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Tausende Hologramme demonstrieren in Spanien gegen neues Knebelgesetz

Können Hologramme unsere Protestkultur revolutionieren?
Alle Bilder: ​No Somos Delito

George Orwell mag tot sein, aber sein zeitloser Politik-Euphemismus ist lebendiger denn je. Ein beispielloses „Gesetz zur Sicherheit der Bürger", wie das Ley Mordaza in sauberstem Orwell'schen Neusprech heißt, stellt in Spanien seit Ostern Demonstrationen vor dem Parlament als auch die Berichterstattung über Polizeigewalt unter Strafe und schränkt die Versammlungsfreiheit massiv ein. Kritiker wie Menschenrechtsaktivsten, Anwälte und Journalisten bezeichnen das neue Gesetz als Knebelgesetz, das Grundrechte beschneidet.

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Am Freitagabend versammelten sich deshalb Tausende von Menschen in Form eines Hologramms vor dem spanischen Kongress in Madrid, um gegen das Maulkorbgesetz „Ley Mordaza" zu protestieren.

„Mit den Einschränkungen der Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit, die jetzt kommen, werden holografische Kundgebungen unsere letzte Möglichkeit zum Protest sein.", sagten die Organisatoren dem Korrespondenten der Tageszeitung taz. Denn ab Juli werden für jeden Bürger bis zu 600.000 Euro für Proteste vor dem Parlament fällig.

Die Veranstalter bauten am Freitag Projektoren vor dem Abgeordnetenhaus auf, eine Stunde lang marschierten die Demonstranten dann als transluzider, bläulich schimmernder Geisterzug vor ihren gewählten Vertretern und protestierten gegen das Gesetz.

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Zuvor hatten die Demonstranten, die sich in einem Bündnis namens „No Somos Delito" (Wir sind kein Delikt) zusammenschlossen, ihre Gesichter tausendfach auf der Website der Organisatoren fotografieren lassen, um am virtuellen Demonstrationszug teilnehmen zu können. Das kann dort übrigens jeder, der sich auch in Zukunft virtuell mit vor's Madrider Parlament stellen will, noch immer tun.

„Mit unserer Initiative erzählen wir von einer surrealistischen Zukunft, in der du dich erst entmaterialisieren musst, um die fehlende Meinungsfreiheit anzuklagen", sagten die Veranstalter der spanischen Tageszeitung El Mundo.

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Bild: ​​No Somos Delito​

Wie schnell sich die Hologramme als Form der Protestkultur durchsetzen könne, beweiste jüngst die Snowden-Büste in New York: Nachdem unbekannte Künstler mit einer Snowden-Skultpur im Central Park dem Whistleblower ein Guerilla-Denkmal gesetzt hatten, wurde dieses Kunstwerk schnell wieder abgerissen.

Wenige Tage später jedoch war Edward Snowden wieder da: Diesmal gewappnet vor Baggern und Abrissbirnen als Hologramm, gegen das nur gleißendes Licht helfen könnte, das die Skulptur unsichtbar macht.

Und während Hologramme schon Michael Jackson und Tupac auf den Bühnen dieser Welt wiederauferstehen ließen, so können sie auch im Wahlkampf helfen, Botschaften an die Massen zu verbreiten: Der indische Präsident Navendra Modi hatte, als er zum Wahlkampf antrat, nicht die Zeit, um überall im Land persönlich zu erschienen und besuchte Wahlkampftermine in Orten ohne Kanalisation bevorzugt in Form eines Hologramms, um körperlos auf einer Bühne sein Programm vorzustellen.

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Gegen die konservative spanische Regierung unter dem Präsidenten Mariano Rajoy werden insbesondere im Rahmen der Austeritätspolitik immer häufiger Demonstrationen angemeldet, weil die Bürger unter den Einschnitten in den Sozialhaushalt leiden. Um das zu unterbinden und nebenbei ein wenig Geld aus der Bevölkerung zu pressen, setzt die spanische Regierung auf Angstverbreitung statt auf Dialog mit einem Gesetz, dass sich explizit gegen die freie Meinungsäußerung und Versammlungsfreiheit ihrer Bürger richtet:

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Schon der Aufruf zu einer spontanen Demonstration (zum Beispiel gegen die Räumung einer Wohnung) per Twitter oder Facebook kostet dich mit etwas Pech 1000 Euro. Nimmst du daran trotzdem Teil, begehst du schon eine leichte Ordnungswidrigkeit und kannst mit einem Bußgeld von 100 bis 1000 Euro rechnen. Sollte es bei einer Demonstration zu Ausschreitungen kommen, wird die Teilnahme zu einer schweren Ordnungswidrigkeit und kostet 30.000 Euro.

Nicht der Richter entscheidet, wer sich strafbar macht—sondern die Polizei.

Aber es geht noch weiter: Das Dokumentieren der in Spanien oft sehr harten Polizeieinsätze steht nämlich ebenfalls unter Strafe. Die Demonstranten können sich bei kritischen Tweets gegen Polizei und dem Fotografieren oder Filmen von Sicherheitkräften im Einsatz somit auch strafbar machen, dieser „Verstoß" kann mit hohen Geldbußen bis zu 30.000 Euro belegt werden.

Ein weiteres Highlight des Strafkatalogs ist die Definition „sensibler Gebäude", das nicht nur Proteste vor dem Parlament, sondern beispielsweise auch Demonstrationen vor einem Atomkraftwerk als „Gefährdung wichtiger Infrastruktur" illegal macht. Viele Proteste, die früher ein Grundrecht waren, werden nun kriminalisiert. Dabei sind die spontanen Demos eigentlich in der spanischen Verfassung festgeschrieben. Auch Gefängnisstrafen für kleinere Vergehen wie Kiffen in der Öffentlichkeit werden damit zum Alltag.

Das Perfide: Nicht die Justiz entscheidet jetzt, welche Straftat vor Gericht verhandelt werden muss und wer sich strafbar macht—sondern die Polizei selbst.

Während der Bevölkerung das Demonstrieren verboten wird, gilt jedoch die Regierung in Spanien als angezählt und ist von Korruptionssandalen erschüttert. Die Gegenoffensive aus der Opposition heißt PODEMOS und hat gute Chancen, den nächsten Wahlkampf für sich zu entscheiden, die die im Ausland bislang nur sehr spärlich berichteten Knebelgesetze wieder rückgängig machen könnte.

Sie umfassen noch eine kleine, unauffällig untergeschobene Anekdote am Rande: Das Ley Mordaza wird letztlich auch Einwanderer und Flüchtlinge treffen. Denn es erlaubt den Grenzpolizisten, Flüchtlinge direkt an der Grenze schon kurzerhand zurückzuschicken, ohne dass ihnen die Gelegenheit gewährt würde, einen Asylantrag zu stellen. „Heiße Abschiebungen" heißt das im Juristensprech. „Verstoß gegen die Menschenrechte" bei anderen.

Es ist eben alles eine Frage der Darstellung.