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Unterwegs in der neuen Chat-App, die die anarchische Seite des Internets zurückholt

Die VRChat-App ist eine bizarre Reise in die Anfangszeit des Netzes, nach der sich noch heute viele Leute sehnen. Doch die chaotische Welt fördert auch eine Kehrseite zutage.
Bild: VRChat

Während ich mich in die Tiefen des Mickey-Mouse-Kerkers begebe und aus meinen Kopfhörern das Mickey-Mouse-Rap-Album dröhnt, wird mir klar, wie genial VRChat eigentlich ist. Ich bin zehn Minuten lang durch eine höllische Landschaft gewandert und habe Mickeys schrecklichste Seiten kennengelernt. Die Wände waren mit trashigen Memes der Cartoon-Maus zugepflastert, während das Tempo der im Hintergrund dudelnden Rap-Musik scheinbar völlig zufällig wechselt. Es war ein Anschlag auf meine Sinne und völlig anders als alles, was ich je zuvor erlebt hatte.

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Mit anderen Worten: Es war grauenhaft, aber es hat mir gefallen.

VRChat ist eine beliebte neue Chat-App, die gerade die Charts auf der digitalen Verkaufsplattform Steam erobert. Sie richtet sich an Leute, die Virtual-Reality-Headsets wie das Oculus Rift oder das HTC Vive besitzen. Die Nutzer tauchen ein in eine virtuelle Welt und können mit wenigen Bewegungen ihres Handgelenks eine unendliche Menge an nutzergenerierten Räumen erkunden und mit Tausenden anderer Leute interagieren. Es ist ein virtuelles Wunderland: Die Nutzer bauen sich scheinbar ohne Beschränkungen weirde Avatare und Räume – Grenzen der Wirklichkeit scheint es keine zu geben. Noch dazu ist die App Open Source, das Software Development Kit gibt es auf der Website des Entwicklers zum Download.

Laut Steam ist die Zahl der Nutzer von VRChat seit Anfang des Jahres von einigen wenigen Hundert auf über 15.000 angestiegen. Und nach Angaben des Aggregators Steam Spy wurde am Montag sogar die Marke von 1,5 Millionen Installationen geknackt. Solche Download-Zahlen wären bei den meisten anderen Spielen auf Steam nicht weiter erwähnenswert. Doch für eine App, die ziemlich hässlich aussieht und auf einen relativ kleinen Markt ausgerichtet ist – Leute mit VR-Headsets –, sind diese Zahlen außergewöhnlich.

Auch wenn ihr die App noch nie benutzt oder noch nicht mal von ihr gehört habt, ist euch im Internet in den letzten Wochen höchstwahrscheinlich schon ein Meme aus dem Spiel begegnet: Ugandan Knuckles. Knuckles ist ein roter Ameisenigel aus der Werbung zum Videospiel Sonic: The Hedgehog. Manche VRChat-Spieler finden es lustig, sich als deformierte Version von Knuckles zu verkleiden, auf der Suche nach weiblichen Avataren durchs Spiel zu rennen, mit der Zunge zu schnalzen und allen um sich herum in afrikanischem Akzent die Frage zu stellen: "Know de way?"

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Wenn sie eine Frau finden, umschwärmen die Knuckles sie, nennen sie Königin, bespucken alle anderen Spieler oder nennen sie falsche Königinnen. Das Gaming-Magazin Polygon hat das Meme als problematisch bezeichnet, und das ist noch milde ausgedrückt. Tatsächlich ist es ein rassistisches Meme, das von YouTubern wie PewDiePie, der selbst erst kürzlich wegen antisemitischem Content in die Kritik geriet gefeiert wird. Dass der ugandische Knuckles nur in deformierter Gestalt auftritt, in gebrochenem Englisch die immergleiche Frage stellt sowie andere Spieler anspuckt, sehen mittlerweile viele Spieler als Versuch, sich über Ugander beziehungsweise ihre Sprache - Swahili - lustig zu machen.

Doch das Meme ist nicht nur voller rassistischer Vorurteile, sondern macht das Spiel auch ziemlich unbenutzbar, wenn man nicht gerade über den Witz des Memes lachen will: Jeder Raum, den ich im VRChat betreten habe, war mit den kleinen, starrenden Ameisenigeln übersät, die spucken und schnalzen.

VRChat bringt die niedersten Instinkte von Internetnutzern zum Vorschein

Dass dieses Memes über die Grenzen von VRChat hinaus bekannt geworden ist und sich auf Twitter verbreitet (hauptsächlich über DrekTheWiz's Twitch-Clips), hat die Popularität der App sicherlich befeuert. Aber es ist nicht der einzige Grund: VRChat löst eine beinahe vergessene, nostalgische Sehnsucht nach den wilden, chaotischen Anfangszeiten des Internets aus. Ein weiterer Pluspunkt: Die App ist Open Source und man braucht nicht zwingend ein VR-Headset, um zu spielen. Ich habe für meinen Test keines benutzt, als ich durch die surreale Landschaft von VRChat spaziert bin, und trotzdem war es eine interessante Erfahrung.

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Ich würde nicht sagen, dass es total viel Spaß gemacht hat, obwohl es Momente gab, die ganz lustig waren. Das Chaos, dass das Ganze so anziehend macht, verwandelt es gleichzeitig auch in einen Ort, an dem jeder jeden ständig beleidigt und die Trolle freie Hand haben. Das Ugandan-Knuckles-Meme ist natürlich überall, aber mir sind bei meinem Experiment auch ungefragt Penisse begegnet gesehen und fremde User haben mich wegen sexueller Gefälligkeiten angegraben. Eine Tour durch VRChat ist ein surreales Erlebnis, das all die niederen Instinkte des Internets hervorbringt.

Sich das erste Mal in den VRChat einzuloggen fühlt sich in etwa so an, wie der Anfang einer klassischen Cyberpunk-Horrorgeschichte aus den 90ern. Auch die schlechte Grafik passt dazu. Es ist kinderleicht, das Menü zu öffnen und durch ein Dutzend nutzergenerierter Inseln, Cafés, Comedy-Clubs, Kerker und Wälder zu reisen.

Ich bin durch ein Portal gegangen, das mich auf eine Insel voller Knuckles gebracht hat, die zwischen meinen Beinen hindurch gerannt sind, während sie mit ihren Zungen geschnalzt und mich gefragt haben, ob ich den Weg kenne. Von da aus habe ich ein Portal zu einer Umkleide genommen, die voller Meme-basierter Avatare zur freien Nutzung stand. Hier habe ich dann auch die Persona übernommen, mit der ich mich den Rest der Reise über durchs Spiel bewegt habe – ein 2D-Ausschnitt von Ben Swolo.

Aus dem Umkleideraum bin ich dann zur Nachbildung einer Kreuzung in eine typisch japanische Stadt gereist. Die anderen Avatare dort haben sich um mich herum versammelt und sich über mein Aussehen lustig gemacht und anzügliche Kommentare gemacht. Und als ich mich umgedreht habe, stand plötzlich ein merkwürdiger, kastenförmiger Avatar vor mir, dessen Penis raushing.

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Umgeben von seltsamen Gestalten verließ ich die Kreuzung und ging durch die exakte Nachbildung des Steinblumen-Schreins aus Nier: Automata. Ein Alphonse-Eric-Avatar aus dem Anime Fullmetal Alchemist saß auf dem Boden und starrte die Blumen an. Ich sprang aus diesem Raum in den eingangs erwähnten Mickey-Mouse-Irrgarten, dann in ein billig aussehendes Chuck-E-Cheese-Restaurant, in dem Avatare vor einem Bildschirm tanzten, auf dem wiederum Chuck-E-Cheese-Videos liefen.

"Die meisten Spieler wollen Chaos verursachen und sich darin verlieren"

Eine Stunde später saß ich mit einem Dutzend Ronald McDonalds und einem Panzer in einem Kino und schaute die George-Romero-Version von Dawn of the Dead. Der Panzer sprach die ganze Zeit russisch und ich bat ihn, still zu sein, weil ich den Film gucken wollte. An diesem Punkt wurde mir klar, dass ich mich ausloggen muss. Ich hatte wertvolle Stunden meines Lebens in dieser bizarren VR-Welt verloren, und ich hatte nicht mal ein Headset auf. Das Erlebnis machte süchtig.

"VRChat scheint gerade aufgrund von drei Faktoren durchzustarten, die zu einem perfekten Sturm viralen Wachstums beigetragen haben”, schrieb Wagner James Au, Autor von The Making of Second Life und des VR-Blogs New World Notes, uns in einer Mail.

“[Es] macht den Nutzern möglich, via Unity SDK [einem beliebten Tool für Gamer] ihre eigenen Avatare hochzuladen”, sagte er. “[Es] kann auch von Nutzern ohne VR-Headset gespielt werden, was mehr Leuten ermöglicht, mitzuspielen. YouTube- und Twitch-Streamer haben dieses Potenzial dieser frei gestaltbaren Anarchie entdeckt und verrückte VRChat-basierte Videos gemacht, die schnell viral gegangen sind.”

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James Au erkannte noch einen weiteren Vorteil von VRChat: Auf anderen sozialen VR-Plattformen wird es den Nutzern nicht so leicht gemacht, Avatare zu entwickeln. “Viele [Entwickler] scheinen das Pferd von hinten aufzuzäumen”, sagte er. “Sie konzentrieren sich darauf, eine wirtschaftliche Infrastruktur zu entwickeln, obwohl es noch kaum jemanden gibt, der sie nutzen könnte.” Doch die meisten Gamer interessiert das überhaupt nicht, sagt Au. “Sie wollen direkt ins Spiel einsteigen, mit dem System spielen, Chaos verursachen und sich darin verlieren und Spaß miteinander haben.”

Chaos ist tatsächlich eines der charakteristischsten Merkmale des VRChat, doch nicht alle haben Spaß daran. Die Offenheit der Plattform hat dazu geführt, dass ein seltsamer, Internet-spezifischer Rassismus und eine Frauenfeindlichkeit gedeihen konnten. Frauen auf der Plattform haben berichtet, dass sie Beschimpfungen und Übergriffe erlebt haben, die leider typisch für Online-Videospiele und Soziale Medien sind. Die VR-Game-Designerin Katie Chironis hat auf Twitter ein zweiminütiges Video hochgeladen, in dem zu sehen ist, wie sie belagert und belästigt wurde, nachdem sie sich in einem Bereich des VRChats ihre Meinung gesagt hatte.

“Die Leute wissen, dass Frauen und People of Color ‘theoretisch‘ öfters beleidigt werden, aber so sieht es wirklich aus”, schrieb Chironis auf Twitter. VRChat ist ihrem Post nachgegangen und hat seitdem ein Feature hinzugefügt, das automatisch alle stumm schaltet, mit denen der Nutzer nicht befreundet ist. Das kann sicherlich nur eine Übergangslösung im Kampf gegen Hass im Netz sein – aber immerhin gibt VRChat zu, dass es ein Problem gibt und arbeitet daran.

VRChat steht für die wilde Anfangszeit des Internets

Es war fantastisch, durch die unterschiedlichen McDonald’s Restaurants, Cafe Leblanc aus Persona 5 und Dalaran aus World of Warcraft zu laufen. Hüpfende, als Knuckles verkleidete Weirdos, die mich darum gebeten haben, sie zu ihrer Königin zu führen und die Portale nach “Uganda” geöffnet haben, waren aber weniger erfreulich.

Wie in den AOL-Chat-Räumen aus der Mitte der 90er Jahre steht VRChat für eine wilde und chaotische Zeit des Internets, nach der sich viele Leute sehnen. Aktuell sind VR-Erlebnisse der Wilde Westen des Internets, einer dieser merkwürdigen, unkontrollierten Orte, wo niemand genau weiß, was als nächstes passieren wird. Es wird nicht ewig so bleiben, aber bis sich etwas ändert, werden diese Ort sowohl viel Spaß machen, als auch ziemlich nervig sein.