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Bayerns Polizei redet trotz aller Beweise weiterhin den Rassismus des Attentäters klein

Ein Rechtsextremer tötet neun Menschen mit Migrationshintergrund – für die bayerischen Behörden eine unpolitische Tat. Niemand will eingestehen, dass der Freistaat nach den NSU-Morden die neue rechte Gefahr nicht ernst genug nimmt.

Er hetzte gegen "ausländische Untermenschen" und "Kakerlaken", die wie ein "Virus" seine Stadt "infizierten". Jeden Sunniten und Schiiten, ob "mit Kopftuch oder Leggins", werde er "in den Himmel schicken", der Tag der Abrechnung sei unvermeidlich. Diese Zeilen, niedergeschrieben in einem Word-Dokument auf seinem Computer, wurden ein Jahr später traurige Realität: David S. erschoss am 22. Juli 2016 im Münchner OEZ-Zentrum mit einer Pistole aus dem Darknet neun Menschen, bevor er sich selbst tötete. Alle Opfer hatten einen Migrationshintergrund.

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Die bayerische Staatsregierung will jedoch bis heute nicht von einer rechtsextremen Tat sprechen, trotz dieser und zahlreicher weiterer Hinweise: So chattete David S. auf der Gaming-Plattform Steam mit dem späteren Schulattentäter William A., der Trump verehrte und auf Nazi-Foren rumhing. Laut einem Bericht des MDR kannten sich S. und A. über die mittlerweile geschlossene Gruppe "Anti-Refugee Club". Über den Club kannte S. auch einen weiteren Jugendlichen, der – wie S. – den Rechtsterroristen Anders Breivik verehrte und bei dem zuhause Attentatspläne und Waffen gefunden wurden. Laut Motherboard vorliegenden Unterlagen standen die beiden im regen Kontakt zueinander. Der Jugendliche soll sogar nach dem Attentat Zugriff auf mehrere Steam-Accounts von S. gehabt haben. Die Münchner Staatsanwaltschaft I will von solchen Zusammenhängen, die die eigenen LKA-Beamten ermittelt haben, jedoch nichts wissen. Auf Motherboard-Anfrage wiegelt eine Sprecherin ab: "Das sind Verschwörungstheorien."

Nach der offiziellen Linie des Freistaats gilt David S. als psychisch kranker Einzeltäter, der sich an seinen Schul-Mobbern rächen wollte. Weil die Behörden bisher keinen Meter von dieser Position abgerückt sind, ziehen sie zunehmend den Zorn von Oppositionspolitikern, Opferanwälten und Experten auf sich: Seit über einem Jahr laufen diese Sturm gegen die Weigerung der bayerischen Regierung, die Tat als rassistisch motiviert anzusehen. Kritiker wie die Landtagsabgeordnete Claudia Stamm werfen der CSU-geführten Regierung vor, "auf dem rechten Auge blinder als auf anderen Augen zu sein".

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Stamms Vorwurf wiegt umso schwerer vor dem Hintergrund der NSU-Mordserie, die erschreckende Versäumnisse bei bayerischen Ermittlern und Geheimdienstlern zu Tage förderte. Sollte sich bewahrheiten, dass der bayerische Strafverfolger erneut Spuren in rechte Kreise nicht ausermittelt hat und rechtsradikale Tatmotive nur stiefmütterlich behandelt, stünde der Freistaat einmal mehr blamiert da.

Warum bayerische Behörden das Wort vom Rechtsterrorismus scheuen

Würde die Staatsregierung den Amoklauf von David S. als rechtsextreme Tat anerkennen, hätte das auch praktische Folgen für die Arbeit der Polizei: Ermittler müssten von dem eng gefassten Ansatz abrücken, wonach hauptsächlich organisierte Neonazis rechtsextreme Taten begehen, fordert etwa Matthias Quent, der ein Gutachten für die Stadt München anfertigte. Die Aus- und Weiterbildung der Polizei- und Justizbehörden müsse stärker der Erkenntnis Rechnung tragen, dass rassistische und rechtsradikale Ansichten in allen Teilen der Gesellschaft anzutreffen sind – und auch Rechtsextremes tun kann, wer keiner Nazigruppe angehört.

Insgesamt zählt der bayerische Verfassungsschutz für die vergangenen drei Jahre fünf Tötungsdelikte beziehungsweise Fälle versuchter Tötung. Eine Neubewertung des OEZ-Attentats würde diese Zahl auf 14 erhöhen. Das wäre keine rein statistische Korrektur, denn mit solchen Zahlen wird auch reale Politik gemacht: Die Zahlen sind eine politische Entscheidungsgrundlage dafür, ob Polizei und Verfassungsschutz mehr Geld und Ressourcen in Ermittlungen gegen rechtsextreme Gewalt stecken.

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Warum Bayerns Behörden das Wort des Rechtsextremismus so scheuen wie der Teufel das Weihwasser, weiß wohl nur der liebe Gott. Laut der fraktionslosen Landtagsabgeordneten Claudia Stamm sollen damit offenbar die Strafverfolgungsbehörden nachträglich entlastet und Ermittlungsfehler unter den Tisch gekehrt werden. "Offensichtlich gilt in Bayern nach wie vor die Devise, dass es Rechtsextremismus nicht geben darf – trotz des Versagens der Ermittlungsbehörden beim Wiesn-Attentat, beim NSU und bei den Reichsbürgern."

Der Rechtsextremismus-Experte Matthias Quent sieht in einer Einstufung als rechtsextremes Hassverbrechen außerdem eine wichtige Botschaft an die Hinterbliebenen. Solange David S. als Mobbing-Opfer dargestellt wird, werde den Hinterbliebenen eine "Mitverantwortung für das menschenverachtende Rachebedürfnis des Täters" gegeben.

Auch der bayerische Innenausschuss will die Tat jetzt neu bewerten

Zwei Jahre nach dem Blutbad in München scheint nun Bewegung in die Sache zu kommen – aus unerwarteter Richtung. Am letzten Mittwoch beschloss der bayerische Innenausschuss einen Antrag, der die Staatsregierung zu einer Neubewertung der Mordtaten vom Juli 2016 aufforderte. Die Tat müsste auch deshalb neu betrachtet werden, da David S. Verbindungen zu anderen rechten Attentätern über die Spieleplattform Steam gehabt habe. Es spräche immer mehr dafür, dass David S. ein "Rechtsterrorist im Sinne des einsamen Wolfes" sei, heißt es in dem Papier. Der Ausdruck geht zurück auf den Politikwissenschaftler Florian Hartleb, der ebenfalls von der Stadt München mit einem Gutachten beauftragt wurde. Für Hartleb verkörpert S. eine neue Generation von allein handelnder Rechtsterroristen, die zwar selten, aber immer häufiger vorkämen. Zugleich, so heißt es in dem Antrag weiter, müsse Hinweisen nachgegangen werden, dass der Attentäter in ein "virtuelles Netzwerk potenzieller rechtsextremistischer, rassistischer Massenmörder" eingebunden gewesen sein könnte. Es sind Formulierungen, die der bisherigen Lesart der Ermittlungsbehörden diametral entgegenstehen, und es sind scharfe rhetorische Spitzen gegen die Landesregierung.

Pikant: Der auf SPD-Initiative zustande gekommene Beschluss ging laut Motherboard-Informationen einstimmig durch den Ausschuss – inklusive der Stimmen der CSU-Abgeordneten. Auch wenn der Begründungsteil in dem Antrag rechtlich nicht bindend ist, hat die überraschende Zustimmung der Christsozialen hohen Symbolcharakter: Sie untergraben die Position der Sicherheitsbehörden und damit ihres eigenen Innenministers Joachim Herrmann. Dass die Lesart der unpolitischen Amoktat auch in der CSU umstritten ist, zeigte bereits der Appell Münchner Stadträte vom Oktober letzten Jahres, "die Tat auch in der für rechtsextreme Straftaten vorgesehenen Kategorie 'Politisch motivierte Kriminalität Rechts' einzuordnen". Auch dieser Appell wurde schon von CSUlern unterstützt.

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Ebenfalls auf Motherboard: Waffen aus dem Onlineshop


Auch drei unabhängige Forscher sehen die Linie des CSU-Ministeriums kritisch

Der Beschluss zeigt, wie zunehmend isoliert das CSU-geführte Innenministerium und die Ermittlungsbehörden in ihrer Haltung dastehen, das Attentat als unpolitisch abzutun. Bereits im Herbst letzten Jahres zogen drei von der Stadt München in Auftrag gegebene Gutachten, die Lesart der Behörden in Zweifel: Sie stuften den neunfachen Mord unabhängig voneinander als rassistisches Hassverbrechen ein.

Selbst in den eigenen Reihen scheint es zu rumoren, wie ein Bericht von SZ und WDR kürzlich nahe legte. Ein weiteres Gutachten, das vom bayerischen LKA in Auftrag gegeben wurde und das das offizielle Narrativ vom unpolitischen Amokläufer stützt, habe demnach intern zu heftigen Diskussionen geführt. Bei der Präsentation des Gutachtens, der lediglich ausgewählte Vertreter der Exekutive – Polizisten, Staatsanwälte, Ministerialbeamte – beiwohnen durften, hätte es Kritik gegeben, schreiben SZ und WDR. Teilnehmer des Treffens befürchteten einen Vertrauensverlust der Bevölkerung in die bayerische Polizei. Die Ansicht, dass das, was in München passiert sei, ein Akt des Rechtsterrorismus war, sei weit verbreitet. Viele fragten sich, ob die Polizei auf dem rechten Auge blind sei, so der Bericht.

David S. sah sich als Arier, sympathisierte mit der AfD und wollte "Deutschland befreien"

Weitere Indizien für die rechtsextreme Gesinnung von David S. lieferte das Gerichtsverfahren gegen den Waffendealer, bei dem S. seine Glock kaufte. Im Verfahren kam heraus, dass S. in einem Chat einen Tag vor seiner Tat schrieb: "München ist die Zukunft Deutschlands. Und genau aus diesem Grund müssen wir diese Stadt vor diesen Kakerlaken schützen, wenn wir es nicht tun, werden wir es in den kommenden Jahren noch bereuen."

S. verehrte außerdem den norwegischen Rechtsterroristen Anders Breivik, legte das Tatdatum auf den Jahrestag der Breivik-Morde und besorgte sich die gleiche Waffe wie Breivik aus dem Darknet, eine Glock 17.

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Ermittler: Attentäter war rechtsextrem, seine Tat nicht

Nun ist es nicht so, dass die rechtsradikalen Auswüchse des Todesschützen nicht bis in die Amtsstuben des bayerischen LKA oder der Münchner Staatsanwaltschaft durchgedrungen wären. Nur sei der Hass auf Migranten dennoch nicht das prägende Motiv für die Morde gewesen, argumentierte etwa Oberstaatsanwältin Gabriele Tilmann bereits vor einem Jahr.

Bei der Vorstellung des Abschlussberichts der OEZ-Ermittlungen im April 2017 sprach sie von einem "Bündel von Motiven". Umittelbar tatauslösend sei aber die Rache an seinen ehemaligen Peinigern gewesen, nicht der Hass auf Migranten. David S. sei zwar rechtsextrem gewesen, wollte dies mit seinem Massaker aber nicht transportieren. Kurzum: Eine unpolitische Tat, der Amoklauf eines Wahnsinnigen.

Die Veröffentlichung des Abschlussberichts wird erstmal vertagt

Ob der wachsende politische Druck die Behörden zu einem Umschwenken zwingt, ist noch unklar. Derzeit scheint die Strategie der Staatsregierung zu sein, auf Zeit zu spielen. Ursprünglich wollte sie ihren Abschlussbericht am 1. Juli vorlegen, laut Motherboard-Informationen wurde der Termin nun vertagt. Stattdessen soll es einen Zwischenbericht geben. Das Kalkül könnte sein, darauf zu hoffen, dass sich die Debatte nach der parlamentarischen Sommerpause und in den bald beginnenden Chaostagen des Bayern-Wahlkampfes von selbst erledigt.

Doch ob diese Rechnung aufgeht, ist unklar. Das wachsende Lager der Zweifler ruht nicht, im Gegenteil: Das neue Gutachten, das den Behörden im Prinzip bescheinigt, alles richtig gemacht zu haben, scheint den Kritikern neues Momentum zu geben. Die Lautstärksten unter ihnen – Gutachter Florian Hartleb, die Landtagsabgeordnete Claudia Stamm sowie die Hinterbliebenen-Anwältin Claudia Neher – gaben vor einer Woche eine Pressekonferenz im bayerischen Landtag. Sie wehren sich gegen "Bagatellisierung" und "Psychiatrisierung" des rechten Attentäters.

Der stete Druck auf die Behörden könnte sich auszahlen: Vor zwei Tagen vollzog der bayerische Innenminister Joachim Herrmann in der SZ eine sanfte Abkehr vom bisherigen Mobbing-Mantra. Auch Rassismus habe bei den Münchner Morden eine wichtige Rolle gespielt, so Herrmann laut SZ. Die Verzögerung des Abschlussberichts verteidigte der Innenminister: Man bräuchte Zeit, um die Verbindung zwischen S. und seinem Steam-Kumpanen Atchison neu zu bewerten. LKA und Staatsanwaltschaft hätten entsprechende Anfragen an die USA gestellt.

Wie ernst das Ansinnen zu nehmen ist, ist jedoch fraglich. Die Münchner Staatsanwaltschaft hatte bereits im Prozess gegen den Waffenlieferanten mehrere Beweisanträge von Nebenklägern abgeschmettert, die David S.' Attentäter-Kontakte auf Steam näher unter die Lupe nehmen wollten. Und auch jetzt scheint sich in Bayern niemand so richtig bewegen zu wollen: So bestätigte die Staatsanwaltschaft München I auf Motherboard-Anfrage im Mai zwar die Anfragen bei US-Behörden. Die Sprecherin Anne Leiding betonte aber, dass das "nichts mit Strafverfolgung zu tun habe", ihre Behörde reagiere lediglich auf Hinweise aus der Öffentlichkeit. "Für uns ist das Verfahren abgeschlossen", so Leiding.

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