Wissenschaft auf dem Bierdeckel: Wie funktionieren eigentlich neuronale Netze?

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Wissenschaft auf dem Bierdeckel: Wie funktionieren eigentlich neuronale Netze?

Was passiert, wenn man Wissenschaftler bittet, ihren Forschungsgegenstand so verständlich zu skizzieren, dass er auf einen Bierdeckel passt.

Neuronale Netze sind das wichtigste Werkzeug zur Entwicklung Künstlicher Intelligenz. Dank dieser Technik, die das menschliche Gehirn imitiert, sind KIs nicht mehr nur auf die Rolle stumpfer Assistenten und Schachcomputer beschränkt. Sie schreiben ihre eigenen Drehbücher für Science Fiction-Filme, erträumen psychedelische Bildwelten und meistern zum Teil komplexe Interaktionen mit Menschen. Anders als bei anderen modernen Technologien ist es nicht nur kompliziert, sondern für Menschen oft nicht nachvollziehbar, wie die Maschinen ihre Lösungen entwickeln. So haben zwei Google-KIs gerade gelernt, ihre Kommunikation mit einer Verschlüsselung abzusichern, die Menschen nicht verstehen.

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Weil die Maschinen langfristig selbstständig Strategien entwickeln, statt nur zu reproduzieren, was wir ihnen einprogrammieren, haben sie das Potential, jede intellektuelle Aufgabe zu meistern und damit unsere Zukunft zu bestimmen. Selbst wenn wir von der Entwicklung unkontrollierbarer Superintelligenzen noch sehr weit entfernt sind, ist es wichtig, über die Auswirkungen dieser mächtigen Technologie zu reden—das können wir aber nur, wenn wir sie auch begreifen. Deshalb haben wir uns mit einem Experten auf dem Gebiet, einem Kugelschreiber und einem Haufen Bierdeckel an einen Tisch gesetzt.

Max Versace ist einer der gefragtesten Forscher in Sachen Künstlicher Intelligenz und trägt gleich zwei Doktortitel: Einen in experimenteller Psychologie und einen in Kognitiven und Neuralen Systemen. Doch die akademische Welt hat er momentan hinter sich gelassen. Das Ziel seines Startups Neurala ist es, Roboter und Computer mit hochentwickelten künstlichen neuronalen Netzen auszustatten, die so ähnlich funktionieren wie unsere Gehirne und nicht nur lernen, sondern selbstständig entscheiden können. Genau das macht seine Forschung so umstritten, denn seine Arbeit an intelligenten Systemen interessiert nicht nur die NASA, sondern auch die US-Rüstungsforschungsbehörde DARPA.

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Momentan allerdings ist sein primäres Ziel nicht die Auslöschung der Menschheit durch autonome Killerroboter, sondern der dritte doppelte Espresso an der Kaffeebar des State Festivals in Berlin. Beinahe hätte er unser Date—am Tag vor seinem Vortrag über Künstliche Intelligenz—nämlich in letzter Minute abgesagt. Er hatte zwar Lust auf die Herausforderung, seine Forschung auf einem Bierdeckel zu skizzieren, „solange es deutsches Bier ist!", schrieb er mir—doch dann spielte ihm das Leben übel mit und verwehrte ihm auf dem Weg von Boston nach Berlin ein Ticket in der Business Class. „Ich schlafe gerade", sagt er mit dickem italienischen Akzent zur Begrüßung, „und sowieso fühl ich mich in den letzten Monaten wie ein Aufziehspielzeug: Kaffee rein, reden, weiterfliegen, mehr Kaffee, Vortrag halten, weiterfliegen. Ich weiß gar nicht mehr, wo ich bin." Gute Voraussetzungen also, um sich zur Abwechslung ein paar entspannenden Malübungen zu widmen, finde ich. Seine Aufgabe sieht auf den ersten Blick überschaubar aus: Er soll auf einem Bierdeckel erklären, wie genau eigentlich neuronale Netze funktionieren. Wie sich herausstellen soll, ist das gar nicht so einfach.

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Max Versace: Ok, also ich glaube, auf einem Bierdeckel werde ich das nicht schaffen, hast du noch ein paar dabei?

Motherboard: Das ist eigentlich geschummelt, aber ja, ich hab einen ganzen Stapel mit.

Gut. Also, los geht's: Jeder von uns hat ein funktionierendes Gehirn (malt eine Art Kartoffel), ein fantastisches Juwel. Darin befinden sich 100 Milliarden Neuronen und ungefähr 250 Trillionen Verbindungen zwischen diesen Neuronen.

Wenn wir ein kleines Stückchen daraus entnehmen und auf den nächsten Bierdeckel vergrößern, sieht das so aus.

Was ist das?

Du siehst hier ganz viele Neuronen und jedes Neuron ist mit ganz vielen anderen verbunden. Jedes einzelne Neuron sendet zu ungefähr 10.000 anderen Neuronen. Es ist also ein extrem verwickeltes Netzwerk (malt ein Knäuel). Kann man das Papier vielleicht abpulen, dann hätte ich mehr Platz zum Malen in der Mitte (pult)? Klappt nicht. Egal.

Wie reden also zwei Neuronen miteinander? Ich nenne die hier mal Neuron A und Neuron B. A sendet ein elektrisches Signal, das eine Faser namens Axon herunter saust und trifft B. Und B verarbeitet den Input von diesem Neuron A und vielen anderen Neuronen—ich nenne die mal C und D—und entscheidet dann von ganz alleine, ob es zum nächsten Neuron feuert oder nicht.

Doch wie trifft ein Neuron diese Entscheidung? Eigentlich total einfach. Im Grunde funktioniert das so: Der Kreis hier links ist das Neuron, das Input in Form von Pfeilen erhält. Und wenn das Input, das die Neuron erhält, eine bestimmte Schwelle an elektrischer Ladung überschreitet, dann schlägt sie aus, ich male hier so eine Spitze hin. Zack. So ein Neuron schlägt ungefähr zehn bis 100 mal pro Sekunde aus, ok?

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Der eigentliche Schlüssel zu neuronalen Netzwerken und warum sie so für Künstliche Intelligenzen so nützlich sind, ist die Verbindung zwischen zweier solcher Neuronen—der Synapse. Und jetzt muss ich noch kurz erklären, wie so eine Synapse funktioniert, ist aber ganz einfach…

Wir haben hier wieder Neuron A und Neuron B. Hier am Anfang, oben links, steht zum Beispiel eine Glocke. Nehmen wir an, ich höre die Glocke und fange an zu sabbern. Wenn das jetzt ganz oft passiert—also, wenn A passiert, folgt B, wenn A passiert, folgt B und so weiter—dann können wir von einer Konditionierung sprechen. Das ist Pawlows klassisches Beispiel mit den Hunden. Dahinter steckt dahinter eine ganz simple Gleichung, und die geht so: S—das ist die Synapse—ist proportional zu der Multiplikation von A und B. An dieser Stelle wird es ein ganz klein wenig komplizierter, aber im Grunde war's das schon. Das bedeutet, S wird stärker, je öfter die Verbindung zwischen A und B hergestellt wird. Und so kann unsere Synapse mit der Zeit immer dicker und größer werden und das schleift sich als eine Gewohnheit ein. Das ist der Knubbel hier am Neuron B. Wenn man etwas also ganz oft macht, fängt das Gehirn an, bestimmte Verbindungen zu entwickeln."

… die mit der Zeit stärker werden?

Genau, die mit der Zeit immer stärker werden. Andere, vernachlässigte Verbindungen werden schwächer und manche wieder stärker und andere schwächer. Wenn du das jetzt auf das ganze Gehirn anwendest—lass uns mal den Kreis schließen—dann machst du das 100 Milliarden mal für 250 Trillionen Synapsen. Alles was du brauchst, ist diese einfache Multiplikation: S=A*B. So. Jetzt weißt du, wie das Gehirn funktioniert.

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Das war überraschend einfach. Und wie wendet man das jetzt auf Robotik an?

Das ist ja das Schöne: Bei der Robotik oder bei einem künstlichen neuronalen Netz kommt eigentlich genau dieselbe Mathematik zum Einsatz. Allerdings…

Ok, einen Moment, ich muss neue Deckel rauskramen. Eigentlich darf man nur einen benutzen! Und ich muss sie jetzt schon nummerieren. Hier ist ein neuer.

Ok, stell dir vor, du hast einen kleinen Roboter, der eine Aufgabe erledigen soll. Der Roboter hat als Gehirn ein neuronales Netzwerk —N in diesem Fall—und ist an eine Kamera angestöpselt. Diese Kamera bekommt Input aus der Umwelt. Und auf der anderen Seite ist ein Motor angeschlossen. Jetzt brauch ich noch einen Deckel.

Jetzt stell dir vor, hier vor der Kamera ist ein Apfel (A) oder eine Birne (P), den der Sensor der Kamera wahrnimmt. Das Bild läuft durch die Kamera in das neuronale Netz, eine Software. Das Netz gleicht mit seiner Erfahrung ab, ob es einen Apfel oder eine Birne vor sich hat und entscheidet sich: Das ist ein Apfel oder eine Birne, und je nach Entscheidung bewegt sich der Roboter mit Hilfe des Motors zum Beispiel in die eine oder andere Richtung. Gleichzeitig fließt dieses Apfel- oder Birnen-Erlebnis wieder in das Netz, es lernt daraus. Das bedeutet, dass auch beim neuronalen Netzwerk die Verbindungen zwischen einzelnen Punkten ständig schwächer oder stärker werden (malt dicke Verbindungslinien im neuronalen Netz)."

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Aber woher weiß ein neuronales Netzwerk, was was ist?

Durch Lernprozesse. Du gibst dem Netzwerk ganz viele verschiedene Äpfel und Birnen zum Angucken, dicke, kleine, rote, grüne, welche mit Dellen… äh, naja, also ein Künstler bin ich nicht gerade, wie du siehst.

Die Würstchen und Baguettes in der zweiten Spalte von links sind also Birnen-Variationen, ja?

Ja. Links daneben sind die Äpfel. Und nach sehr viel Obst-Input in allen möglichen Formen macht es dann plötzlich AHA! Das neuronale Netz hat gelernt und kann dir sagen: Ich weiß jetzt, wie ein Apfel aussehen kann und ich weiß soviel darüber, dass ich ihn auch von einer Birne unterscheiden kann. Und natürlich kannst du ihm auch andere Sachen beibringen: Was sind Objekte, die es zu umschiffen gilt, wie bewegen sich Menschen und so weiter. Hm, war das deutlich? Es tut mir leid, wie ich male. Ich bin müde, aber das hat Spaß gemacht. Wo muss ich morgen eigentlich meinen Vortrag halten?

Das weiß ich leider nicht genau.

Arbeitet ihr beide gar nicht beim Festival?

Nein.

Ich sollte mich nochmal hinlegen.

Anmerkung der Redaktion: Schultheiß ist kein besonders gutes Bier, aber es waren die einzigen Deckel, die in unserer liebsten Eckkneipe gerade greifbar waren.