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Der Massen-Stalker, der ein Mädchen in den Selbstmord getrieben hat

Das Schicksal der kanadischen YouTuberin Amanda Todd berührte Millionen Menschen. Gestern hat ein Richter ein hartes Urteil gegen ihren Peiniger gefällt.
Bild: Screenshot Youtube

Es war nur ein einziges Foto, das Amanda Todd alias „cutiielover" bis an ihr Lebensende und überall auf der Welt verfolgen sollte.

Amanda ist in der siebten Klasse, als die Aufnahme entsteht. Sie singt und tanzt gerne und genießt die Aufmerksamkeit, die sie über Live-Videos auf der Website Blog TV bekommt. Auf der Plattform tauschen sich neben der Kanadierin Tausende Teenager per Webcam und Chat aus. An diesem Abend im Jahr 2009 gucken Amanda 150 Menschen zu. Als sie einer ihrer Zuschauer auffordert, ihre Brüste zu zeigen, zieht Amanda kurz ihr T-Shirt hoch. Tausende Kilometer weiter macht jemand in diesem Moment einen Screenshot.

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Wenig später findet Amanda eine Nachricht in ihrem Posteingang: Ein Erpresser befiehlt ihr, sie solle für ihn eine „Show" machen. Wenn nicht, würde er das Bild an ihre Schule, ihre Freunde, Klassenkameraden und ihre Familie schicken, wie sie später in einem YouTube-Video berichtet. Ihre Adresse und alle ihre Kontakte hatte er bereits recherchiert. Nur wenige Tage später machte er seine Drohung wahr.

Fehler machen wir alle. Sogenannte Capper (von „to capture", einen Screenshot machen) sorgen dafür, dass das Internet sie nie vergisst. Sie durchkämmen das Internet nach Live-Sendungen von Minderjährigen, überreden sie zu sexuellen Handlungen und erpressen dann gezielt mit den Screenshots.

In den Niederlanden ist am Donnerstag ein Urteil gegen Amandas Capper gefallen. Aydin C. hat noch 34 anderen Mädchen auf dieselbe Art und Weise das Leben zur Hölle gemacht. Er wurde wegen sexueller Nötigung und Erpressung zu zehn Jahren und acht Monaten Haft verurteilt. Der Richter beschrieb ihn laut mehreren Nachrichtenagenturen als „hart und erbarmungslos".

Die Capper sind untereinander gut vernetzt. Amanda tauchte bald in einer Art zynischen Nachrichten-Sendung von und für Capper auf YouTube auf, in der eine sonore Stimme verkündet, welche „neuen Cam-Huren" es gerade im Internet gibt.

Die YouTube-Sendung für Capper mit Amandas Bild. Bild: Screenshot Youtube / CBS

So niederträchtig die Capper sind, war auch Amandas Umfeld nicht unschuldig an ihrem Leid. Denn ihre Mitschüler gingen mit den geleakten Nacktbildern gnadenlos um – auch, weil „cutiielover" nicht etwa vom Netz fernblieb, sondern immer wieder aufs Neue versuchte, in Live-Videos Zuspruch und Zuneigung zu bekommen.

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Als Amanda nach einem Selbstmordversuch die Schule wechselt, holt sie ihre Vergangenheit wieder ein. C. gibt sich auf Facebook als einer ihrer neuen Mitschüler aus und vernetzt sich mit anderen Schülern aus ihrer Klasse, bevor er sein Profilbild mit dem Screenshot von Amanda austauscht, auf dem sie ihr T-shirt hochzieht. Amanda wird sofort zum Schulgespräch, beginnt sich selbst zu verletzen und zieht sich immer weiter zurück.

Amandas Geschichte. Bild: Screenshot YouTube/TheSomebodyToKnow

Wie schlimm die ständigen Drohungen und Belästigungen sind, lässt sich zumindest erahnen, wenn man sich die Chat-Botschaften die Amanda bekam anschaut. Amandas Mutter Carol hat eine verstörende Nachricht aus Amandas Facebook-Account für kanadische Dokumentarfilmer ausgedruckt und damals auch zur Anzeige gebracht.

„lol, hast du vergessen wer ich bin?
ich bin der typ wegen dem du die schule wechseln musstest und wegen dem deine Tür von cops eingetreten wurde gib mir 3 shows und ich verschwinde für immer
du weißt, dass ich nicht aufhören werde, bis du mir diese 3 shows gibst wenn du auf eine neue Schule gehst, neuer freund, neue freunde, neue was-auch-immer
werde ich auch wieder da sein."

All das schreibt ein gewisser „Tyler Boo" auf Facebook.

„Wenn ich mir eine einzige Sache wünschen dürfte", so Amandas Mutter Carol in der Doku des kanadischen Senders CBC aus dem Jahr 2014 über den Fall, „dann wäre es das: Rausfinden, wer das alles ausgelöst hat". Immerhin: Dieser Wunsch wurde ihr gewährt.

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Hinter dem Alias, so ergaben die Ermittlungen der vergangenen Jahre, steckt tatsächlich der 38-jährige Niederländer Aydin C. Er „hatte mindestens 86 Facebook-Accounts unter falschen Namen, die allesamt auf seinen Anschluss zurückzuführen waren", heißt es in einem Bericht, den Facebook für die Ermittler angefertigt hat.

Im September 2012 postet Amanda die düstere Geschichte ihres virtuellen Stalkings und den sehr realen Folgen in einem Video auf YouTube. „Ich bin den ganzen Sommer nicht rausgegangen, ich schneide mich selbst, ich bin sehr deprimiert, ich habe niemanden", ist auf den selbstbeschrifteten Schildern zu lesen, die sie wortlos in die Kamera hält. Millionen Menschen nehmen Anteil an ihrem Schicksal und diskutieren über Cybermobbing, Sicherheit im Internet, Jugendschutz und Erpressung. Das alles kommt zu spät für Amanda.

Amanda erzählte auf Youtube ihre Geschichte. Bild: Screenshot Youtube

Wenige Wochen später sieht sie in ihrer Verzweiflung nur noch eine Möglichkeit, den Belästigungen ein für alle Mal ein Ende zu setzen – und bringt sich in der Wohnung ihrer Mutter im Alter von 15 Jahren um.

Obwohl ihr Peiniger C. mit Proxy-Servern und Wegwerf-E-Mail-Adressen arbeitete, um seine Identität zu verschleiern, gelang es niederländischen Ermittlern, ihn 2014 in einem Wohnwagenpark in Holland festzunehmen. Amanda war bei weitem nicht sein einziges Opfer: Dutzende weitere Teenager aus verschiedenen Ländern hat er systematisch erpresst, gestalkt und belästigt, wie das Strafgericht in Amsterdam feststellte. Reue zeigte er nicht. Noch aus der U-Haft postete er einen offenen Brief im Internet, in dem er sich als unschuldig darstellte.

Obwohl der Fall ihrer Tochter am Donnerstag nicht konkret verhandelt wurde, saß Amandas Mutter in Amsterdam im Gerichtssaal. Bald soll C. nach Kanada ausgeliefert werden – dafür gab ein Gericht in den Niederlanden bereits im Juni 2016 grünes Licht. Im Bundesstaat British Columbia muss C. sich dann – fünf Jahre nach ihrem Tod – im Fall Amanda Todd verantworten.

Wenn du ein Opfer von Cyberstalking oder Cybermobbing geworden bist, dann findest du hier und hier Hilfe. Auch bei akuten Selbstmordgedanken bieten viele Stellen Hilfe bei Depression an.