FYI.

This story is over 5 years old.

Tech

Wie ich die merkwürdigen Geschäftspraktiken bei Amazon ertragen konnte

Die Toilettenkabine diente nicht selten als der Ort, um mal nachzufragen, warum die Emails noch immer nicht beantwortet wurden.
Foto: Shutterstock

Weil bei Amazon hauptsächlich Männer angestellt sind, war die Herrentoilette für gewöhnlich ziemlich überfüllt. Ich habe vier Jahre bei Amazon gearbeitet, in einer Phase, in der sich die Mitarbeiterzahl rasant entwickelte.

Obwohl die Firma gerade neue Räumlichkeiten in Seattle bezogen hatte, gab es kaum Platz für alle Angestellten. Genug Schreibtische waren definitiv nicht vorhanden. Doch was noch krasser war: Es gab auch nicht genügend Toiletten für alle.

Anzeige

Bei Amazon ist die Toilette eine Erweiterung des Büros.

Die Toilettenkultur bei Amazon lag generell sehr im Argen. Ich kann natürlich nur für die Herrentoilette sprechen (zwei Urinale, zwei Kabinen). Ich habe jedenfalls mal gelernt, die Toilette als einen Ort zu betrachten, an dem man in Ruhe ein gewisses Geschäft erledigen kann und den man danach wieder verlässt.

Bei Amazon dagegen ist die Toilette eine Erweiterung des Büros. Die Leute reden auf dem Klo über ihre Arbeit, als wären sie in irgendeinem Meetingraum, in dem man halt auch noch pinkeln kann.

Feierabend per Flaschenzug

Der schrecklichste Moment in meiner Zeit bei Amazon war diese eine Mal, als ich auf der Toilette saß und einer meiner Kollegen, der in der Kabine nebenan saß, mit mir zu reden begann. Er wollte wissen, warum ich noch nicht auf seine sehr dringende Email geantwortet hatte. Ich schloss für einen kurzen Moment meine Augen und stellte mir vor, er wäre einfach nicht da. Welche Email kann so wichtig sein, dass er nicht fünf Minuten warten konnte, bis ich von der Toilette zurückkam?

Er klopfte auf die Wand zwischen unseren Kabinen und fragte, warum ich nicht antwortete—als wäre so eine Konversation von Toilettenkabine zu Toilettenkabine total normal und keineswegs eine widerliche Form der Kommunikation.

Er wurde dann auch spezifischer, erzählte, was er brauchte und sprach über ein Projekt, von dem ich noch nie etwas gehört hatte und an dem ich auch niemals mitarbeiten würde. Er hatte mich aufgrund meiner Schuhe mit jemand anderem verwechselt. Wir verließen dann beide unsere Kabinen relativ zeitgleich und er bemerkte sein Versehen. Er entschuldigte sich aber nicht, sondern erklärte nur, dass er mich für jemand anderen gehalten hatte. Beim Händewaschen lachte er und ich schwor mir, nie wieder auf die Toilette in diesem Stockwerk zu gehen.

Anzeige

Ab diesem Zeitpunkt verrichtete ich mein Geschäft nur noch auf den Stockwerken, in denen Teams mit mehr Frauen als Männern saßen.

Ab diesem Zeitpunkt verrichtete ich mein Geschäft nur noch auf den Stockwerken, in denen Teams mit mehr Frauen als Männern saßen. Amazon Apparel, Amazon Mom, Amazon Baby—in diesen Abteilungen konnte man beruhigt die Toilette aufsuchen. Wenn man wirklich Glück hatte und zum richtigen Zeitpunkt kam, war man sogar einen Moment alleine. Es war eine Befreiung von der verrückten Firmenkultur Amazons.

Die schlimmsten Etagen waren die mit den Ingenieuren. Ich sah hier regelmäßig Leute, die mit ihrem Laptop auf's Klo gingen. Sie verrichteten ihr Geschäft und schrieben dabei Code. (Ich habe nie jemanden gesehen, der seinen Laptop nach dem Stuhlgang sauber machte). Die Ingenieure plauderten über die Kabinen hinweg. Manche Leute nahmen sogar Anrufe an, während sie auf dem Klo saßen. Es war schwer zu sagen, ob die Leute stöhnten, weil sie gerade kackten oder weil sie programmierten.

Wie bei jedem Job gewöhnt man sich mit der Zeit an alle Schwierigkeiten. Dinge, die nerven, werden irgendwann zu „Marotten" und die Bürokultur wird als gegeben abgetan—„so ist es halt". Meine Stelle verlangte, dass ich Meetings in verschiedenen Gebäuden des gesamten Komplexes hatte. Mit der Zeit wusste ich, welche Teams auf welchen Stockwerken arbeiteten und entwickelte eine Strategie für meine Klogänge zwischen den Meetings.

Anzeige

Es war schwer zu sagen, ob die Leute stöhnten, weil sie gerade kackten, oder weil sie programmierten.

Eines Tages traf ich eine der Big Bosses im Fahrstuhl. Sie war eine dieser Personen, die schon seit mehr als zehn Jahren bei Amazon arbeiteten. Ich hatte außerhalb meines eigenen Teams nur wenige Freunde, aber bei den paar Malen, die ich etwas mit ihr zu tun hatte, war sie sehr positiv und hilfsbereit. Ich hielt sie für die glücklichste Angestellte von Amazon, weil sie wusste, was sie ernst nehmen musste und was nicht.

Ich war gerade auf dem Weg zur Cafeteria und fragte sie, ob sie mit mir Mittag machen wollte. Sie meinte, sie hätte schon gegessen. Sie war eigentlich gerade auf dem Weg in den ersten Stock, wo sich ihre Lieblingstoilette befand. Niemand kenne diese Toilette, erklärte sie mir. Sie fände sie großartig, weil sie nur für eine Person und nie besetzt war.

Dieses Open-Source-Hamsterrad hält dich während der Arbeit auf Trab

Etwas später am selben Tag erkundete ich den ersten Stock des Gebäudes, um genau diese Toilette zu finden, von der sie gesprochen hatte. Sie war in der Tat sehr versteckt, nicht wirklich sichtbar, und wartete darauf, von den kühnsten, abenteuerlustigsten Amazon-Mitarbeitern entdeckt zu werden. Ich fragte mich, wie viele Leute sie wohl kennen würden und ob ich irgendjemandem von ihr erzählen sollte. Das Wissen von ihrer Existenz bedeutete eine große Verantwortung für mich. Ich musste das Geheimnis gut hüten.

Diese Wochenende hat die New York Times nun ein brutales Porträt der Firmenkultur bei Amazon veröffentlicht. Meine persönliche Erfahrung war nun nicht so schlimm wie in diesem Artikel beschriebenen Dinge, trotzdem klingen sie allesamt sehr plausibel. Die Dachzeile des Artikels stammt aus Amazons eigenem Personalvideo: „Entweder passt du hierher oder nicht. Du liebst es oder nicht. Es gibt keinen Mittelweg." Diese Zeile ist der Inbegriff von Amazons Firmenkultur: Wenn dir etwas nicht gefällt, bist du das Problem.

Komischerweise gefiel es mir. Trotz der eigenartigen Toilettenkultur war meine Erfahrung bei Amazon eine positive. Ich war erfolgreich in meiner Rolle, wurde einmal befördert, bekam mehrere Gehaltserhöhungen und habe an Projekten gearbeitet, auf die ich stolz bin. Ich verließ die Firma im Guten, um eine noch bessere Gelegenheit wahrzunehmen.

Das ist selten bei Amazon. Und die Wahrheit ist, dass ich wahrscheinlich gut in die hart umkämpfte, aggressive Arbeitswelt der Firma passe, weil ich selber so bin—zumindest mehr, als ich bereit bin, offen zuzugeben. Das ist wahrscheinlich auch der Grund, wieso ich nie irgendjemandem von dieser wundervollen, geheimen Toilette erzählt habe.