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Das millionenfach geklickte Live-Video vom Anschlag ist eine vertane Chance

Direkt nachdem ein LKW in die Buden am Breitscheidplatz rast, geht ein Journalist der Morgenpost live. Warum das eigentlich eine gute Idee und doch ein Fehler war.

Screenshot: Youtube

Es ist kurz nach acht Uhr abends, als ein Lastwagen ungebremst in die geschmückten Buden am Berliner Breitscheidplatz kracht. Nur wenige Minuten danach tippt ein Mitarbeiter der Tageszeitung Berliner Morgenpost auf seinem Handy auf „Live-Übertragung starten". Er ist der wohl erste Journalist, der vor Ort ist und filmt. Weniger als zwei Stunden nach dem Anschlag wird das Facebook-Video fast eine Million Aufrufe haben, mehr als zehntausend User teilen den Post. Da es einer der wenigen Augenzeugen-Clips vom Tatort selbst ist, sendet auch N24 die Bilder in der Live-Berichterstattung.

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Die Kritik an den Aufnahmen lässt nicht lange auf sich warten: Man solle „helfen, statt filmen", findet jemand auf Twitter, andere beschweren sich, dass die Bilder zu verstörend seien, um sie zu senden. Die Facebook-Satire-Seite für „Deutsch für stramme Deutsche" behauptet gar, den Journalisten wegen unterlassener Hilfeleistung angezeigt zu haben. Am nächsten Tag kommt dann auch aus der Branche selbst Kritik: Der Deutsche Journalistenverband DJV schreibt in einem Kommentar unter der Überschrift „Wir schämen uns", eine solche Berichterstattung sei „wahnsinnig geschmacklos und ein Verstoß gegen den Pressekodex".

Wer sich selbst ein Bild machen will, hat nicht viel Zeit: Denn noch in der Nacht verschwindet der Film plötzlich aus dem sozialen Netzwerk—kommentarlos gelöscht von der Berliner Morgenpost selbst. Jetzt ärgern sich User wiederum darüber, dass ihnen etwas vorenthalten werde. Der Fall zeigt, wie schwer es für Medien sein kann, mit der Allgegenwart von Live-Streaming-Technologie umzugehen. Sollten Live-Videos aus nächster Nähe unmittelbar nach einem Anschlag über die eigenen Social-Media-Kanäle gesendet werden? Wenn ja, welche Bilder darf man zeigen? Wie also die Balance bewahren zwischen dem öffentlichen Interesse nach schnellen Informationen und der Verantwortung, die die Live-Übertragung solcher Aufnahmen mit sich bringt?

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Der Journalist, der durch Zufall mitten in den Anschlag gerät, heißt Jan Hollitzer und ist der Online-Chef und stellvertretende Chefredakteur der Berliner Morgenpost. „Menschen liegen am Boden – werden behandelt von anderen Menschen", berichtet er im Live-Video. Nach rund anderthalb Minuten schwenkt Hollitzer auf die Rückseite des LKWs; nur um sich wenige Sekunden später mit entsetztem Stöhnen wieder abzuwenden: „Uh, wirklich schwierig das in Worte zu fassen; es liegen Menschen unterm LKW."

Immer wieder bemüht sich der Reporter, der während der Amokfahrt zufällig auf der anderen Straßenseite des Breitscheidplatzes steht, um professionelle Distanz. Er thematisiert, dass er keine Opfer zeigen wolle. Das stimmt, denn er hält mit der Kamera nicht gezielt auf Personen. Dennoch sorgt er vor Ort für Unmut. Als ihm von einem Passanten das Handy aus der Hand geschlagen wird, reagiert er fast verständnisvoll. Zugleich stellt er den Bezug zu einem anderen islamistischen Anschlag indirekt her, in dem er die vorgefundene Szene vergleichend beschreibt: „Die Bilder erinnern sehr daran, was in Nizza passiert ist."

Sollte ein Journalist in einem solchen Moment filmen? Ja. Sollte er live gehen? Eher nicht.

Wie früh Hollitzer vor Ort ist, zeigt eine von Google gecachte Seite des Posts: Wenn man den Facebook-Daten glauben kann, die sich aus dem Video extrahieren lassen, dann beginnt der Live-Stream um 20:05. Das ist drei Minuten, nachdem der Scania-LKW über den Breitscheidplatz rast und nachdem der erste Notruf bei der Berliner Feuerwehr eingeht. Erst mehrere Minuten nach dem Beginn des Streams wird sich die ebenfalls sehr schnell, aber auch sehr besonnene agierende Berliner Polizei erstmals auf Twitter zu Wort melden.

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Sollte sich ein Journalist in einem solchen Moment mitten in die Schneise der Verwüstung begeben und filmen? Geht man vom möglichen Erkenntniswert aus, lautet die Antwort: Ja. Die Aufnahmen sind so nah dran wie kein anderes Bilddokument vom Anschlag. Sie könnten wertvolle Informationen über ein Ereignis liefern, das noch lange diskutiert werden wird. Man stelle sich vor, der flüchtende Fahrer wäre im Bild gewesen – die Kritik an der schnellen Reaktion des Journalisten wäre wohl schnell verhallt.

Doch hätte Hollitzer auch live gehen sollen? Eher nicht. Es ist gut, dass Hollitzer bereits bei der Aufnahme sehr genau reflektiert, was er filmen sollte – noch besser wäre es gewesen, wenn er auch abwägen würde, wie er die Bilder sendet.

Zu einem vergleichbaren Schluss kam der Journalist Richard Gutjahr, der beim LKW-Anschlag in Nizza vor ähnlichen Fragen stand. Er filmte zufällig sogar die Fahrt des LKWs selbst, sendete sein Material aber nicht live, sondern entschied sich, es der ARD zur Aufbereitung zu schicken. Gegenüber dem Medium Magazin erklärte er dazu: „Ich dachte, es wäre gut, in diesem Fall noch einmal eine zweite Instanz hinzuzuziehen. Einmal im Netz lassen sich Bilder schließlich nie wieder zurückholen." Im gleichen Interview spricht er auch über seine Entscheidung, beim Amoklauf in München zeitversetzt zwei Bilder vor Ort zu twittern. Er erntete dafür einen Shitstorm. Es zeigt, wie schwierig die Gratwanderung für Journalisten ist, das richtige Timing zu finden.

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Der Bedarf an Bildern ist gerade in den ersten Minuten nach einem Vorfall wie am Breitscheidplatz enorm – das zeigen allein schon die extrem hohen Zugriffszahlen des Videos der Berliner Morgenpost. Diesen Bedarf bedient der Stream: Er zeigt allen, die nicht vor Ort sein können, aber längst die Push-Benachrichtigungen und Eilmeldungen auf ihrem Handy gesehen haben, wie es am Tatort gerade aussieht – und das tut er nicht einmal schlecht, denn im Vergleich zu anderen Amateur-Videos, die nach dem Anschlag auftauchten, respektiert er durch die zurückhaltende Kameraführung die Würde und die Persönlichkeitsrechte der Opfer. Der Vorwurf, dass Hollitzer sich um die Verletzten hätte kümmern sollen, ist aus presseethischer Sicht übrigens umstritten, wird aber mit überwiegender Mehrheit als unberechtigt angesehen. Diesen Job machen Sanitäter; die Aufgabe des Journalisten ist es, Bericht zu erstatten, um seinem Informationsauftrag gerecht zu werden, statt in die Situation einzugreifen.

Dass Journalisten noch während einer sich entwickelnden Live-Situation Bilder senden, ist ihr Job. Doch anders als zu Zeiten von per TV-Helikopter gefilmten Verfolgungsjagden, hat heute jeder die Werkzeuge in seiner Hosentasche, um einen Livestream zu filmen, der um die Welt gehen kann. Sollten dann nicht gerade Journalisten diejenigen sein, die nicht einfach überall live gehen, sondern darüber reflektieren, ob ihre Bilder in Echtzeit übertragen oder aufgezeichnet werden sollten? Schließlich schauen die Menschen auf die Medien mehr denn je für Einordnungen, Recherchen und professionelle Gründlichkeit – das ist der Mehrwert, den Journalisten im Vergleich zu den potentiell allgegenwärtigen Amateurfilmern bieten können.

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Außerdem: Woher kann Hollitzer wissen, dass er von einem Tatort, den er gerade offenkundig das erste mal betritt, nicht doch Bilder überträgt, die er später bereut? Bilder, die möglichen noch flüchtigen Tätern etwas über die Polizeiarbeit verraten? Bilder, die eben doch Verletzte zeigen? Natürlich muss man zugestehen, dass auch Medienprofis, die Zeuge eines Unglücks werden, unter Schock stehen können und entsprechend reagieren. Nach einer ersten Sondierung der Szene hätte der Reporter jedoch die Live-Übertragung abbrechen können und zum normalen Filmen wechseln können. Der Clip allerdings dauert zehn Minuten – auch wenn er am Ende vor allem zeigt, wie Hollitzer versucht, einen Pressesprecher der Polizei zu befragen; doch noch ist niemand für eine Einschätzung vor Ort.

Und dann ist da noch das Problem der Löschung des Videos. Auf unsere Rückfrage an Hollitzer und die Berliner Morgenpost, warum man das Video gelöscht habe, haben wir nur eine allgemeine Erklärung als Antwort erhalten:

„Einer unserer Redakteure war zufällig vor Ort, als der LKW am Montagabend auf den Weihnachtsmarkt raste. Nach einer kurzen Abstimmung entschlossen wir uns wenig später, die Geschehnisse am Breitscheidplatz einige Minuten live zu dokumentieren und sachlich über die Lage zu berichten. Polizei und Rettungskräfte waren bereits vor Ort. Nach Rückkehr in die Redaktion haben wir das Video mit weiterem aktuellen Material ergänzt und in editierter Fassung online veröffentlicht."

Es ist dasselbe Statement, die die Zeitung auch auf Facebook als Antwort auf kritische User-Fragen postete. Leider lässt sie viele Fragen offen. Dass es die Löschung überhaupt gab, gesteht man in dem denkbar unkonkreten Post nur indirekt ein – und warum man den Clip offline nahm, wird überhaupt nicht erklärt.

In Zeiten, in denen soziale Netzwerke zur entscheidenden Plattform geworden sind, um Leser zu erreichen und Reichweite zu generieren, ist Facebook Live eine der wichtigsten neuen Online-Verbreitungsformen geworden, mit der sich Journalisten in diesem Jahr auseinandersetzen mussten. Auch Facebook selbst tat einiges, um das Tool zu promoten: Streams werden durch Benachrichtigungen angekündigt, prominent in die Feeds der User ausgespielt und mit Reichweite belohnt.

Die Regeln für den Umgang mit neuen Berichterstattungsformen wie Facebook Live sind noch längst nicht fertiggeschrieben. Umso wünschenswerter wäre es, wenn JournalistInnen, die in eine solche Extremlage geraten, zumindest danach ihr eigenes Handeln transparenter reflektieren – jenseits der Bilder ist das nämlich das wertvollste Kapital, das sich aus einer solchen Kontroverse schlagen ließe. Eine Chance auf den Gewinn von Glaubwürdigkeit, die man nicht verstreichen lassen sollte.