In diesem Off-Grid-Dorf leben die pragmatischsten Selbstversorger Deutschlands
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In diesem Off-Grid-Dorf leben die pragmatischsten Selbstversorger Deutschlands

Im brandenburgischen Feldheim steht der größte Batteriespeicher der Welt – für die Bewohner ein weiterer Schritt in Richtung DIY-Energiewende und in die Unabhängigkeit von großen Konzernen.

Auf den ersten Blick bietet Feldheim einen wenig spektakulären Anblick: Knapp 130 Häuser, akkurat aufgereiht entlang einer langen schmalen Hauptstraße, bilden den Kern des 60 Kilometer südwestlich von Berlin gelegenen brandenburgischen Dorfs. Im Hintergrund Maisfelder und ein Meer aus Windturbinen im sonoren Dauereinsatz. Kein Mensch weit und breit. Ein paar überdimensioniert große Hühner und Gänse schauen dem Großstadtbesucher interessiert aus den Vorgärten entgegen.

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Nur wenig deutet darauf hin, dass in dem kleinen Ort, der unter Umwelt- und Off-Grid-Fans weltberühmt ist, gerade der größte Batteriespeicher der Welt installiert wird. Eine 10 Megawatt Lithium-Ionen-Speicheranlage, die Feldheims Position als energietechnisch fortschrittlichster Ort Deutschlands weiter manifestiert.

Keine andere Gemeinde setzt die Energiewende so tatkräftig um wie das 128 Seelen-Dorf. Schon heute erzeugt Feldheim seine benötigte Energie komplett selbstständig und ist damit der einzige Ort dieser Art in Deutschland. Und dank der Riesenbatterie soll schon bald noch mehr vom autonomen Ökostrom in das deutsche Stromnetz gefüttert werden.

Der 73-jährige Siegfried Kappert ist das Gedächtnis des kleinen unscheinbaren Off-Grid Dorfes Feldheim und hat den ökologischen Ausbau, der kurz nach der Wende begann, hautnah mitbekommen. Als eine Art Hausmeister und Notfalltechniker für die Feldheimer Solaranlage, die diebstahlsicher auf einem alten sowjetischen Kasernengelände untergebracht ist, kennt er das Leben im Off-Grid-Dorf wie kaum ein zweiter.

Heutzutage wird doch alles wegmontiert und abgeschleppt, wenn man nicht genau aufpasst.

Wir kommen unvermittelt ins Gespräch. Kappert wirkt zugänglich und symphatisch in seiner Art. Als erstes möchte ich mal wissen, was denn nun das Besondere an Feldheim ist—gibt es inzwischen nicht Hunderte von Kommunen, die Stromproduzenten sind? „Das schon, aber Feldheim hat ein paralleles Strom- und Wärmenetz aufgebaut. Das hat sonst keiner in Deutschland." Tatsächlich setzen die Feldheimer also nicht nur das Ideal regenerativer Stromerzeugung um, sondern operieren auch unabhängig von allen großen Energiekonzernen—und könnten theoretisch auch abgekapselt vom Rest der Welt überleben.

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Ein Einblick in die neue, am 7.9. eingeweihte riesige Stromspeicheranlage. Bild: Energiequelle GmbH

Siegfried Kappert demonstriert die Kontrolleinheit eines Windrads. Bild: Privat (verwendet mit freundlicher Genehmigung)

Das Ideal der Energieautarkie haben sich die Feldheimer dann auch gleich auf das schicke Ortsschild gepinselt. Unter den Fans im Netz wird der kleine Ort gerne als „Off-Grid Village" gefeiert. Bei den Vokabeln autark und Off-Grid (= vom Netz abgetrennt) denke ich eher an hippieske oder futuristische in sich abgeschlossene gesellschaftliche Mikrosysteme.

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Genau genommen sei man noch an das große Stromnetz angeschlossen, aber nur um überschüssigen Strom dort einzuspeisen, erklärt Kappert lässig. Nach dem Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) bekommt man dafür Geld. Die Preise pro Kilowattstunde sind zwar im Keller, aber da das Feldheimer System nicht auf Profit und Zinsen aus ist, kann man das gut verkraften.

„Unsere Nachkommen sollen von unserem Fortschritt profitieren."

Auf dem Weg zum Windpark komme ich am Herzstück des Feldheimer Blutkreislaufs vorbei, der Biogasanlage. Die bevorzugte Verfütterungs-Substanz der Anlage: Gehäckselter Mais. „Wie Gurken zersäbelt man den", erklärt mir Siegfried Kappert. Noch etwas Rinder- und Schweinegülle, mit einer Priese Roggenschrot und fertig ist das Biogas (With a little help of the Mikroorganismen: Winzige Bakterien produzieren das Gas in der Anlage.) Das Gas wird verbrannt, dadurch Strom erzeugt. Nebenprodukt: Wärme, die in's Feldheimer Wärmenetz gejagt wird. Reguliert wird das Ganze automatisch durch einen Computer. Für unwahrscheinliche Notfälle gibt es jeweils einen per Handy erreichbaren Bereitschaftsdienst, der, wenn's drauf ankommt, schnell zur Stelle ist.

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Der Mais für die Anlage kommt von den umliegenden Feldern. Angebaut von der Feldheimer Agrargenossenschaft, in der viele Bewohner Feldheims arbeiten. Zum weiteren Repertoire der Genossenschaft gehören Getreideanbau, Ferkel- und Rinderzucht sowie der Verkauf von Milch. „Einkaufen im Discountersupermarkt müssen wir trotzdem noch. Die großen Handelsketten haben uns nach der Wende einiges zerschossen", so Siegfried Kappert über die schwierige strukturelle Versorgungslage auf dem Land. Zu DDR-Zeiten gab es hier eine Gemeindepost, Kindergarten und Gaststätte—ein Mittagessen kostete eine Ostmark. Ist lange her.

Überblick über die Biogasanlage, einen zentralen Baustein in der Feldheimer Energieversorgung. Bild: Infozentrum Feldheim Energie.

Die idyllische Hauptstraße Feldheims. Bild: Claudi.

Kurz vor dem Erreichen des Windparks merke ich, dass irgendetwas in der energieautarken Kulisse fehlt: Solarpanels. Die gäbe es schon, aber die „Solarfelder", wie Kappert sie nennt, befänden sich auf einer ehemaligen russischen Militäranlage.

Ob er die kenne? Kappert lacht. „Wie meine Westentasche." Und besser als jeder andere vielleicht: Der rüstige Rentner führt mehrmals pro Woche ausländische Delegationen und Neugierige auf das Gelände. Das Gebiet ist überwacht, er ist für die Sicherheit während des Besuchs zuständig. Ohne Genehmigung kommt keiner dorthin. „Heutzutage wird doch alles wegmontiert und abgeschleppt, wenn man nicht genau aufpasst." Kappert erklärt den Touristen und Ingenieuren alles über die Photovoltaik-Anlage, was sie wissen müssen. Wer Zigarettenstummel hinterlässt, bekommt Ärger. Den Strom aus den Solaranlagen braucht Feldheim übrigens gar nicht. Der geht an die umliegenden Gemeinden.

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Wir kommen tiefer ins Gespräch. Kappert wohnt im selben Haus, in dem er geboren ist: Der ehemalige Elektromonteur hat den zweiten Weltkrieg, den Fall der DDR und eben den Aufbau zur autarken Energiegemeinde miterlebt—alles in Feldheim.

Den Einmarsch der Roten Armee, „das vergisst man nicht." Während Kappert erzählt, entsteht unvermittelt ein Film in meinem Kopf. Das idyllische Dorf im Zeitraffer der ereignisreichen Jahrzehnte: Eine durch Feldheim marschierende russische Armee mit Ziel auf Berlin, ein lebendiges Dorf zu DDR-Zeiten, aber auch Lärm und Dreck durch militärische Parade-Aufmärsche alle zwei Wochen, russische MiG-Jagdflieger, die gleich neben Feldheim auf dem Militärplatz landen. Dann in den nuller Jahre der neue Gruppenspirit und der zügige Ausbau des Wind- und Solarparks und der Biogasanlage. Die ganze Zeit mitten drin stehend: Siegfried Kappert und die Feldheimer, unbeirrt und mit einem klaren Ziel der Selbstversorgung.

„Unsere Nachkommen sollen vom Fortschritt profitieren!", reißt Kappert mich aus meinem Jahrzehnte überspannenden Kopfkino.

Doreen Raschemann, Mitbegründerin des Unternehmens Energiequelle, mit dem Autor im Windpark von Feldheim. Bild: Claudi.

„Es gibt andere Orte mit leerstehenden Häusern, da ist die Welt zu Ende", erklärt mir Bürgermeisterin Petra Richter, warum es in Feldheim im Vergleich zu anderen Orten im Brandenburger Umland lebenswerter ist—während wir über das Windparkfeld spazieren. Zum Glück aber würden hier junge Familien nach Feldheim in die leeren Häuser ziehen und zum Beispiel Schafe halten. Das erneuerbare, autarke Image zieht an.

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Zusammen mit Doreen Raschemann, Vorsitzende des Fördervereins Neue Energien und Mitbegründerin des Energiequelle Unternehmens, welches eng mit den Feldheimern zusammenarbeitet, bleiben wir vor einer gestrandeten Windturbine stehen. Sie liegt auf dem Rasen und ist für Touristen zum Anfassen. „Die ist ja riesig", sage ich überrascht. Die Damen belächeln mich milde. 43 Turbinen stehen schon auf den Feldern, 13 weitere sind in Bestellung: Die neuen Turbinen werden wesentlich größer sein und die sechsfache Leistung haben. Der neue Rotordurchmesser: 115 Meter. Irgendwann würde es nur noch ein paar wenige große Windturbinen geben, die den ganzen Strom erzeugen—die riesigen Windparks der Gegenwart wären dann vermutlich weitestgehend Geschichte, spekuliert Doreen Raschemann.

Als wir unter einem Hochstand durchlaufen, wundere ich mich, wieso ein Jäger seinen Standposten zwischen lauter Turbinen aufstellt. „Die Rehe haben sich längst an die Turbinen gewöhnt. Die Jäger stellen jetzt immer direkt im Windpark auf. Früher waren sie die größten Skeptiker", winkt Doreen Raschemann ab.

Auf dem Rückweg zum Dorf, begleitet vom Surren der rotierenden Windturbinen und dem Pfeifen des Windes, diskutieren wir, ob Feldheim zukünftig ein Einzelprojekt bleiben wird, von dem sich die großen Energiekonzerne die Technik abschauen, oder ob doch mehr und mehr regionale Netze entstehen werden. Da das Erneuerbare-Energien-Gesetz von der Politik geändert und dermaßen miserabel ausgelegt wurde, ist es momentan für andere Gemeinden quasi unmöglich Feldheim zu wiederholen. Die Politik ist hier gefragt.

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Die Bürgermeisterin Petra Richter betont, dass die Unabhängigkeit von Öl- und Gaspreisen für den Aufbau der Feldheimer Energieanlagen ein wichtiger Motivationsgrund gewesen sei. Und: Bei der Entstehung von Feldheim sei „die gute Mischung" entscheidend gewesen: Eine kleine Gruppe von motivierten Menschen, verschiedene erneuerbare Energiesysteme vor Ort, vertrauensvolle Zusammenarbeit mit Leuten aus der Umgebung und eine enge Zusammenarbeit mit der Agrargenossenschaft.

Jeder, der sich am eigenen Netz beteiligen wollte, zahlte einmalig 3000 Euro für Strom und Wärme. Ein Kredit wurde aufgenommen, Land für den Bau von Anlagen verpachtet. Pro Jahr werden nach Berechnungen der Stadt so mittlerweile etwa 300.000 Euro gespart.

Die Feldheimer Solarpanels.

Das Feldheimer Wärmeverteilzentrum. Beide Bilder: Infozentrum Feldheim Energie.

Die riesige neue 10 Megawatt-Batterie ist ein weiteres Meisterstück der pragmatischen Selbstversorger—wie selbstverständlich kommen hier alle lokalen und globalen Fäden zusammen und ergeben ein scheinbar perfektes Zusammenspiel: Die Akkuzellen stammen vom südkoreanischen Hersteller LG, während der Windanlagenhersteller Enercon essentielle Technik zusteuert und die Energiequelle GmbH das Gesamtprojekt umsetzt: Letztere arbeitet eh untrennbar mit Feldheim zusammen und ist quasi der technische Motor des Ganzen, der auch das autarke Strom- und Wärmenetz technisch mitaufgebaut haben. Ab sofort kann die Gemeinde nun ihren überschüssigen Strom noch besser regulieren und hat bei Engpässen ein kurzzeitiges Backup.

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Auch große Silicon-Valley-Initativen arbeiten an einem Update einer ökologischeren Energieversorgung. All voran Elon Musk versucht mit seiner Firma mit dezentralen Rundum-Versorgungspaketen—also einer Powerwall (eigener Lithium Batteriespeicher für Zuhause) plus Smart Meter („intelligenter Stromzähler") in Kombination mit eigener Photovoltaikanlage—den globalen Markt zu erobern. Wird sich am Ende sein Modell oder das der Feldheimer durchsetzen?

Bild: Privat (Verwendet mit freundlicher Genehmigung)

Ein Leben in Feldheim scheint in jedem Falle förderlich für den Glauben an eine erfolgreiche Umsetzung der Energiewende zu sein. Einig sind sich hier alle, dass das Mammutprojekt dezentraler Energieversorgung die Zukunft ist. „Ich habe großes Vertrauen in unsere Wissenschaftler, Techniker und Ingenieure in der Energiebranche. Das packen die!", ruft Siegfried Kappert.

Welches Geschäftsmodell sich dabei durchsetzen wird, weiß niemand genau: Wird der Großanteil des Stroms am Ende doch wieder von den großen Konzernen wie RWE und E.ON kommen? Immerhin investieren diese Unternehmen Milliarden in große Windparks mit der Begründung, das es ohne ein Backup nicht ginge. Ob damit eigentlich gemeint ist, dass es ohne die Konzerne nicht gehe, ist unklar. Vielleicht liegt die Zukunft aber auch in den angestrebten Projekten von Silicon-Valley Millionär Elon Musk und seinem deutschen Kooperationspartner, dem Stromversorger Lichtblick.

Die Feldheimer lächeln entspannt: „Viele Wege führen nach Rom."

Das internationale Interesse an dem Projekt gibt ihnen recht: Die japanische Ministerpräsidentengattin war bereits zu Besuch, ebenso Spitzenpolitiker aus Malaysia und Südafrika, diverse Ingenieursgruppen aus anderen Ländern. Selbst Doreen Raschemann war überrascht, als sich die Ingenieure von Tepco—dem japanischen Energieversorgungsunternehmen, dass das Kernkraftwerk in Fukushima betreibt und mittlerweile wieder vehement in die Atomenergie drängt—vor Kurzem zum Besuch ankündigten, um die deutsche Energieautarkie aus erster Hand unter die Lupe zu nehmen.

Für Siegfried Kappert ist der komplette Ausstieg aus der Nukleartechnik übrigens einer der Hauptmotivationsgründe beim Aufbau des eigenen Netzes gewesen. Die ungelösten Probleme der Atomkraftindustrie, wie beispielsweise die Endlagerung, bezeichnete Kappert mehrmalig und vehement als katastrophal. „Wo will man denn nun endlagern?". Wenn die 126.000 Atommüllfässer im sogenannten Test-Endlager Asse II in Wolfenbüttel komplett durchrosten und die nukleare Brühe ins Grundwasser gelangen würde, „da könnte Deutschland noch große Probleme bekommen. Das betrifft alle."

Mit Blick auf die deutsche Bundesregierung und Merkels Entscheidung zur Energiewende sagt Kappert: „Wir haben unser Energiesystem vor Fukushima umgebaut, nicht wegen Fukushima." Momentan krisele die Energiewende zwar noch etwas, aber wenn sich alle wieder mehr anstrengen, könnten Deutschland und Europa wieder Vorreiter in der Welt sein. Vielleicht heißt es irgendwann ja tatsächlich einmal, dass hier in Feldheim der Anfang vom Ende der zentralisierten, schmutzigen Energie Deutschlands eingeläutet wurde—an Optimismus mangelt es in Feldheim jedenfalls nicht.