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Die Zukunft der Erinnerung: Wie Forscher schon heute das Gedächtnis manipulieren können

Zwei neue Technologien revolutionieren das menschliche Erinnerungsvermögen. Doch wer wird sie kontrollieren – Wissenschaft, Militär oder Wirtschaft?
Fotos von Andrew White

„Da war ein Klavier, und jemand spielte. Ich konnte das Lied hören", sagte der Patient, S.B., als sein Neurochirurg mit einer Elektrode sein freigelegtes Hirn berührte. Wilder Penfield, ein Hirnchirurg des frühen 20. Jahrhunderts, behandelte Epilepsie, indem er Patienten Gehirngewebe entfernte. Im Rahmen seiner Behandlungen versetzte er hellwachen, lokal betäubten Patienten schwache elektrische Impulse in verschiedenen Hirnarealen. Sie sagten ihm, was sie dabei empfanden. Gewisse Bereiche führten dazu, dass sie Formen, Farben und Texturen sahen. Stromstöße in anderen Arealen führten zu Empfindungen im ganzen Körper.

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Doch als Penfield einen bestimmten Bereich in der Großhirnrinde schockte, erinnerten Patienten sich lebhaft an Vergangenes. Der Chirurg versetzte S.B. einen weiteren Stromstoß in jenem Bereich des Gehirns und er erinnerte sich an mehr: Jemand sang "Oh Marie" von Louis Prima. Penfield zog mit der Elektrode etwas weiter und S.B. fand sich in einem Viertel aus seiner Vergangenheit wieder: „Da ist die Limofabrik und die Bäckerei." S.B. war nur einer von vielen Patienten, die während des Eingriffs detaillierte Erinnerungen durchlebten. Nichts Außergewöhnliches, das man sich unbedingt merken müsste: Verkehrsgeräusche, ein Mann mit seinem Hund auf der Straße, ein zufällig mitgehörtes Telefonat. Die Erinnerungen waren lebhafter und spezifischer als gewöhnlich – es war mehr ein Neu-Erleben als ein Erinnern.

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Penfield war überzeugt, den physischen Speicher gefunden zu haben, in dem Erinnerungen im Hirngewebe lagern. "In den Nervenzellen des menschlichen Gehirns sitzt eine vollständige Aufzeichnung des Bewusstseinsstroms. Alles, dessen sich der Mann im Leben bewusst war, ist dort gespeichert", sagte Penfield in einem Film von 1958. "Es ist, als halte man die Elektrode an ein Drahttongerät oder einen Filmstreifen."

Penfields Vorstellung von einem lückenlosen Protokoll des gesamten Lebens im Hirn, das nur darauf wartet, mit elektrischen Impulsen abgelesen zu werden, hat sich nicht bewahrheitet. Doch das Konzept, dass sich beim Speichern von Erinnerungen eine physische Veränderung im Hirn vollzieht, wurde weiterentwickelt. Inzwischen eröffnet die Forschung immer mehr Möglichkeiten zur Manipulation und Verbesserung der menschlichen Erinnerung. Zwar haben wir noch immer nur ein extrem begrenztes Verständnis der Vorgänge im Gedächtnis, doch die Durchbrüche, die zwei Forscherteams in diesem Bereich unabhängig voneinander gemacht haben, sind erstaunlich. Sie haben falsche Erinnerungen eingepflanzt, die mit Traumata verbundene Emotionen verändern und in geschädigten Hirnen von Mäusen und anderen Tieren neue Langzeiterinnerungen ermöglichen. Eine der Methoden befindet sich bereits in der Testphase mit Menschen. Trotzdem wird es noch Jahre dauern, bis diese Techniken ausgereift sind – dennoch könnten sie den Weg in eine Zukunft weisen, in der die Menschheit Demenz und Traumata besiegen und unser natürliches Erinnerungsvermögen verbessern könnten.

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„Erinnerungen sind wie eine Skizze in einem Malbuch. Und Emotionen sind die Farben in dieser spezifischen Erinnerung."

Das wissenschaftliche Interesse in diesem Feld ist schon heute riesig. Der Forschungsarm des US-Verteidigungsministeriums, DARPA, hat 80 Millionen Dollar in die Entwicklung einer drahtlosen Prothese gesteckt, die Menschen mit Schädel-Hirn-Trauma (eine typische Kriegsverletzung) helfen soll, Gedächtnisverlust zu überwinden. Ein Start-up namens Kernel hat einen führenden Forscher angeheuert, um eine Gedächtnisprothese für den kommerziellen Markt zu entwickeln. Kernel schwebt eine Zukunft vor, in der wir Gedächtnis-Chips aus Silicium nicht nur als Therapie einsetzen, sondern auch als frei erhältliche kognitive Erweiterung.

Die Entwicklung solcher Techniken wirft eine Menge Fragen auf, viele davon ethischer Art: Wie werden die Geräte funktionieren und wer wird Zugang  zu ihnen haben? Ist eine Person mit veränderter Erinnerung noch sie selbst? Was passiert, wenn das menschliche Gedächtnis durch Maschinen vermittelt wird? Um Antworten zu finden, spreche ich mit zwei Männern, die mit für diese Durchbrüche verantwortlich sind: Steve Ramirez, ein Neurowissenschaftler an der Harvard University, der Mäusen falsche Erinnerungen eingepflanzt hat, und Bryan Johnson, der Tech-Unternehmer, dem Kernel gehört. Im Gespräch wird deutlich, dass die Perspektive aus dem Labor sich in vielen Punkten von der des Start-ups unterscheidet, was eine weitere, beunruhigende Frage nach sich zieht: Wenn das menschliche Gedächtnis von einem unlösbaren Mysterium zu einer manipulierbaren Masse geworden ist, wer bestimmt dann darüber, was wir aus diesem Wissen machen?

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Steve Ramirez, dessen Team erfolgreich Mäusen falsche Erinnerungen eingepflanzt hat. Bild: Andrew White

Ramirez hatte es zum Start seines PhD-Studiums nicht leicht: Gleich im ersten Jahr machte er eine Trennung durch. Während er versuchte, sich mit Eiscreme und Taylor Swift zu trösten, dachte er darüber nach, wie sich sein eigenes Gedächtnis gerade wandelte. Aus glücklichen Erinnerungen wurden traurige. Er wusste, dass die Trauer (die emotionale Komponente der Erinnerung) und die Informationen zu der Person (der Inhalt der Erinnerung) aus verschiedenen Hirnarealen kamen. Was, wenn man sie trennen könnte?

"Ich habe mir diese Experimente natürlich nicht auf Grund dieser Erfahrung ausgedacht", sagt Ramirez, als ich ihn in seinem neuen Büro an der Harvard University besuche. Seine eigene Erfahrung sei für ihn aber richtungsweisend gewesen, als er über die verschiedenen Bestandteile einer Erinnerung nachdachte und darüber, wie unterschiedliche Emotionen sie im Laufe der Zeit einfärben. „Erinnerungen sind wie eine Skizze in einem Malbuch", sagt Ramirez. „Und Emotionen sind die Farben in dieser spezifischen Erinnerung. Die beiden sind so gut wie untrennbar verbunden."

Um mit den verschiedenen Bestandteilen einer Erinnerung arbeiten zu können, mussten Ramirez und sein verstorbener Forschungspartner Xu Liu die Erinnerungen zuerst physisch ausfindig machen. „Diese Vorstellung existiert schon lange in unserem Feld", sagt Ramirez. "Erinnerungen sollen eine physische Veränderung hinterlassen. Manche sagen dazu ‚Spuren'." Doch Ramirez und Liu waren die ersten, die solche „Spuren" in Mäusehirnen fanden und aktivieren konnten. Der Vorgang, den sie imitieren wollten, passiert in der Natur ständig: Ein äußerer Impuls löst eine Reihe von Erinnerungen und Assoziationen aus. „Wenn wir an einer Bäckerei vorbeilaufen, erinnert uns der Kuchenduft vielleicht an unseren 18. Geburtstag", sagt Ramirez. „Das wollten wir innerhalb des Hirns hinbekommen."

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Statt Kuchen verwendeten Ramirez und Liu dazu Laser. Mithilfe eines genmanipulierten Virus brachten sie die für Erinnerungsbildung zuständigen Hirnzellen einer Maus dazu, zu bestimmten Zeitpunkten lichtempfindlich zu sein. Nachdem die lichtempfindlichen Zellen aktiviert waren, versetzten die Forscher den Füßen der Maus einen leichten Stromstoß, sodass sie diese Erinnerung abspeichern würde. Daraufhin feuerten sie einen Laser in den Hippocampus, das Cashewnuss-förmige Hirnareal, das in der Erinnerungsbildung eine zentrale Rolle spielt. Sie vermuteten, dass der Laser nur die lichtempfindlichen Zellen aktivieren würde, die mit dem Stromstoß assoziiert waren, und so eine Erinnerung auslösen würde.

Es funktionierte. Als Ramirez den Laser auf den Hippocampus der Maus richtete, zeigte sie typisches Angstverhalten, als würde sie den Stromstoß erneut erleben.

Ein Jahr darauf begannen Ramirez und Liu mit der Arbeit an „Project Inception" – dem Versuch, Mäusen falsche Erinnerungen einzupflanzen. Sie setzten eine Maus in eine Box und versetzten ihren Füßen einen Stromstoß. Gleichzeitig aktivierten sie per Laser eine neutrale Erinnerung an eine andere Box, in der die Maus früher gewesen war. Am nächsten Tag fürchtete sich die Maus in dieser ersten, eigentlich neutralen Box. Sie hatte dort nie einen Schock erlitten, doch ihre falsche Erinnerung brachte den Ort mit dem Erlebnis in Verbindung.

Der Laser, den Ramirez' Team verwendet, um Erinnerungen bei Mäusen zu aktivieren, ist unter dem Poster auf die Wand gerichtet.

Das erste Mal, dass Ramirez im Labor diese Reaktion der Mäuse beobachteten konnte, war Weihnachten 2012. „Meine Eltern warteten draußen, um mit mir zum Weihnachtsessen zu gehen", erinnert er sich. „Aber ich weiß noch, wie ich alleine im Raum stand und dachte: ‚Das ist das beste Weihnachten meines Lebens. Das hier ist unglaublich.'"

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Dieses Einpflanzen von Erinnerungen war für Ramirez' Labor erst der Anfang der Gedächtnismanipulation bei Mäusen. Vor Kurzem hat er über vorläufige Ergebnisse getwittert, die zwar noch kein Peer-Review-Verfahren durchlaufen haben, aber darauf hinweisen, dass traumatische Erinnerungen von Angstgefühlen trennbar sind.

Bei Mäusen, die sich an einen Stromstoß erinnern, können Forscher die Angst im Zusammenhang mit der Erinnerung verstärken oder abschwächen, indem sie den Laser auf verschiedene Bereiche des Hippocampus richten. Als sie die Angsterinnerung aktivierten, indem sie den Laser auf einen Bereich richteten, wurde die Angst der Mäuse verstärkt. Doch zur Überraschung der Forscher wurde die Erinnerung mit einer anderen Lasereinstellung weniger verstörend. „Wir haben diese aversive Erinnerung im oberen Teil des Hippocampus gefunden und sie dann immer wieder aktiviert. Dann steckten wir das Tier in die Umgebung, vor der es sich hätte fürchten müssen, aber es hatte keine Angst mehr."

Ramirez vergleicht diesen Durchbruch in unserem Gespräch mit seiner Trennung aus der Studienzeit. Nachdem er dort mit seiner Freundin Schluss gemacht hatte, sei sein Lieblingscafé für ihn zu einem traurigen Ort geworden, obwohl er die Erdnussbutter-Bananen-Sandwiches doch so liebte. Er ging also trotzdem weiter hin, und irgendwann verblich die schmerzliche Assoziation. Das wiederholte Aktivieren der Schmerzerinnerung der Maus vergleicht er mit seinen zahlreichen Besuchen in dem Café. Hier passiert etwas ähnliches wie bei der Konfrontationstherapie, in der Patienten in einer sicheren Umgebung lernen, mit den angstauslösenden Reizen umzugehen. Nur dass hier anstatt des Reizes ein Laser zum Einsatz kommt.

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In nächster Zeit will Ramirez seine Tierversuche fortsetzen und anfangen, die Gedächtnismanipulation als Behandlung für psychische Krankheiten einzusetzen. Von der Arbeit im Tiermodell will er zu Versuchen an Menschen übergehen – dann müsse die Behandlung aber nicht unbedingt mit Lasern erfolgen, betont er. Im Fall von PTBS ließe sich laut Ramirez „das negative emotionale Gewicht der traumatischen Erfahrungen reduzieren". Letztendlich möchte er, dass wir das Gedächtnis mit neuen Augen sehen. „Können wir Erinnerung nicht nur als kognitives Phänomen sehen, sondern auch als potenzielles Antidepressivum oder Beruhigungsmittel? Können wir Gedächtnismanipulation als Therapie bei Problemen wie PTBS sehen?", fragt er. „Wenn wir Lamborghinis sind, dann sind die Tierhirne Dreiräder", sagt Ramirez, „aber es gibt sehr viele Gemeinsamkeiten – wie die Räder sich drehen, wie man lenkt und so weiter." Er ist sich sicher: „In dem Maß, in dem wir das bei Tieren machen können, ist das Gedächtnis auch lenkbar."

Er sieht ein, dass diese Art von Forschung recht bedrohlich wirken kann. Doch während jemand Angsterinnerungen missbrauchen könnte, um zu foltern oder zu manipulieren, können wir laut Ramirez stattdessen auch „positive Erinnerungen aktivieren und neutrale Gedächtnisinhalte mit positiven Reizen verbinden. Es funktioniert in beide Richtungen." Er fährt fort: „Ich nehme hier immer gern Wasser als Beispiel. Es ist das wichtigste Lebensmittel, wir brauchen es. Aber es kann auch zur Folter eingesetzt werden. Alles kann guten oder bösen Zwecken dienen."

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Mit diesem Gerät implantiert Ramirez Mäusen Glasfasern ins Gehirn.

Bryan Johnson ist der Gründer und CEO von Kernel. Das Start-up bezeichnet sich selbst als "eine Firma für menschliche Intelligenz". Das Hauptquartier befindet sich in einem Viertel von Los Angeles, das Silicon Beach genannt wird. Drinnen sieht es aus wie in einer typischen Internetfirma: Weiße Männer in Jeans, Hoodies und Turnschuhen laufen durch ein Großraumbüro mit Schreibtischen und Stehpulten. Die helle kalifornische Sonne durchflutet den Lobby-Bereich, wo auf dem Kaffeetisch ein hochwertiger Lautsprecher und eine Schädelskulptur stehen. Auf Whiteboards sind kryptische Weisheiten zu lesen. Trotzdem ist Kernel keine typische Tech-Firma. Das Unternehmen will menschliche und künstliche Intelligenz kombinieren, sodass die Menschheit ihre kognitiven Fähigkeiten erweitern und ihre eigene Evolution steuern kann.

Sein Startkapital verdiente Johnson, indem er eine Firma für Onlinezahlung gründete und später für 800 Millionen Dollar an PayPal verkaufte. Außerdem hat er 100 Millionen Dollar aus eigener Tasche in Kernel investiert. Insgesamt will er 1 Milliarde an Investitionen sammeln und in den nächsten 10 bis 15 Jahren vier Human-Intelligence-Produkte auf den Markt bringen. Außerdem hat er 100 Millionen Dollar in OS Fund investiert. Dieser Venture-Capital-Fonds will „die Betriebssysteme des Lebens neu schreiben" und investiert in Biotech-Firmen, die sich mit Themen wie Genetik und Langlebigkeit befassen. Zwar bezeichnet Johnson sich nicht wie Peter Thiel oder Ray Kurzweil als Transhumanist, doch ihre Ziele sind sehr ähnlich: Sie wollen die menschliche Intelligenz in die Lage versetzen, sich mit der künstlichen weiterzuentwickeln.

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"Können wir Erinnerung nicht nur als kognitives Phänomen sehen, sondern auch als potenzielles Antidepressivum oder Beruhigungsmittel?"

Kernel befasst sich mit verschiedenen Bereichen wie Motorik, Lernen und Erinnerung (es gibt noch andere, doch über die will Johnson noch nicht sprechen). Der Chief Science Officer von Kernel, Theodore Berger, ist Professor für Biomedizintechnik und Neurowissenschaft an der University of Southern California. Er arbeitet an einer Gedächtnisprothese für Patienten, die Probleme bei der Bildung von Langzeiterinnerungen haben. Als Johnson und Berger einander kennenlernten, vergaßen sie laut Johnson die Zeit. "Berger hat dieselbe Vision wie ich", erklärt Johnson. „Die potenzielle Programmierbarkeit des neuralen Codes, die Arbeit mit unserem neuralen Code, um bestimmte Ergebnisse zu erzielen." Die Bezeichnung „Code" für Hirnaktivität ist auch unter technikaffinen Neurowissenschaftlern eher ungewöhnlich und zeugt von Johnsons Silicon-Valley-Hintergrund.

Egal ob die Ursache Demenz, Schlaganfall oder Epilepsie ist, wer Schwierigkeiten damit hat, Langzeiterinnerungen zu bilden, leidet an einer Fehlfunktion des Hippocampus. Dieser wandelt Kurzzeit- in Langzeiterinnerungen um und sendet sie an andere Hirnareale, wo sie gespeichert werden. Es handelt sich dabei um denselben Cashew-förmigen Bereich, auf den Ramirez im Mäuseexperiment seinen Laser richtete. Berger nennt die Form unserer Erinnerungen im Gehirn „Raum-Zeit-Codes". Bei unserem Telefonat demons­triert er sie durch ein rhythmisches Piepsen; der Code sei mit Morsecode vergleichbar.

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Laut Berger hat dieser Code eine Form, wenn er von den Sinnessystemen in den Hippocampus gelangt, und eine andere Form, wenn er aus dem Hippocampus fließt, um als Langzeiterinnerung gespeichert zu werden. Berger erstellte mathematische Modelle, die diese Umwandlung nachahmen, ohne zunächst zu verstehen, warum sie überhaupt stattfindet. Laut Berger war das, „als würde man Regeln fürs Übersetzen von Chinesisch ausmachen wollen, ohne Chinesisch zu beherrschen".

In Tierversuchen hat Berger die Verarbeitung dieser Gedächtniscodes mithilfe eines Implantats nachstellen können. Auf dem Implantat läuft sein Algorithmus, der als eine Art Hippocampus-Prothese fungiert. Um das Gerät zu testen, setzte er es Ratten und Affen ein, deren Hippocampus deaktiviert war. Die Ratten sollten eine Reihe von Hebeln betätigen, um eine Belohnung zu erhalten; die Affen führten eine komplexere Gedächtnisaufgabe an einem Bildschirm durch. Obwohl die Tiere auf natürlichem Wege keine Langzeiterinnerungen formen konnten, kannten die Ratten zu einem späteren Zeitpunkt noch die Hebelsequenz und auch die Affen verließen sich auf Erinnerungen, die das Gerät umgewandelt hatte.

Berger, der 1976 an der Harvard University promovierte, sagt in Vorträgen in letzter Zeit häufiger, er könne nicht fassen, dass die Forschung so weit fortgeschritten sei. Je komplexer die Spezies, desto komplizierter wird auch der Vorgang. "[Affen] sind größer und natürlich komplexer – also wurde es auch schwieriger, ein Modell zu erstellen", sagt er. Berichten von Wired zufolge finden inzwischen auch Versuche an Menschen statt.

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Das Mikroskop, das Ramirez' Team einsetzt, wenn es Mäusen Glasfasern ins Gehirn implantiert.

„Vor langer Zeit haben sie mich verrückt genannt", sagte Berger 2013 der MIT Technology Review. Johnson bestätigt, dass diese Skepsis unter Neurowissenschaftlern verbreitet ist; sie wüssten, wie lange die Menschheit gebraucht hat, um auf den heutigen Wissensstand zu gelangen, und übten „angemessene Vorsicht". Doch Johnson ist kein Skeptiker. Die Neurowissenschaft ist für ihn Neuland, und da er aus der Wirtschaft und nicht aus dem Labor komme, habe er „einen Optimismus, der anderen fehlt. Ich mache mir nichts vor [was die Schwierigkeit angeht] – ich halte es nur für machbar und finde, wir sollten es tun."

Auf seinem Blog schrieb Johnson über seinen ersten Besuch auf dem Burning Man. Er machte sich Sorgen, "zu konservativ und zugeknöpft" zu sein, um das Wüstenfestival richtig zu genießen. Er wirkt tatsächlich etwas polierter als der durchschnittliche "Burner", doch sein etwas konservativer Stil steht im Kontrast zu seinen Geschäftsideen, die durchaus radikal sind. Er will die menschliche Intelligenz erweitern, damit unsere Maschinen uns nicht eines Tages abhängen. "Wenn ich mir ansehe, wie schnell sich die künstliche Intelligenz entwickelt und wie langsam dagegen die menschliche Intelligenz, gefällt mir das gar nicht." Er sei kein KI-Panikmacher, der fürchte, die Maschinen hätten es auf uns abgesehen. Doch die Erweiterung der menschlichen Intelligenz sollte seiner Meinung nach eine globale Priorität sein. Anstatt mit unseren veralteten Gehirnen neues Werkzeug zu erschaffen, sollten wir gleich das Hirn updaten.

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Johnson berichtet davon, wie er mit 21 Jahren von einer zweijährigen Mission in Ecuador zurückkehrte. "Ich kam mit einem brennenden Wunsch zurück, Leben zu verbessern", sagt er. Er sei bei der menschlichen Intelligenz gelandet, weil dies "die wertvollste und mächtigste Ressource der Welt" sei.

Johnsons und Ramirez' Ansichten darüber, wer über gedächtniserweiternde oder -beeinflussende Technik verfügen sollte, gehen auseinander. „Wenn das jemals real wird", sagt Ramirez, „sollte es idealerweise im medizinischen Bereich bleiben, im Kontext neurologischer Störungen. Ein Psychiater gibt auch nicht der gesamten Bevölkerung Antidepressiva, sondern nur Patienten, die sie brauchen." Dieselbe Logik sollte seiner Ansicht nach für jegliche Gedächtnistechnologie gelten, die aus seiner Forschung hervorgeht. Zwar könne sie für gewisse psychische Störungen, zum Beispiel PTBS, nützlich sein, aber „man gibt sie nicht einfach [irgendwem], um über eine Trennung hinwegzukommen".

Das sieht Johnson ein wenig anders. Zwar akzeptiert er, dass die Technik bei therapeutischen Maßnahmen für Menschen mit kognitiven Schwächen anfangen wird, doch er hofft, dass sie darüber hinauswachsen kann. Irgendwann, so hofft er, werden Gedächtnisprothesen, wie Berger sie entwickelt, jeder Person zugänglich sein, die eine geistige Erweiterung wünscht. Das alles klingt abwegig, vor allem kombiniert mit dem Plan, ein solches Gerät innerhalb eines Jahrzehnts auf den Markt zu bringen, doch Johnson trägt seine Vorhaben sachlich und präzise vor. „Es gibt bereits einfache Formen der kognitiven Erweiterung", erklärt er. „Wenn jemand ein Kind in eine gute Privatschule steckt, ist das eine Form der kognitiven Erweiterung. Ein Nachhilfelehrer ist ebenfalls eine Form der kognitiven Erweiterung." Für Johnson liegen Bildung und Technik auf demselben Spektrum der kognitiven Erweiterung; die Technik stellt lediglich eine Steigerung der herkömmlichen Methode dar.

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Du wärst effizient, dein Potenzial unendlich erhöht. Aber wärst du noch ein Mensch?

Und er glaubt, dass andere es in Zukunft auch so sehen werden. „Stell dir ein Szenario vor, in dem ich Gedächtniserweiterungen habe und du nicht", sagt er. "Oder mein Kind hat welche und deines nicht – das kann man nicht hinnehmen." Ich finde es schwer vorstellbar, dass die Massen sich bereitwillig Maschinen ins Hirn einsetzen lassen werden – bis ich mich an die vielen Leute erinnere, die ohne Rezept oder Diagnose versuchen, ihre Produktivität mit Medikamenten zu steigern. Oder mit Sudokus und allen möglichen Handy-Apps versuchen, der Senilität beizukommen.

Johnsons Stiefvater hat Alzheimer-Symptome, und "zusehen zu müssen, wie er sein Menschsein verliert", wie Johnson dazu sagt, motiviert seine Arbeit bei Kernel zusätzlich. Bei aller Skepsis gegenüber einer Zukunft, in der das Gedächtnis durch Technik vermittelt wird, lässt sich schwer gegen Entwicklungen argumentieren, die bei schweren Krankheiten Abhilfe schaffen.

Vor mehr als zehn Jahren veröffentlichte der Philosoph Michael Sandel in The Atlantic „The Case Against Perfection". Auf Deutsch erschien "Plädoyer gegen die Perfektion" 2008 als Buch. Er schrieb, aus ethischer Perspektive bestünde bei der Gedächtniserweiterung „die Sorge um den Zugang", also um die Klassenunterschiede, die aus extremen kognitiven Vorteilen entstehen könnten. Doch er hatte mit der Vorstellung ein noch grundlegenderes Problem: „Ist das Szenario verstörend, weil die Armen ohne Implantat nicht an den Errungenschaften der Biotechnik teilhaben können, oder weil die Reichen mit Implantat irgendwie ihre Menschlichkeit verlieren?", fragte er. Stell dir vor, du könntest wie in Black Mirror durch dein gesamtes Gedächtnis spulen, als sei es ein Instagram-Feed, und sofort auf jedes Ereignis zugreifen, statt dich auf einen Nebel aus schemenhaften Informationen zu verlassen, aus dem hier und da wichtige Momente klar hervorstechen. Du wärst effizient, dein Potenzial unendlich erhöht. Aber wärst du noch ein Mensch?

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Bryan Johnson, der Gründer und CEO von Kernel, einem Start-up, das an einem Implantat zur Verbesserung des menschlichen Gedächtnisses und anderer Hirnleistungen arbeitet. Foto von Sergiy Barchuk

Im Februar 1975 versammelten sich etwa 140 Forscher sowie Philosophen, Journalisten und Juristen in Asilomar State Beach, Kalifornien. Sie wollten Richtlinien für eine neue Technik aufstellen: Experimente mit rekombinanter DNA. Organisiert hatte die Konferenz Paul Berg, ein Molekularbiologe, der freiwillig seine Forschung auf Eis legte, als seine Kollegen sich sorgten, er könnte einen Virus mit E.coli kombinieren, der aus dem Labor entkommen und eine Epidemie auslösen könnte.

Damals wusste die Öffentlichkeit noch nichts mit Themen wie Gentechnik anzufangen. Die Bezeichnung „Gentechnik" fiel zum ersten Mal in den 1950ern, allerdings nicht in einer wissenschaftlichen Publikation, sondern in einem Science-Fiction-Roman. Die Versuche Bergs und seiner Zeitgenossen, DNA zu verändern, waren damals ähnlich bahnbrechend wie Ramirez' und Bergers Gedächtnisforschung heute. Den Beteiligten war klar, dass sie an der Schwelle zu einer Revolution ihrer wissenschaftlichen Disziplin standen. Weniger klar war ihnen, wie sie diese Entwicklungen erforschen sollten, ohne "Arbeiter in Fabriken, die Allgemeinheit und die Tiere und Pflanzen unseres Ökosystems" zu gefährden. Genau diese Frage sollte die Konferenz beantworten. Die Vorträge waren leidenschaftlich. Berg schrieb später: "Lebhafte Diskussionen fanden auch in den Pausen statt, bei Mahlzeiten, bei Drinks und bis in die frühen Morgenstunden." Aus diesen Gesprächen gingen Richtlinien hervor, die unterschiedlich strenge Vorsichts- und Sicherheitsmaßnahmen für genetische Versuche vorschrieben. Ebenso wichtig war die so angestoßene öffentliche Debatte, die dafür gesorgt hat, dass die Gesetze und Gesellschaftsnormen im Hinblick auf Gentechnik mit der technischen Entwicklung mithalten konnten.

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Die Asilomar-Konferenz und die daraus resultierende Genetik-Debatte basierten auf dem Vorsorgeprinzip. Dieses besagt, dass die Befürworter einer neuen Technik oder eines neuen Produkts, das Mensch oder Umwelt gefährden könnte, erst beweisen müssen, dass es sich um unbedenklichen Fortschritt handelt. Im Grunde läuft es auf dasselbe hinaus wie das hippokratische Prinzip, nach dem ein Heiler vor allem nicht schaden darf. Es handelt sich um eine ethische Haltung, die Sicherheit vor Effizienz stellt. Doch während vielleicht Mediziner und Umweltschützer so denken, sehen Risikoanleger die Welt ein wenig anders.

Vor 20 Jahren verglichen Schlagzeilen das Klon-Schaf Dolly mit Frankensteins Monster. Heute nutzen wir Heimtests zur genetischen Ahnenforschung und diskutieren die Feinheiten der Epigenetik. Es ist gut möglich, dass wir die Möglichkeiten der Gedächtniserweiterung im Laufe ihrer Entwicklung ähnlich gelassen akzeptieren werden. Doch sie kann sich nur unter bestimmten Bedingungen in eine sichere und gerechte Richtung entwickeln. 2008 veröffentlichte Berg ein Essay in der Fachzeitschrift Nature. Er erinnerte daran, wie die Asilomar-Konferenz die Weichen für Jahrzehnte sicherer, produktiver Forschung in der Genetik gestellt hatte. Doch er bezweifelte, dass ein ähnliches Treffen heute helfen könnte, die aktuellen Herausforderungen in der Gentechnik zu bewältigen. Nicht aufgrund der fachlichen Inhalte, sondern aufgrund der Bedingungen, unter denen die Forscher heute arbeiten. Die Asilomar-Teilnehmer in den 1970ern kamen hauptsächlich von öffentlichen Einrichtungen. Sie konnten, so Berg, "ihre Meinung zum Ausdruck bringen, ohne ständig auf der Hut zu sein". Er machte sich Sorgen, die zunehmende Privatisierung der Wissenschaft könnte ehrliche Gespräche über die Risiken verschiedener Forschungszweige unterbinden.

Unabhängig voneinander erwähnen sowohl Ramirez als auch Johnson die Parallele zwischen der Gedächtnis- und der Gentechnik. „Das Humangenomprojekt brauchte Jahre und bis das Genom entschlüsselt war, gab es genug Gesetze, um zu verhindern, dass die Welt wie in Gattaca wurde", sagt Ramirez. "Hier ist es genauso. Wir führen die Diskussion über Jahrzehnte, bevor diese Dinge möglich sein werden, damit die Welt später für die Veränderung bereit ist."

Die Laserquelle, die in Ramirez' Versuchen zum Einsatz kommt.

Johnson richtet zwar ebenfalls den Blick auf die Genetik, doch er kommt zu einem anderen Schluss. Seiner Meinung nach sind die USA im Hinblick auf diese Technologie zu konservativ. „Als uns aufging, dass wir genetischen Code verändern und potenziell Designer-Babys schaffen können, gab es eine große öffentliche Debatte – in den USA sagten wir: ‚Das passt nicht wirklich zu unseren Werten.' Derweil dachte man in China: ‚Interessant …'"

Eine Woche vor unserem Gespräch war bekannt geworden, dass Forscher der Sichuan-Universität mit der CRISPR-Gentechnik Krebs bei Menschen behandeln, indem sie den Patienten veränderte weiße Blutkörperchen injizieren. Im Dezember 2015 hatte eine internationale Forscherkoalition zu einem freiwilligen Moratorium aufgerufen: Man wollte CRISPR-Technik nicht so einsetzen, dass Genveränderungen an die Kinder der Patienten vererbt werden können, bis die Risiken nicht besser erforscht wären. Doch die chinesischen Forscher hatten das Moratorium nicht unterzeichnet und arbeiteten einfach trotzdem mit der neuen Technik. Natürlich könnte man es schwer „hinnehmen", wie Johnson dazu sagt, wenn ein Land den Krebs besiegen würde und andere Länder nicht mitzögen. Gleichzeitig ist es ein wenig furchteinflößend, dass jemand, der die Herangehensweise der USA in puncto Gentechnik zu vorsichtig findet, nun neue Biotechniken entwickelt. Das Gehirn ist noch einmal komplexer als das Genom. Wir wissen erst einen Bruchteil darüber, wie die 86 Milliarden Neuronen in unserem Gehirn verzweigt sind und sich miteinander verständigen. Wenn wir uns in etwas einmischen, das alles von der Pupillenweitung bis hin zum Intellekt kontrolliert, scheint Vorsicht mehr als geboten.

Die menschliche Intelligenz wird laut Johnson „einer der größten Märkte aller Zeiten. Hier geht es um unser Lernvermögen, unser Gedächtnis, unsere Evolution sowie unsere Kommunikation. Es wird ein sehr großer Markt. Wir können erfolgreiche Projekte und riesige Profite aufbauen." Gegen Johnsons Optimismus spricht, dass ein Supergedächtnis, wie es ihm vorschwebt, angesichts der Komplexität des Gehirns sehr schwer zu erreichen sein wird. Gleichzeitig wissen wir nicht, welche Langzeitfolgen Gedächtniserweiterungen für das Hirn haben können. Somit ist es alles andere als sicher, dass diese Technik sich als Gebrauchsgut durchsetzen wird. In der Zwischenzeit ist es wichtig, ehrlich und umfassend über die Vorteile und Risiken zu sprechen. Solche Debatten sind laut Berg nur dann möglich, wenn Forscher auch offen über ihre Arbeit sprechen können, ohne sich um ihre Forschungsgelder zu sorgen.

„Ist das Szenario verstörend, weil die Armen ohne Implantat nicht an den Errungenschaften der Biotechnik teilhaben können, oder weil die Reichen mit Implantat irgendwie ihre Menschlichkeit verlieren?"

Einstige Science-Fiction-Ideen wie der Gedächtnis-Chip aus Silicium und die Gedächtnismanipulation mit Lasern werden langsam zu Realität, und wir Menschen müssen gemeinsam entscheiden, wie wir damit umgehen wollen. Wir bräuchten durchaus eine moderne Asilomar-Konferenz, bei der Forscher, Mediziner, Unternehmer und Ethiker zusammenkommen und versuchen, dem Fortschritt eine Richtung zu geben. Doch in der privatisierten Forschung von heute ist eine solche Zusammenarbeit sehr unwahrscheinlich.

Die Neurologin Julie Robillard hat im Dezember im Journal of Ethics der American Medical Association über den Siegeszug der Gedächtnismanipulation geschrieben. Sie erklärt mir per E-Mail, wie wichtig es ist, dass Forscher und Ethiker bereits zu Beginn des Forschungsprozesses eng zusammenarbeiten. Außerdem sei die Vorstellung, dass ethische Überlegungen dem Fortschritt im Weg stehen, ein Mythos. Genau wie Technologie potenziell große Vorteile bringen könne, so bringe sie auch große Risiken mit sich – sowohl für Individuen als auch für die gesamte Gesellschaft. Sie warf Fragen auf, zum Beispiel wie sich die Möglichkeit, Erinnerungen zu löschen, auf die Verbrechensaufklärung oder den Umgang mit potenziell gefährlichen Häftlingen auswirken könnte. Die Gedächtnismanipulation und alle anderen Formen der Biotechnik "müssen in einem interdisziplinären Umfeld stattfinden", so Robillard.

Kernel hat aktuell 20 Mitarbeiter: Informatiker, Neurowissenschaftler, Ingenieure. Als ich Johnson frage, ob es in seinem Team auch Ethiker gebe, verwies seine Antwort zumindest auf die Zukunft: "Noch nicht."

Dieser Artikel stammt aus der VICE-Issue „The Future of Technology". Alle Artikel der Ausgabe findet ihr hier.