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#OpISIS: Anonymous meldet zahlreiche Unschuldige als IS-Terroristen

Kleine Zwischenbilanz im Hackerkrieg gegen den Terror: Es flutscht nicht so wirklich.

Kleine Zwischenbilanz im Hackerkrieg gegen den Terror: Es flutscht nicht so wirklich.

Kurz nach der Ankündigung des „totalen Cyberkriegs" sowie der „größten Operation aller Zeiten" (traditionell eingeläutet mit einem Video) lieferte Anonymous getreu ihres Mottos „Always deliver" auch tatsächlich direkt ab. Sie veröffentlichten eine Liste mit mehreren tausend Konten und Namen angeblicher IS-Unterstützer neben der Aufforderung an die Netzgemeinde, selbst aktiv zu werden und weitere Namen vermeintlicher Terror-Sympathisanten an Anonymous auszuliefern. Tatsächlich sind auch so gut wie alle Accounts, die per Pastebin in einer Liste verbreitet wurden, mittlerweile nicht mehr erreichbar. Leider, so hat sich mittlerweile herausgestellt, waren häufig nicht die richtigen Ziele darunter.

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Wie Ars Technica berichtet, wurden in den letzten Tagen unzählige Unschuldige als Terroristen auf Twitter gebrandmarkt; darunter Palästinenser, Trolle, viele Forscher und Journalisten, die über die aktuellen Bewegungen des Islamischen Staats recherchieren.

Die Listen sind „vollkommen inakkurat", erklärt ein Twitter-Sprecher.

„Falls es nicht offensichtlich war: Das hier ist keine Pro-Dschihad-Seite", schrieb zum Beispiel Joanna Paraszczuk auf ihrem Blog 'From Chechnya to Syria' in einem Popup, das sich seit einigen Tagen beim Aufruf über die Seite legt. „Für diejenigen, die zu faul sind, mein 'About' zu lesen: Diese Seite ist ein akademischer Blog, der die Bewegungen nordkaukasischer Kämpfer im Nahen Osten beobachtet."

Bild: Screenshot From Chechnya to Syria

Für die massenhafte Meldung von Konten nutzt Anonymous ein Skript, das automatisiert den Inhalt der Konten nach bestimmten Schlagworten markiert und meldet. Twitter Reporter, so der Name des Bots, sammelt aber auch viele Accounts in öffentlichen Listen, die rein gar nichts mit der Terrororganisation zu tun haben.

Tatsächlich beansprucht mittlerweile Twitter selbst, permanent IS-Accounts gesperrt zu haben. Ein Twitter-Sprecher sagte The Daily Dot, dass die Firma die von Anonymous gelieferten Listen angeblicher IS-Anhänger nicht einmal als Sperrgrundlage benutzen würde, weil sie „vollkommen inakkurat" seien. „Nutzer melden den Inhalt für uns über unsere Meldekanäle, wir bewerten diese Berichte händisch und greifen ein, falls der Inhalt unsere Regeln verletzt wird", so der Sprecher, der anonym bleiben wollte.

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Diese Ex-Anonymous-Hacker arbeiten jetzt lieber mit US-Geheimdiensten zusammen, um den IS effizienter zu bekämpfen

Das Abschalten von Twitter-Accounts gilt unter Experten zwar als symbolische Strategie, doch der Terror-Forscher J.M. Berger erklärte Motherboard gegenüber, dass sie auch für den IS nicht unproblematisch ist: „Wenn Accounts von einem Nutzer wiederholt gelöscht werden, dann schrumpft ihr Netzwerk empfindlich." Selbst unter Anons selbst tobt ein Streit um die Frage, ob #OpParis mehr schadet als es nutzt. Klar ist für alle Beteiligten nur, dass „Anonymous immer gegen den Terror kämpfen sollte."

Am Freitag behauptete Anonymous stolz in einem weiteren Video, bereits 20.000 Twitteraccounts, die mit dem IS zusammenhängen, lahmgelegt zu haben. Beobachter gehen unter Berufung auf Analysen vom März 2015 davon aus, dass die Anzahl der Accounts aktiver IS-Unterstützer ungefähr doppelt so hoch ist.

Intern gibt es ebenfalls Unstimmigkeiten: Offenbar sind die meisten, um nicht zu sagen, 92 Prozent der Twitterfollower der vielversprechenden @GhostSecGroup gekauft. Das zumindest geht aus einer Anfrage mit dem Analysetool TwitterAudit hervor, das die Gefolgschaft eines Accounts nach falschen Fans untersucht. Die hinter dem Handle steckende Ghost Security Group, eine Abspaltung der elitären Anon-Gruppe GhostSec, behauptet, ihre Daten und Erkenntnisse an US-Behörden weiterzuleiten und somit weltweit schon einige Anschläge verhindert zu haben.

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Ouch pic.twitter.com/W5YLU41P2t
— Anonymous (@Anonycast) November 22, 2015

Auch der patriotische Einzelkämpfer-Hacker The Jester, der TechInsider gegenüber angibt, den IS online seit 2010 zu jagen, zeigt sich unbeeindruckt von Anomyous' martialischer Ankündigung und diskreditiert die Bewegung in mehreren langen Artikeln als unfähig: „Das einzige, was die machen, ist, Namenslisten von einem früheren Hack ins Netz zu stellen und dann zu behaupten, das wären IS-Accounts gewesen. Ziemlicher Standard-Bullshit von denen", schreibt The Jester.

The Jester, der sich als scharfer Kritiker bereits einige Online-Debatten mit den Hacktivisten von Anonymous geliefert hat, schrieb zudem auf seinem Blog in einem Beitrag mit dem Titel „Medienleute, Anonymous verarscht euch": „Nur um das mal festzuhalten, das ist nicht 'ISIS hacken', wie sie gern behaupten. Das sind Anons, die massenweise Twitteraccounts melden. Diese Accounts und Namen beruhen auf NULL glaubwürdigen Quellen, Geheimdienstarbeit oder Validierung (…) Ich wette, sie schmeißen noch ein paar KKK-Verdächtige dazu, weil es gerade passt. Und so können sie relevant bleiben."

Warum konnten die Geheimdienste die Anschläge von Paris trotz scharfer Überwachungsgesetze nicht verhindern?

Weiter hießt es: „Meine Frage ist, was wollen sie denn attackieren? Raqqa, die selbsterklärte Hauptstadt des Islamischen Kalifats ist in Stücke gebombt worden. Da gibt es keine Infrastruktur, die man übers Netz angreifen könnte. Und beliebige arabische Twitter-Accounts zu verpetzen, ist verdammt noch mal kein Hacking!"

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Einer der offiziellen Koordinierungsaccounts der Anti-IS-Angriffe @opparisofficial musste in einer Antwort auf The Jester sogar eine gewisse Niederlage einräumen: „Wir haben deinen Artikel gelesen und… du hast Recht. Wir sind nicht 100% sicher, ob alle Accounts zum IS gehören."

Auch der ehemalige LulzSec-Hacker Xavier Monsegur alias Sabu (der für viele ehemalige Mitstreiter zum Verräter wurde, nachdem er mit dem FBI kooperiert hatte), denunzierte die Anti-IS-Anstrengungen von Anonymous' in einem Tweet als „Farce":

Anonymous is a farce. Anyone who still believes in the concept need to wake up and realize it's just one bug circle jerk.
— Hector X. Monsegur (@hxmonsegur) November 22, 2015

Selbst auf Telegram ist einiges in Bewegung, an dem Hacker keinerlei Anteil haben. Nach etwas Druck gegenüber dem Firmeneigentümer Pavel Durov ist der aktuelle Stand: Sehr viele IS-Channels sind mittlerweile gelöscht, doch neue tauchen natürlich auch schon punktuell auf—ironischerweise verzeichnet den meisten Zulauf einer, der technische Vorkehrungen gegen die Anonymous-Attacken an seine Abonnenten verteilt.

Titelzeile der Bild-Homepage am Sonntag 22. November. Screenshot: Motherboard.

Unterdessen bleibt die Bild-Zeitung lieber noch bei einer offenen Frage: „Kann Anonymous gegen ISIS gewinnen?", prangte es gestern ganz oben auf bild.de. Die bestimmt äußerst überraschende Antwort haben wir nicht gelesen—sie ist exklusiver Bild-Plus-Content.

Preview-Bild: flickr, Luciano Castillo | CC BY-SA 2.0