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Wie sich der "Vater der Stressforschung" von der Tabakindustrie kaufen ließ

Der Irrglaube, dass Zigaretten gegen Stress helfen, hält sich bis heute hartnäckig. Maßgeblich schuld daran ist einer der renommiertesten Mediziner unserer Zeit.
Hans Selye
Hans Selye im Jahr 1950 | Bild: The Canadian Institute of Stress 

Hans Selye ist vielleicht kein so bekannter Name wie Albert Einstein oder Marie Curie. Doch der ungarisch-stämmige Mediziner, Bio-Chemiker und Endokrinologe gilt als einer der renommiertesten Forscher des letzten Jahrhunderts. Auch heute noch wird er als "Vater der Stressforschung" bezeichnet, Zeit seines Lebens wurde er ganze 17 mal für den Nobelpreis nominiert.

Am besten bekannt ist Selye für seine Forschungsarbeiten zum Thema Stress; durch ihn wurde dieses Feld überhaupt erst zu einem eigenständigen Forschungsgebiet. Selye veröffentlichte hunderte Artikel zu dem Thema, die bis heute zitiert werden, und gründete das Internationale Institut für Stress in Kanada.

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Ein Aspekt von Selyes Karriere ist jedoch weitaus weniger bekannt: In den letzten 20 Jahren seines wissenschaftlichen Wirkens finanzierte die Tabakindustrie seine Arbeiten wesentlich mit. Denn die Zigarettenkonzerne hatten ein großes Interesse daran, dass die Wissenschaft eine Verbindung zwischen Stress und chronischen Krankheiten wie Herzerkrankungen und Krebs herstellte – so konnte man überzeugend von den fatalen gesundheitlichen Folgen des Rauchens abzulenken. Tatsächlich beeinflussen diese von der Tabakindustrie geförderten Studien zur mentalen und körperlichen Gesundheit bis heute unsere Definition von Stress.

Selye half nicht nur dabei, eine Kausalität zwischen Stress und schweren Erkrankungen herzustellen. Er vertrat auch die Ansicht, dass Tabakkonsum ein wirksames Gegenmittel gegen die vermeintlich tödlichen Stressfaktoren des Alltags sei – ein Irrglaube, der sich unter Rauchern bis heute hartnäckig hält. Schaut man sich die lange Tradition der Zusammenarbeit zwischen angesehenen Medizinern wie Selye und der Tabakindustrie an, muss man auch hinterfragen, wie objektiv die heutige Stressforschung agiert. 2005 brachte eine ausführliche Studie im American Journal of Public Health zum Vorschein, dass auch 60 renommierte deutsche Forscher und Mediziner lange Zeit auf den Gehaltslisten der Tabakindustrie standen.

Selyes enge Verbindung zur Tabakindustrie wäre beinahe völlig in Vergessenheit geraten, wäre da nicht Mark Petticrew gewesen. Der Leiter des Public Health Research Consortium an der London School of Hygiene and Tropical Medicine veröffentlichte 2011 ebenfalls im American Journal of Public Health einen Bericht, der aufzeigte, wie die Tabakindustrie zu einem bedeutenden Förderer der Stressforschung wurde. Er beschreibt darin, wie die Konzerne aktiv versuchten, die Zusammenhänge zwischen Tabak, Stress und chronischen Krankheiten zu verwischen.

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"Ich denke, es wird oft übersehen, wie viel Aufwand und Geld die Tabakindustrie investierte, um die Öffentlichkeit zu beeinflussen", sagte Petticrew gegenüber Motherboard am Telefon. "Sie wollten im Grunde folgende Botschaft vermitteln: Das Leben ist rasant, sehr stressig, und diese Faktoren könnten Krebs verursachen. Mach dir also wegen der Zigaretten nicht zu viele Sorgen."

Gestresste Ratten machten Selye bekannt

1936 veröffentlichte Selye einen inzwischen berühmten Brief an den Herausgeber des Wissenschaftsjournals Nature . In diesem beschrieb er zum ersten Mal einen Zustand, der später als Allgemeines Anpassungssyndrom bekannt werden sollte, also die Reaktion des Körpers auf anhaltenden Stress. Selye beschrieb außerdem seine frühen Experimente mit Ratten. Bei den Nagern äußerte sich die "Alarmreaktion des Organismus" in Form von vergrößerten Nebennierendrüsen und Lymphknoten sowie Magengeschwüren.

Vielleicht war es ihm damals gar nicht bewusst, aber durch seine ausführliche Beschreibung von Stressreaktionen stieß Selye die Tür zu einem ganz neuen medizinischen Forschungsgebiet auf: Stressforschung.

In den nächsten 15 Jahren erlangte Selye als Wissenschaftler internationale Berühmtheit und erhielt den Spitznamen "Einstein der medizinischen Forschung". In den 1950er Jahren wurde dann auch die Tabakindustrie auf Selyes Arbeit aufmerksam. Die großen Zigarettenkonzerne suchten zu diesem Zeitpunkt händeringend nach Möglichkeiten, um sich von neuen Untersuchungsergebnissen zu distanzieren, die Tabakwaren mit Lungenkrebs und anderen tödlichen Krankheiten in Verbindung brachten. Damals begann die Tabakindustrie, Selye und andere führende Stressforscher anzuwerben. Sie sollten als Experten bestätigen, dass diese Krankheiten viel mehr mit dem Stress des modernen Lebens, als mit dem steigenden Zigarettenkonsum zusammenhingen. Das geht aus Dokumenten hervor, die in den letzten zwanzig Jahren auf gerichtliche Anordnung in den USA veröffentlicht wurden.

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"Selye argumentierte damals, dass Tabak eine Methode zum Stressabbau sei", erklärte Petticrew gegenüber Motherboard. "Noch lieber mochte die Tabakindustrie aber das Argument, dass Stress selbst Krebs verursachen könne."

Wie der Vater der Stressforschung zum Paten der Tabakindustrie wurde

Es ist zwar bekannt, dass Wissenschaftler als Experten engagiert wurden und werden, um die Auswirkungen des Tabakkonsums zu verharmlosen. Vor Petticrews Bericht war jedoch kaum bekannt, wie sehr sich die von der Tabakindustrie geförderten Wissenschaftler auf das Thema Stress einschossen. Selyes Zusammenarbeit mit der Tabakindustrie begann 1958, als er die American Tobacco Company um finanzielle Unterstützung bat. Obwohl seine Anfrage abgelehnt wurde, wurder er im darauffolgenden Jahr von einem Anwalt engagiert, der Tabakkonzerne vor Gericht vertrat. Mit Selyes Hilfe wollte man aufzeigen, dass die statistischen Korrelationen von Rauchen und Krebs keine Kausalität bewiesen.

Acht Jahre später, 1966, wurde Selye erneut von Anwälten angeheuert, die große Tabakfirmen wie Philip Morris und Lorillard vertraten. Von ihnen erhielt Selye 2.000 US-Dollar für das Verfassen eines Berichts. Aus einem internen Memo der Anwälte geht hervor, dass Selye bereit war, einen Bericht über Tabak und Stress zu verfassen, aber dass man ihn noch anleiten müsse, was er genau zu schreiben habe.


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Die Anwälte einigten sich, dass der Bericht darauf eingehen sollte, "wie unwahrscheinlich es sei, dass Rauchen eine Herz-Kreislauf-Erkrankung verursachen könnte". Außerdem sollte Selye am besten noch erwähnen, welchen Stress Nichtraucher-Kampagnen in der Öffentlichkeit auslösen könnten. Tatsächlich schrieb Selye später in einer Broschüre des Tobacco Institutes: "Es ist erschreckend, dass niemand die Vorteile von Tabakwaren erwähnt. Ich bin mir sicher, dass oft mehr Schaden dadurch angerichtet wird, dass durch gut-gemeinte Kreuzzüge gegen das Rauchen unzählige Hypochonder geschaffen werden."

Aus dem internen Memo von 1966 geht hervor, dass Selye zuerst einen Fünf-Punkte-Plan vorgeschlagen hatte, "um die Idee weiterzuentwickeln, dass Stress mit Krankheiten in Verbindung steht, dass ein 'Ausgleich' zum Stress nötig sei und dass Rauchen ein angemessener Ausgleich sei."

Über die nächsten zehn Jahre wurde Selyes Beziehung zur Tabakindustrie noch enger. Er trat auf "wissenschaftlichen Konferenzen" auf, die von der Tabakindustrie organisiert worden waren, um die Vorteile des Rauchens zu bewerben. Außerdem veröffentlichte er mehrere Berichte, die Formulierungen enthielten, die zuvor von Mitarbeitern der Tabakkonzerne verfasst worden waren. Er sprach sich vor dem Gesundheitsausschuss des kanadischen Unterhauses gegen Nichtrauchergesetze aus und trat in beliebten Radio- und Fernsehsendungen auf, wo er ebenfalls die Standpunkte der Tabakindustrie vertrat.

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In den Höchstzeiten seiner Kollaboration mit der Tabakindustrie erhielt Selye jährlich 50.000 US-Dollar Fördergelder für "spezielle Projekte" von dem Council for Tobacco Research, um die Zusammenhänge von Stress, Krankheiten und Tabak zu untersuchen. Diese Förderung entspricht heute einem Wert von etwa 210.000 Euro. "Ich glaube, dass Selye bewusst war, was er da tat", sagt Petticrew. "Du kannst nicht eine derartige Summe erhalten, ohne zu wissen, dass du eine Branche unterstützt, die die Öffentlichkeit hinters Licht führen möchte."

Als die lukrative dreijährige Fördervereinbarung mit dem Council for Tobacco Research 1975 jedoch auslief, schien es ganz so, als ob die Tabakindustrie keine Verwendung mehr für Selye und seine Arbeit hätte. 1977 bat der Stressforscher den Tabakriesen RJ Reynolds um eine weitere Förderung von 50.000 US-Dollar, um eine Kampagne zur Stressbewältigung zu starten. Diese Anfrage wurde abgelehnt. Das lag allerdings nicht daran, dass die Tabakindustrie komplett das Interesse an der Stressforschung verloren hatte – das Forschungsfeld hatte sich lediglich verändert. Laut Petticrew wandten sich in den 1970er Jahren immer mehr Stressforscher von Selyes Model des Allgemeinen Anpassungssyndroms als Reaktion auf Stress ab. Stattdessen konzentrierte sich die Forschung nun auf verschiedene Persönlichkeitstypen, die unterschiedlich auf Stress reagieren. Vor allem ein Konzept der Kardiologen Friedman und Rosenman fand viel Beachtung. Sie unterteilten Menschen in Typ-A- und Typ-B-Persönlichkeiten.

Laut dieser Definition stehen Menschen mit einer Typ-A-Persönlichkeit ständig unter Strom, sind ungeduldig, ehrgeizig und regen sich schnell auf. 1976 begannen US-amerikanische Stressforscher zu untersuchen, ob dieser Persönlichkeitstyp ein Anhaltspunkt für Herzerkrankungen oder andere chronische Krankheiten sein könnte. Kurz nachdem die ersten Forschungsergebnisse zu diesem Thema veröffentlicht worden waren, fing die Tabakindustrie an, diese Untersuchungen zu fördern.

Petticrew ist der Meinung, dass man auch heute noch die moderne Stressforschung wegen Selyes enger Verbindung zur Tabakindustrie kritisch betrachten sollte. "Die Tabakindustrie warf den renommiertesten Wissenschaftlern in diesem Gebiet sehr viel Geld hinterher", sagte Petticrew. "Daher kann man diese Forschungen heute nicht lesen, ohne darüber nachzudenken, welcher Teil der Stressforschung vom Geld der Tabakindustrie beeinflusst wurde."

Zwar bedeutet das nicht, dass Selyes Forschungsergebnisse deswegen ungültig sind – schließlich hatte er sich bereits als Stressforscher einen Namen gemacht, bevor er auch nur einen Cent von der Tabakindustrie erhielt. Trotzdem fällt es schwer, die gekaufte Meinung von der Wahrheit zu unterscheiden, wenn es um Stress und Krankheiten geht.