Ein Tag in der ersten Videospiel-Rehabilitationsklinik der USA
Bild: Jagger Gravning

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Ein Tag in der ersten Videospiel-Rehabilitationsklinik der USA

Wir haben mit der Leiterin der ersten Klinik für Videospiel- und Pornosucht darüber gesprochen, wie diese neuen Suchtformen entstehen und wie man sie stoppen kann.

Ich befinde mich irgendwo hinter Bellevue und Redmond, im Bundesstaat Washington. Es ist die Heimat von Nintendo, Microsoft Game Studios, Valve, Sony Online Entertainment, Bungie, Sucker Punch und einem Dutzend weiterer Videospielhersteller, deren kreative Arbeit Millionen Zocker überall auf der Welt begeistert.

Dieser Teil der Stadt Fall City ist so ländlich, dass nicht einmal Häuser die Straßen säumen, sondern lediglich ein stilles, ewiges Grün, dass sich hier und da zu einer Schotterstraße öffnet an deren Einfahrt ein Sackgassenschild steht. Eine dieser Wege führt nach Heavensfield, wo die zwei Hektar große, bauernhofartige Anlage von reSTART liegt—der ersten Klinik der USA für die stationäre Behandlung von Videospiel- und Internetabhängigen.

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Bild: Google Street View Embed

Da ich selbst kein Auto besitze, fuhr mich mein freundlicher Kollege Corey die knapp 50 Kilometer von Seattle bis zum reSTART Gelände—inklusive seines stur dreinschauenden Babys auf dem Rücksitz als Begleitung. Auf dem Gelände wurden wir von Dr. Hilarie Cash empfangen, der Mitbegründerin und Leiterin von Einrichtung begrüßt.

Cash führte uns gerne für eine ausgiebige Tour über das reSTART Gelände. „Wir haben es hier mit jungen Männern zu tun. Sie haben eine Menge Testosteron in ihrem Körper und das müssen sie in etwas produktives umsetzen", erklärte sie uns während sie auf eine Garage zeigte, die zur Turnhalle umgebaut wurde, die für therapeutische Übungen genutzt wird. Nachdem reSTART beschloss keine weiblichen Patienten mehr aufzunehmen, leben in der gesamten Anlage tatsächlich nur noch Männer.

Online sozial, vor dem Bildschirm isoliert.

„Es gab da mal einen Vater der wollte, dass seine Tochter zu uns kommt", sagte Cash. „Das war noch vor der Einführung der neuen Regeln [nur für Männer]. Einer unserer Patienten zeigte ihr das Gelände und sie hat ihn sofort angebaggert. Also sagten wir 'Nein, wir können sie nicht aufnehmen. Wir sehen jetzt schon, dass das Ärger geben wird."

„Falls wir uns einmal vergrößern sollten, werden wir vielleicht auch was nur für Frauen haben.", fügte sie hinzu. „Aber mit nur drei Schlafzimmern und sechs Patienten gleichzeitig wird die Trennung der Geschlechter bei reSTART zu schwierig. Und die meisten Patienten sind ohnehin Männer".

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Cash fasst pointiert das Problem dieser Männer zusammen: „Online sozial, vor dem Bildschirm isoliert."

Videospielsucht ist aber nicht das einzige Problem, auch wenn das meist als offizieller Grund für den Aufenthalt angegeben wird. Oft kommt Pornografiesucht als weiteres Problem hinzu. Wenn ein neuer Patient bei reSTART aufschlägt wird sogar erst einmal geschaut, ob Pornosucht vielleicht das primäre Problem darstellt. Die beiden Erkrankungen sind eng verbunden, nicht nur weil man beide Inhalte so leicht am Rechner konsumieren kann, sondern auch wegen der Art wie sie das Gehirn stimulieren und in Bann halten.

Cash ist eine der Autorinnen des Buches Video Games & Your Kids: How Parents Stay in Control, und wendet den ursprünglich nur für Sexsüchtige benutzten Begriff der „Intimitätskrankheit" auch auf Mediensüchtige an. Sie argumentiert, dass jemand mit einer Intimitätskrankheit im Rahmen von Mediensucht entweder keine angemessenen Fähigkeiten für ein befriedigendes Sozialleben erlernt hat oder ihm diese wieder abhanden gekommen sind.

Auf einem Grassweg gingen wir durch den weiten Hinterhof der Klinik an überdimensionalen Schachfiguren und einer Hängematte vorbei zu einem Garten, einem Verschlag für Hühner und Tauben und weiter zu einer kleinen Hütte für private Therapie- und Lerneinheiten.

Bild: Jagger Gravning

Wir betraten eine zweite kleine Hütte am Rande des Geländes. Darin waren Sofas, Stühle und Kuscheltiere. Falls du noch nie bei einem Therapeuten warst: die Inneneinrichtung hatte starken Wiedererkennungswert. Der Wald draußen füllte den großen Fensterrahmen. Bevor ich hier auf ein paar reSTART-Patienten traf, berichtete mir Cash von der „Limbischen Resonanz" und wie diese an den schadhaften Auswirkungen der Video- und Pornosucht beteiligt sei.

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„Ihr seid gute Freunde oder?" fragte Cash Corey und mich.

„Ja," antwortete ich spätestens nach der langen Autofahrt pflichtgemäß.

„Wenn ihr zwei Zeit zusammen verbringt, dann schüttet euer limbisches System Neurotransmitter aus, die euch emotional und physiologisch im Gleichgewicht halten. Und für ein Kleinkind, das gerade die limbische Resonanz mit euch erlebt, wäre das ein Gefühl von Liebe und Bindung, welches es aufblühen lässt", fuhr sie, auf Ethan, Corey's Sohn, deutend fort, der sich an Corey's Knie festhielt und den Raum bestaunte.

Ethan und ich begannen das Zimmer zu erkunden.

Cash zufolge hat die Wissenschaft bereits nachgewiesen, dass Menschen, die mehr Zeit online verbringen häufiger an Depression leiden. „Meine Theorie ist, dass es zu keiner limbischen Resonanz kommt, wenn du dich nicht in der körperlichen Gegenwart von einer Person aufhältst. Vielleicht bedarf diese Erfahrung einfach der direkten Sinneswahrnehmung", erklärte sie. „Wir müssen in der Lage sein, einander zu sehen, hören, berühren und zu riechen damit die Transmitter ausgeschüttet werden. Statt dessen versuchen die Leute ihre sozialen Bedürfnisse online zu stillen."

„Genau", bestätigte Cash mir.

„Als würdest du zwar auf Facebook interagieren, aber die emotionalen Nährstoffe fehlen. Wie Fastfood essen."

Plötzlich wurde unsere Unterhaltung von einem Piepen und Brummen unterbrochen. Ethan hatte den Schalter eines Roomba gefunden. Der staubsaugende Roboter fuhr nun durch den Raum auf uns zu und Ethan bestaunte ihn andächtig. Das brachte Cash aus der Fassung und sie lachte erst einmal herzlich. „Willkommen in der digitalen Welt!"

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reSTART Mitgründerin und Leiterin Hilarie Cash, in einem Moment limbischer Resonanz mit Ethan.

Cash empfahl mir das Buch A General Theory of Love und darin informierte ich mich ein wenig mehr über das Konzept der limbischen Resonanz. Das Buch spricht viel vom Lernkonzept „The Triune Brain", ein verbreitetes aber auch kontroverses Modell über den funktionalen Aufbau des Gehirns. Das Konzept beschreibt drei Hauptteile des Gehirns. Es gibt die Basalganglien, die angeborene Instinke kontrollieren, wie etwa Fluchtreflexe. Dann gibt es den äußersten Hirnteil den Neocortex, der komplexe Stimuli analysiert und beim Menschen das abstrakte Denken und die Sprache hervorbringt.

Zwischen diesen beiden liegt das Paleosäugetier-Gehirn. Damit sind das limbische System und seine unmittelbaren Mitspieler gemeint. Das limbische System scheint in erster Linie für unser emotionales Leben verantwortlich zu sein. Es ist auch der Sitz des Belohnungssystems und deshalb an der Suchtbildung beteiligt.

Wenn wir mit Menschen online interagieren, über Videospiele oder per Foren-Kommentar, können wir keine Körpersprache oder andere nichtverbale Signale nutzen, um mit unseren Adressaten eine emotionale Verbindung zu schaffen. Effektiv macht uns das geistesblind. Hierin scheint auch der Grund zu liegen, warum digitale Kommentare so schnell in Anschuldigungen und Beleidigungen abgleiten, was auf in ähnlicher Form eher selten bei Interaktion von Angesicht zu Angesicht vorkommt. Es sieht also wirklich so aus, als wenn die limbische Resonanz bei den Patienten nicht ganz hochgefahren wird.

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Zur Zeit leben fünf Patienten in der reSTART-Einrichtung. Zwei wollten nicht mit uns für diesen Artikel sprechen. Doch die anderen drei erzählten uns Geschichten, die sich erstaunlich ähnelten. Jeder hatte eine einschneidende soziale Veräderung erlebt bevor ihre Internetnutzung und Zockerei in ein Suchtverhalten abglitten.

Einer der Patienten ist Cole, dessen Freund Selbstmord beging nachdem er Opfer von Cyberbullying geworden war.

Der zweite ist Andrew, der, obwohl er in der Highschool Kapitän des Footballteams war und zu der Zeit „praktisch nie ohne Freundin war", später im College so einsam wurde, dass er sich einen Spielecomputer selbst baute. Er widmete all seine Energie diesem Projekt—bis „Hygiene egal" wurde und er bald darauf „nichts machte, was keine unmittelbare [digitale] Belohnung einbrachte."

Und dann ist da noch Tayler, der betäubt und dann sexuell missbraucht wurde und schließlich in seinem Großvater seinen spirituellen Mentor verlor. Auch er hatte einen Gaming-Computer gebaut. Dabei taucht er während seines zweiten Jahres an der Uni so tief in eine digitale Geisteswelt ab und verlor „100kg Muskeln und die freie Wahl bei den Mädels."

Alle drei sprachen von ihrer Hoffnung, online Freunde zu finden, weil sie im echten Leben Schwierigkeiten hatten. Cole hat sogar Französisch studiert, um besser mit einigen seiner Zocker-Kollegen kommunizieren zu können.

Für Taylor wiederum ging es hauptsächlich darum, im Spiele-Universum zum Alpha-Tier aufzusteigen:

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„Wenn ich nicht mit Menschen [im echten Leben] redete, konnte mich auch keiner verletzen. Ich habe meine gesamte soziale Welt über das Spielen erlebt. In den Spielen war ich der Anführer. Im echten Leben log und manipulierte ich, um meine Eltern fernzuhalten. Mein Leben verlor dabei alle Struktur. Ich habe nur das Allernötigste erledigt, um ganz schnell wieder vor der Röhre zu sitzen."

Studien haben gezeigt, dass Videospiele zumindest bei Männern das Dopaminlevel im Belohnungssystem verdoppeln—was sonst noch beim Sex passiert. Warum Männer von Videospielen stärker beeinflusst werden, ist weiterhin Gegenstand von Spekulationen. Professor Allan Reiss, der in Standford ein Studie zu den Gender-Unterschieden im Belohnungssystem beim Videospielen leitete, vermutet, dass Männer verstärkt um ihr Revier kämpfen.

Wenn ich nicht mit Menschen aus dem echten Leben redete, konnte mich auch keiner verletzen.

„Man muss kein Genie sein, um zu sehen wer historisch die Tyrannen und Eroberer waren", schrieb Reiss. „Es waren Männer. Die meisten Computerspiele, die bei Männern wirklich beliebt sind, lassen sich in die Kategorien Revierkampf und Aggression einordnen."

Wie bei Videospielen beeinflusst auch zwanghafter Pornokonsum die angeborenen Prozesse bei einigen jungen Männern und verfängt sie in einer Art konditionierende Skinner Box. Doch nicht die Pornografie selbst hypnotisiert die Männer. Ein Playboy-Magazin würde es nicht bringen. Es ist die digitale, erotische Dauerschleife, die sie gleichzeitig animiert und betäubt. Die unendliche Neuheit von Pornografie und Videospielen halten die Dopaminlevel hoch. Damit gehören beide zu den Auslösern einer Erregungssucht, wie der Psychologe Philip Zimbardo sie nennt.

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„Bei Drogensucht willst du immer nur mehr", sagte Zimbardo. „Bei Erregunssucht willst du es immer anders."

Der Begriff der Erregungssucht entstand nach dem Coolidge Effekt, einem bösen Witz über President Calvin Coolidge und seine First Lady. Beim Coolidge Effekt erlebt ein sexuell ausgelaugtes Männchen neue Erregung, wenn ihm ein neues und williges Weibchen angeboten wird.

„Dieses alte Säugetierprogramm, der Coolidge Effekt", sagt Gary Wilson von Your Brain on Porn, „erlebt jede neue Frau auf einem Bildschirm als genetische Gelegenheit. Um den Bildschirm zu befruchten schüttet das Gehirn des Typen ein neurochemisches „Hol sie dir"-Signal in Form von Dopamin aus, für jeden neuen potentiellen Partner und jedes neue Pornobild wieder.

Zimbardo schrieb in seinem Buch The Demise of Guys über die Erfahrung an Videospiele oder Pornografie gefesselt zu sein. „Diese neue Form süchtig machender Erregung sperrt die Nutzer in eine erweiterte hedonistische Gegenwart ein. Vergangenheit und Zukunft liegen fern, während der gegenwärtige Moment expandiert und alles dominiert."

Du löst dich in einen dissoziativen Zustand auf, erlebst die vollkommene Befreiung deiner selbst. Es ist als wenn das Gebot der Geistesgegenwart im Zen nach hinten losgeht. Bald findest du dich nicht in der Hölle, sondern einfach in einem tiefen emotionalen Loch wieder. Und je tiefer du es geht, desto egaler ist es dir.

Weil es Videospielsucht bisher nicht in das Handbuch der Psychischen Störungen (DSM) geschafft hat, zahlen Versicherungen auch keine entsprechenden Therapien. Damit sind solche Behandlungen momentan nur was für Kinder wohlhabender Eltern. Aber wenn ich mich allein in meinem Freundeskreis umschaue, fallen mir spontan ein paar Kandidaten für reSTART ein. Sogar mein Fahrer Corey hat sechs Videokonsolen hintereinander verkauft, weil das Dauergezocke sein Leben zu stark durcheinander gebracht hat. Aber wenn ein neues, spannendes Spiel rauskam, dann hat er sich bisher doch immer wieder eine neue Konsolle gekauft.

Ganer machen sich gerne lustig über diejenigen, die die Spiele für Amokläufe verantwortlich machen wollen. Und es ist einfach, sich darüber lustig zu machen—weil die Argumente nicht besonders überzeugend sind: Millionen Leute schauen Horror-Filme und spielen die gleichen Videospiele und die allerwenigsten werden jemals in irgendeiner Form gewalttätig. Aber vielleich sollten wir uns über die Auswirkungen von Videospielen insgesamt, mit oder ohne Gewalt, mehr Gedanken machen, wenn diese so leicht sexuelle Frustration beruhigen können und gleichzeitig provozieren.

„Ich bin selbst davon verblüfft wie komplex soziale Interaktionen sind", sagte mir Cash. „Wenn du erfolgreiche Beziehungen aufbauen willst, musst du eine Menge Fähigkeiten besitzen. Aber wenn wir isoliert und ausgeschlossen sind, fallen wir zurück und lernen diese Fähigkeiten nicht. Es ist den Menschen im Moment noch nicht wirklich bewusst, wie wichtig der direkte Kontakt für uns wirklich ist."