Die Jagd nach den verschwundenen Drogen-Millionen von Chemical Love
Bild: Screenshot Chemcial Love

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Die Jagd nach den verschwundenen Drogen-Millionen von Chemical Love

Auf Online-Konten des ehemals größten Drogen-Webshops Europas schlummern noch über 1,6 Millionen Euro in Bitcoin. Die Polizei kann die Beute nur beobachten – an das Geld wird sie wohl nie kommen.

3,5 Millionen Euro Umsatz, über hundert Kilo Drogen, die Logistik eines mittelständischen Unternehmens – ein Jahr lang war Chemical Love eine der größten europäischen Drogenbanden der Internet-Ära. Um die Hintermänner des Webshops aufzuspüren, setzten die Ermittler ein ganzes Arsenal an Überwachungs- und Analyse-Tools ein: Telekommunikationsüberwachung (TKÜ), Funkzellenabfragen, GPS-Tracker, Datenforensik, Hacker-Software, beschlagnahmte E-Mail-Accounts und Server. Seit März wird den mutmaßlichen Hintermännern der Prozess vor dem Landgericht Landau gemacht.

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Doch die Frage, an der sich Cybercrime-Abteilungen, Datenforensiker und Drogenfahnder bis heute die Zähne ausbeißen: Wo stecken die Millionen-Gewinne aus dem Drogenverkauf?

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Bislang konnte die Staatsanwaltschaft nur einen geringen Teil der Beute beschlagnahmen, um genau zu sein: 1,59 BTC – aktuell also etwas über 3000 Euro. Noch frustrierender: Ein Teil des Gewinne liegt hinter einer Matrix aus kryptographischen Knoten – der Blockchain. Das heißt, die Ermittler können das Geld sehen, es liegt buchstäblich vor ihren Augen, einsehbar von jedem Monitor von überall auf der Welt – aber greifbar nur für diejenigen mit Passwort. Anders gesagt: Die Ermittler können sich im Safe von Chemical Love umschauen, aber sie dürfen nichts mitnehmen. Ohne Zugangscodes bleibt das System Bitcoin mit seiner Firewall aus komplizierten mathematischen Funktionen unüberwindbares Hindernis.

Klar ist, eine Beschlagnahmung der Konten würde sich für den Staat lohnen: Die Gesamtsumme aller Chemical Love zugeschriebenen Bitcoin-Adressen beziffern die Ermittler auf 757 BTC – nach heutigem Kurs rund 1,6 Millionen Euro.

Kreative Buchhaltung der Dealer

Dabei hatten die Ermittler zunächst Glück: Bei der Razzia im Drogendepot der Bande am 14. April 2016 im pfälzischen Rülzheim konnten die Einsatzkräfte nicht nur kiloweise Stoff beschlagnahmen, sondern auch zahlreiche Datenträger. Darunter: der Jackpot – das MacBook Air des mutmaßlichen Bandenchefs und Sohn des Ex-Kickers Walter Kelsch. Über den Rechner konnten die Ermittler auf die Electrum-Software zugreifen, die sämtliche Geldströme und Bitcoin-Adressen des Shops katalogisierte.

Mutmaßlicher Drogen-Boss Kelsch junior a.k.a. z100 mit seinem Anwalt Achim Bächle. Foto: Daniel Mützel.

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Die Datenanalyse, insbesondere das Auslesen der Bitcoin-Datei "wallet.dat", führte den Ermittlern vor Augen, auf welchem Level die Chemical-Love-Bande operierte: Zwischen Mai 2015 und Mai 2016 konnten so insgesamt 8.102 Einzahlungen in Höhe von 6.050 Bitcoins festgestellt werden, umgerechnet rund 3,5 Millionen Euro (zum damaligen Kurs). "Abgänge" – Überweisungen auf andere Bitcoin-Adressen, etwa um Lieferanten zu bezahlen oder Geld zu waschen –, beliefen sich auf 1,6 Millionen Euro.

Doch auch wenn die Datenanalyse die Ermittler tief in die Finanzarchitektur des Shops führte, mit über hundert Wallets und tausenden Bitcoin-Adressen, und Beträge, Daten und Kontobewegungen in mathematischer Präzision dokumentierte – an das Geld kommen sie bis heute nicht. Ohne die entsprechenden Zugangscodes bleibt der Bitcoin-Client reines Anschauungsobjekt. Den Ermittlern stehe lediglich die "watching-only"-Funktion der Electrum-Software zu Verfügung, wie der Analysebericht nüchtern feststellt.

So sieht es aus, wenn der Staat Bitcoins beschlagnahmt – "dinglicher Arrest" im Polizeijargon.

Auch die Bemühungen der Behörden, an den privaten Schlüssel der Bitcoin-Adressen zu gelangen, scheiterten. So schrieb der ermittelnde Staatsanwalt Alexander Fassel am 27. Januar 2017 an den Anwalt des mutmaßlichen Chemical-Love-Bosses, ob sein Mandant mittlerweile bereit sei, das Passwort für den Electrum-Client herauszurücken. Andernfalls beabsichtige er eine externe Firma mit dem Knacken der Codes zu beauftragen und die Kosten im Fall einer Verurteilung auf Kelsch junior abzuwälzen. Doch die sanfte Drohung aus Koblenz hat offenbar nicht gefruchtet. Zwei Monate zuvor hatte auch die Polizeidirektion Hannover einen solchen Schritt abgelehnt – "mangels ausreichender Erfolgsaussicht", so ein internes Papier.

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Bitcoin-Waschen in Mülltüten

Selbst wenn die Staatsanwaltschaft es zuletzt schaffen sollte, an die virtuelle Rest-Beute von Chemical Love zu kommen: Wohin der Löwenanteil der umgesetzten Drogen-Millionen gegangen ist, wird wohl auch nach einem Urteil ein Rätsel bleiben.

50 Kilo Speed für 316 BTC (rund 110.000 Euro) – vermutlich wurde hier die Rotterdamer Quelle bezahlt.

Zumindest anhand der meist genutzten Wallets des Webshops lässt sich die Spur des Geldes einigermaßen nachzeichnen: Mit dem einen bezahlte Chemical Love vermutlich einen Großdealer aus Rotterdam für ein Paket über 50 Kilo Speed, das die Beschuldigten wenige Stunden vor der Razzia in den Rülzheimer Bunker schaffte; über ein zweites Wallet sicherte sich Chemical Love das Verkaufs-Monopol auf der Plattform Crimenetwork.biz; und das Wallet mit der Kennung 3a76d28cf1, ehemals 1,4 Millionen Euro schwer, wurde laut Ermittlungsakte mehrfach für Geldwäschezwecke genutzt, etwa über Bitcoin-Wechselstuben oder Wettbüros.

Bitcoin-Wäsche – das ist der Moment, in dem die komplizierten mathematischen Funktionen des Kryptogeldes sich in einen simplen, haptischen Gegenstand verwandeln: eine Tüte gefüllt mit Euro-Scheinen etwa, die Kelsch junior nach einem geheimen Treffen im Auto verstaut haben soll, wie der Fahrer des Wagens, Denis T., in seiner Vernehmung schilderte: Bei einer Geldübergabe in Frankfurt Anfang 2016 habe Kelsch zunächst eine Bitcoin-Überweisung auf seinem Rechner getätigt, bevor er zu einem "Chinesen" ins Auto gestiegen und schließlich mit einer "Mülltüte" voller Geld zurückgekehrt sei.

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Dass sich auf diese Weise Bitcoins waschen lassen, erfuhren auch Ermittler am Nachmittag des 14. März 2016 in Frankfurt am Main. Laut Observationsbericht der Polizeidirektion Hannover fuhren T. und Kelsch zunächst "augenscheinlich planlos durch ein Wohngebiet", bevor sie auf einem McDonald's-Parkplatz zum Stehen kamen. Kelsch ging zum Eingang des Gebäudes, rauchte und verschwand mit einer "unbekannten männlichen Person asiatischen Erscheinungsbilds" in einem Audi mit Frankfurter Kennzeichen. Nach einer halben Minute war Kelsch im Auto von T. zurück, der Deal war über die Bühne.

Später werden die Analysten der Polizei herausfinden, dass in exakt diesen Minuten 149 Bitcoins (damals circa 55.000 Euro) vom Chemical-Love-Wallet 81412e337c an die Wechselstube LocalBitcoins.com gewandert sind, eine Plattform, die Bitcoin-Anbieter und -Interessenten zusammenbringt, um ein Tauschgeschäft im realen Leben anzubahnen. Laut Ermittler ein klarer Hinweis auf eine Geldwäschehandlung.

Breitling-Uhren, Luxushotels, ein verschwundener Maserati

Eine Spur des Geldes, so vermuten die Ermittler, führt nach Serbien. Dort soll Kelsch junior, der sich häufig in Belgrad aufhielt, im März 2016 einen Maserati gekauft haben, der ursprünglich zum Fuhrpark eines bayrischen Autohauses gehörte. Der Händler bestätigte bei seiner Vernehmung, Kelsch den Sportwagen verkauft zu haben und behauptete, ein "Freund" in Serbien habe den Deal vermittelt, da dieser den Maserati zu diesem Zeitpunkt leihweise fuhr. Doch wie viel Geld an den serbischen Mittelsmann für den Maserati floss, ist nicht überliefert. Auch von dem Maserati fehlt bis heute jede Spur.

Wo hat Kelsch junior den Maserati versteckt? Symbolbild: slava296 / Shutterstock

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Klar ist, dass die Einnahmen kaum in die fürstliche Entlohnung seiner Mitstreiter geflossen sein können. Laut deren Angaben habe T. zunächst 2.000 Euro, später 3.000 Euro monatliches Grundgehalt erhalten – insgesamt 24.500 Euro im Laufe seiner Dienstzeit. Sein Bruder und Bunker-Verwalter René L. kommt laut Anklage auf 8.600 Euro Gesamtlohn. T. und L. betonen, der "Chef", wie sie Kelsch nannten, sei alleine verantwortlich für die Finanzabteilung des Drogen-Multis gewesen.

„Das Geld ist weg", vermutet ein Prozessbeobachter.

Wahrscheinlicher ist, dass Kelsch junior sich das riskante Leben als Dealer mit einem ausschweifendem Lebensstil versüßt hat, etwa mit üppigen Hotelaufenthalten: So soll Kelsch alleine in einer Nacht mehrere tausende Euro im Stuttgarter Design-Hotel Le Meridien auf den Kopf gehauen haben. Zuletzt soll der mutmaßliche Bandenchef überhaupt keinen festen Wohnsitz mehr gehabt haben. Auch zahlreiche "hochpreisige" Urlaubsreisen nach Thailand und Frankreich, Rolex-Uhren, möglicherweise Geldanlagen in Serbien, listen die Ermittler auf. Der Kicker-Sohn unterhielt einen im Allgemeinen "luxuriösen Lebensstandard", heißt es in einem internen Papier. Auch seine Lebensgefährtin, die Prostituierte Ratchanee K., berichtete in ihrer Vernehmung von regelmäßigen Zuwendungen wie Breitling-Uhren oder vierstelligen Geldgeschenken.

Drogenfund im Chemical Love-Lager in Rülzheim. Bild: Staasanwaltschaft Verden

"Das Geld ist weg", vermutet ein Prozessbeteiligter gegenüber Motherboard. Ab einem gewissen Punkt hätten die Ermittler daher die Spur des Geldes nicht weiter verfolgt.

Chemical Loves Schulden an den Staat

Gut möglich, dass das Geheimnis um die verschwundenen Drogen-Millionen von Chemical Love niemals gelüftet wird – auch wenn das Geld im Hintergrund weiterzuarbeiten scheint. So kam es beispielsweise auf dem Wallet mit der Kennung 000f553543 am 10. Mai 2016 zu einer Abhebung von 72 BTC (circa 116.000 Euro) – knapp einen Monat nach der Razzia im Rülzheimer Drogen-Bunker. Auch am 9. März 2017, dem Tag des Prozessauftakts vor dem Landgericht Landau, hob jemand Geld von dem Wallet ab. Gegenüber Motherboard nannte der leitende Ermittler der Polizei Hannover die Überweisung jedoch eine "Nebelkerze": Offenbar sollte so Kelschs Geschichte gestützt werden, es gebe einen Oberboss namens "Chino", der nun weiter im Hintergrund die Fäden zieht.

Von "Chino" hat, bis auf Kelsch junior, keiner der Prozessbeteiligten oder Angeklagten bislang etwas gehört oder gelesen.