinien, warten zwischen Pendlerinnen und Pendlern. An bestimmten Stationen lassen sie ihre Päckchen fallen und durchbohren sie mit den Regenschirmen.

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Während die Wissenschaftler in Fluchtfahrzeugen zu ihrem Versteck fahren, breitet sich das tödliche Nervengift Sarin in den U-Bahnstationen aus: 13 Menschen sterben, Tausende werden verletzt. Die Aktion der Sekte Ōmu Shinrikyō gilt bis heute als tödlichster inländischer Terroranschlag in Japans Geschichte.

Am 6. Juli wurden sieben hochrangige Mitglieder von Ōmu Shinrikyō hingerichtet. Unter ihnen befanden sich ihr Anführer Shōkō Asahara, sowie Yoshihiro Inoue, der die U-Bahn-Attacke geplant hatte, Seiichi Endo, der leitende Wissenschaftler der Sekte, und der Chemiker Masami Tsuchiya, der das Giftgas produziert hatte. Auch die Männer, die die Attacke in der U-Bahn durchführten, wurden in Japan zum Tode verurteilt. Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International haben die Hinrichtungen verurteilt, die in Japan ohne Vorankündigung durchgeführt werden.

Die Mitglieder von Ōmu Shinrikyō, auch als Aum-Sekte bekannt, glaubten an den bevorstehenden Weltuntergang und sahen sich als Auserwählte, eine neue Gesellschaftsform zu gründen. In ihrer Lehre wurden Yoga, Terrorismus, Wissenschaft und Technik eng miteinander verknüpft. Bis heute halten einige Menschen an der Ideologie fest.

Der Sektengründer glaubte, der Weltuntergang stehe bevor

Chizuo Matumoto, der später den Namen Shōkō Asahara annahm, gründete Ōmu Shinrikyō im Jahr 1984. Anfangs befasste sich die Gruppe ausschließlich mit Yoga und Meditation, nahm aber zunehmend eine von der befürchteten Apokalypse geprägte Ideologie an.

Sektenführer Asahara sah sich als Reinkarnation von Shiva und Jesus und sagte den Weltuntergang durch einen Atomkrieg für 1997 voraus. Nur, wer sich seiner elitären Gruppe anschloss, würde die nukleare Katastrophe überleben. Um seine utopische Gemeinschaft aufzubauen, wollte Asahara auch die japanische Regierung übernehmen. Darum kandidierte eine politische Vertretung der Gruppe im Jahr 1990 für das japanische Parlament, erhielt aber nur wenige Hundert Stimmen. Nachdem die friedliche Übernahme gescheitert war, befahl Asahara seinen Anhängerinnen und Anhängern, sich auf den gewaltsamen Sturz der Regierung zu fokussieren.

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Die ersten Jahre von Ōmu Shinrikyō waren von gescheiterten chemischen Angriffen geprägt. Zuerst versuchte Asahara, große Mengen an Botulin zu produzieren. Das ist ein neurotoxisches Protein, das von bestimmten Bakterien ausgeschieden wird und mit Botox verwandt ist. Um das Gift herzustellen, verwendete der Wissenschafter Seiichi Endo Erde aus einem Fluss namens Ishikari. In großen Containern auf dem Land der Sekte ließ Endo die Erde gären und produzierte dadurch fast 50.000 Liter mit vor Bakterien wimmelndem Schlamm. Da der Schlamm aber nicht aufbereitet war, konnte in ersten Tests kein giftiger Effekt nachgewiesen werden. Trotzdem verfrachteten die Sektenmitglieder den Schlamm im April 1990 in drei Laster. Sie versprühten den Schlamm an zwei US-Marinestützpunkten, dem Flughafen Tokio-Narita, einem Regierungsgebäude und dem Kaiserpalast. Die "Attacke" hatte aber keine Auswirkungen auf die Anwohner dieser Gebiete.

Im Jahr 1992 reisten Asahara und ein paar Anhänger nach Zaire, um Ebola-Proben zu sammeln. Sie kehrten jedoch mit leeren Händen zurück. Im nächsten Jahr versuchte die Gruppe es erneut mit einem Botulin-Angriff. Dieses Mal wurde die Hochzeit von Prinz Naruhito aus einem Laster mit Schlamm besprüht, aber auch diesmal war das Botulin nicht aktiv und konnte keinen Schaden anrichten. Kurz darauf startete die Sekte Angriffe mit Bakterien der Infektionskrankheit Anthrax, auch als Milzbrand bekannt. Sie verteilten die Bakterien vom Dach ihres Hauptquartiers mit einem Ventilator und versprühten sie aus Lastern. Aber auch diese versuchten Anschläge hatten keinen Effekt, da die Fanatiker falsche Bakterienstämme verwendet hatten.

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Omu Shinrikyo rekrutiert naturwissenschaftliche Studierende

Zur gleichen Zeit soll die Sekte möglicherweise für den Tod mehrerer Menschen verantwortlich sein, die versucht hatten, aus der Sekte auszusteigen oder die sie generell als Feinde betrachteten. Obwohl die Tötungsdelikte Aufmerksamkeit erregten, konnte die Polizei sie nicht eindeutig mit der Ōmu Shinrikyō in Verbindung bringen. Finanziell schadete die Aufmerksamkeit der Sekte nicht: 1992 hatte sie ein Vermögen von einer Milliarde Dollar angehäuft, hauptsächlich aus den extrem hohen Beitragsgebühren der ungefähr 20.000 Mitglieder aus mehreren Ländern, darunter die USA, Australien und Russland.

Viele der Anhängerinnen und Anhänger waren Studierende der Naturwissenschaften oder reiche Geschäftsleute. 1996 schrieb Wired, dass unter den Rekrutinnen auch viele "Otaku" waren – das sind japanische Computer-Nerds. Um neue Interessierte anzulocken, nutzte Ōmu Shinrikyō Bilder aus der Science-Fiction-Kultur, um ihre Vision des nuklearen Weltuntergangs voranzutreiben. Die Foundation Trilogie von Isaac Asimov soll als eine Art "Bibel" für die Sekte gegolten haben, denn auch sie wollten eine utopische Gesellschaft aus Wissenschaftlern aufbauen.

Anschläge mit Sarin und VX-Gas in Japan

Im Jahr 1994 verübte Ōmu Shinrikyō den ersten terroristischen Anschlag mit biologischen Waffen, durch den Menschen starben. Sie ließen Sarin-Gas vor den Wohnhäusern von Richtern in Matsumoto frei. Diese waren an einem Prozess gegen die Sekte beteiligt, bei dem es um Gründstücke ging. Bei dem Anschlag wurden acht Menschen getötet und mehrere Hundert verletzt. Nach zahlreichen Fehlversuchen hatten die Chemiker der Sekte tatsächlich große Mengen an Nervengift entwickelt. Doch das sollte erst der Anfang sein.

Kurz nach dem Angriff in Matsumoto produzierte der Chef-Chemiker der Sekte, Masami Tsuchiya, etwa 200 Gramm VX-Gas. Das ist ein chemischer Kampfstoff, der noch schädlicher ist als Sarin. Wenige Milligramm von VX reichen aus, um einen Erwachsenen zu töten. Im September 1994 wurden 20 Menschen, die die Sekte verlassen hatten, mit dem Stoff getötet – offenbar um seine Wirkkraft zu testen. In den folgenden Monaten setzte Ōmu Shinrikyō VX-Gas bei verschiedenen Angriffen ein, schmierte es auf Autotüren, spritzte es in Schlüssellöcher und attackierte damit Anwälte, Aussteiger der Sekte sowie rivalisierende religiöse Anführer.

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Einsatzkräfte bei der Durchsuchung des Hauptquartiers der Sekte.

Bei der Durchsuchung des Hauptquartiers der Sekte beschlagnahmten Einsatzkräfte im März 1995 gefährliche chemische und biologische Substanzen | Bild: imago | AFLO

Während die Sekte eine große U-Bahn-Attacke mit Sarin-Gas plante, bereitete die Polizei eine Razzia ihres Anwesens am Fuß des Fuji vor. Als Sektenführer Asahara dies erfuhr, ordnete er an, die Attacke in Tokio früher als geplant durchzuführen. Zwei Tage nach dem U-Bahn-Anschlag verhaftete die Polizei Asahara und Hunderte Sektenanhänger. Bei der Durchsuchung des Hauptquartiers fand die Polizei hinter einem Altar versteckt den Eingang zu einer riesigen Sarin-Produktionshalle. Darin befand sich genug Nervengift, um vier Millionen Menschen zu töten. Außerdem fanden die Einsatzkräfte mehrere Gefangene in Zellen, einen russischen Militärhubschrauber, Sprengstoff, Labore zur Herstellung von LSD und Meth und mehrere Millionen in US-Dollar und Gold.

Auch heute hat Omu Shinrikyo noch Anhänger

Bis 2004 wurden 13 Mitglieder von Ōmu Shinrikyō für ihre Rolle bei den U-Bahn-Attacken und anderen Tötungsdelikten zum Tode verurteilt, fünf weitere Mitglieder zu lebenslangen Haftstrafen. 80 weitere Sektenanhänger wurden zu unterschiedlich langen Gefängnisstrafen verurteilt. In den vergangenen Jahren wurde mehrmals Berufung eingelegt, trotzdem wurden sieben hochrangige Mitglieder von Ōmu Shinrikyō ohne öffentliche Ankündigung am 6. Juli durch Erhängen hingerichtet.

Auch heute noch lebt die Sekte Ōmu Shinrikyō weiter, wenn auch in veränderter Form. Seit 2000 nennt sich die Organisation Aleph und hat sich von der gewalttätigen Vergangenheit distanziert. Trotz öffentlicher Proteste folgen Mitglieder von Aleph noch heute den Lehren von Asahara und pflegen offenbar enge Beziehungen zu Menschen aus der Wissenschaft und der Tech-Branche in Japan.

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Im Jahr 2000 wurde bekannt: Computerfirmen mit einer engen Verbindung zu Aleph hatten schon mindestens zehn Jahre lang Software entwickelt, die in japanischen Regierungsbehörden und 80 großen Unternehmen zum Einsatz kam. Wie die New York Times berichtet, schalteten viele Einrichtungen die Software sofort ab, als sie davon erfuhren. Sie fürchteten offenbar, dass Aleph Zugriff auf Computer und geheime Informationen der Regierung haben könnte.

Heute gilt Aleph als weniger gefährlich wie einst Ōmu Shinrikyō. In Japan rekrutiert die religiöse Organisation nach wie vor junge Menschen durch Yoga-Stunden. Ihre Anhängerschaft wächst in Japan und Russland langsam. Im Jahr 2016 zerschlug die Polizei in Montenegro eine Versammlung der Gruppe in einem Hotel, nachdem das Personal "Anzeichen ritueller Verletzungen" an den Teilnehmenden bemerkte. Im vergangenen Jahr durchsuchte die Polizei mehrere Aleph-Einrichtungen. Grund dafür war der Verdacht auf illegale Praktiken der Rekrutierung.

Auch im Juli fanden Razzien statt. Nach den Hinrichtungen sagte ein Sprecher der Polizei Tokio, die Sicherheitsvorkehrungen an bestimmten Orten seien verstärkt worden – aus Sorge, die Anhänger des getöteten Asahara könnten aus Rache Gewalt anwenden.

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