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Big Brother Narco: So bauen sich Mexikos Kartelle ein Überwachungsnetzwerk auf

Durch einen beispiellosen Fall der Gegenspionage erreicht das Technik-Wettrüsten zwischen organisiertem Verbrechen und Regierung ein neues Niveau.
Bild: Shutterstock

Der große Bruder beobachtet dich—doch diesmal ist es nicht der Staat.

In Tamaulipas, einem Bundesstaat im Nordosten Mexikos, haben die Behörden vor Kurzem ein weitläufiges über das Internet gesteuertes Videoüberwachungsnetzwerk entdeckt und aueinandergenommen. Eine kriminellen Organisation hatte es auf den Straßen der Stadt Reynosa installiert, um sowohl die Sicherheitskräfte der Regierung als auch die Zivilbevölkerung zu überwachen. Laut der Zeitung El Universal bestand das Netzwerk aus insgesamt 39 Kameras. In einem nicht enden wollenden technologischen Wettrüsten zwischen den mexikanischen und US-amerikanischen Behörden auf der seinen Seite und den Drogenkartellen auf der anderen Seite stellt es die weltweit bisher größte Aktion zur aktiven Gegenspionage dar.

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Wie El Universal berichtet, konnten die Kameras kabellos gesteuert werden—per Modem, Videokarte, Datenverschlüsselung und Stromeinspeisung. Verteilt waren sie in ganz Reynosa, einer Grenzstadt, die von Syndikaten, die sich mit Drogen- und Menschenhandel verdingen, gerne als Übergang in die USA benutzt wird. Einen Großteil der Geräte hatten die Gangster an Telefonmasten befestigt, die von der staatlichen Elektrizitätskommission bzw. Telmex, der größten Telefongesellschaft Mexikos, betrieben werden.

„Wenn die Behörden solche Kameras einsetzen, um die Stadt im Auge zu behalten, warum sollten kriminelle Organisationen das dann nicht auch machen?"

Die Polizeibehörde Tamaulipas erklärte in einem Statement, dass das Kameranetzwerk seinen Strom aus den Leitungen über den Straßen Reynosas abzapfte. In einem Bericht der Associated Press heißt es, dass die Internetverbindung dann mithilfe der Telefonleitungen hergestellt wurde. Laut einem anonymen mexikanischen Sicherheitsbeamten wurden die örtlichen Behörden auf das Netzwerk aufmerksam, als ihre eigenen Sicherheitskameras verdächtige Personen dabei filmten, wie sie Kameras an diversen Telefonmasten anbrachten.

In Zusammenarbeit mit dem Secretary of National Defense zerstörten die Beamten das Netzwerk dann am 18. und 19. Mai—allerdings schafften es Kartellmitglieder, noch 18 Kameras zu entfernen, da sie natürlich im Vorfeld Wind von der ganzen Sache bekommen hatten.

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„Das Netzwerk wäre früher oder später sowieso aufgeflogen", erzählte mir Robert Bunker, ein Forscher am Strategic Studies Institute des US Army War College. „Wenn man bedenkt, wo die Kameras platziert wurden, dann war das Ganze von Anfang an nur für einen begrenzten Zeitraum möglich."

Mexikanische Behörden entfernen einen Teil des stadtweiten Überwachungsnetzwerkes, das von einem Kartell in Reynosa illegalerweise betrieben wurde. | Foto mit freundlicher Genehmigung von der Regierung Tamaulipas'

Zum Zeitpunkt, als dieser Artikel verfasst wurde, gab es kaum weitere Infos über das Netzwerk. Wie viele Leute waren nötig, um ein solches Unterfangen durchzuziehen und zu betreiben? War das Netzwerk vollständig verschlüsselt oder konnten sich die Behörden ebenfalls einklinken? Wurde das Netzwerk überhaupt komplett abgebaut oder war es nur Teil eines noch größeren Überwachungsnetzwerks von der mexikanischen Drogenkartelle? Die PR-Abteilung Tamaulipas hat auf meine Bitte um Stellungnahme bisher nicht reagiert.

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Laut Bunker sei es einem Kartell möglich, ein solches Überwachungsnetzwerk mit ein paar Hunderttausend Dollar aufzubauen—die genauen Kosten hängen natürlich von der Qualität der Kameras, der Übertragungs- und Zusatz-Hardware sowie dem Entwicklungsgrad der Kommandozentrale ab. Der Forscher erklärte, dass ein hochentwickeltes Kamerasystem dank Infrarot- und Zoom-Fähigkeiten auch in der Nacht eingesetzt werden könnte. Außerdem fügte er hinzu, dass kommerzielle Überwachungskameras mit einem Übertragungsradius von gut fünf Kilometern, eingebauter Verschlüsselung und Infrarot-Darstellung schon für wenige Tausend Dollar im Internet erworben werden können.

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Außerdem braucht man nicht wirklich viele Arbeitskräfte, um nach dem Erwerb der nötigen Ausstattung ein kleines Überwachungsnetzwerk von 40 bis 50 Kameras aufzubauen und zu betreiben.

„Eine kleine Gruppe Kartell-Mitglieder, die Bauarbeiter imitieren, könnte ein solches Netzwerk wohl innerhalb von ein oder zwei Wochen einrichten"

„Eine kleine Gruppe Kartell-Mitglieder, die sich als Bauarbeiter ausgeben, könnte ein solches Netzwerk wohl innerhalb von ein oder zwei Wochen einrichten", erklärt Bunker, um kurz danach noch hinzuzufügen, dass dieses System „relativ eigenständig funktioniert, wenn die Stromversorgung sichergestellt ist"—dafür kann man entweder direkt die Leitungen anzapfen oder Solarzellen installieren, die mit einem Akku-Backup-System verbunden sind.

Natürlich muss ein solches Netzwerk von Zeit zu Zeit auch gewartet werden. Hier wird das Risiko einer Entlarvung allerdings erheblich vermindert, wenn das Kartell von Anfang an in hochwertige Kameras, Antennen und Zubehörteile investiert. Bunker meinte, dass für die komplette Instandhaltung eines Überwachungssystems—wie das, was vor Kurzem in Reynosa entdeckt wurde—wohl ungefähr ein halbes Dutzend Kartell-Ingenieure nötig wäre.

„Wenn zwei Kartell-Mitglieder damit beauftragt würden, die Aufzeichnungen während einer 8-Stunden-Schicht im Auge zu behalten", vermutete er, „dann wären mindestens sechs rotierende Mitarbeiter vonnöten, um ständig alles zu sehen und weitere geheime Spionageaufträge zu übernehmen."

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Es ist jedoch unklar, welche kriminelle Organisation hinter den geheimen Überwachungsgeräten von Reynosa steckt. Die Polizei von Tamaulipas wollte in dem bereits oben erwähnten Statement den Namen der Verantwortlichen nicht nennen. Aufgrund der gebietsmäßigen Ausbreitung der mexikanischen Kartelle kann man jedoch davon ausgehen, dass es sich um das Werk des Golf-Kartells handelt—eine in Tamaulipas vorherrschende kriminelle Organisation, die auch mit mehreren Entführungen von Telekommunikationsspezialisten (die für das Kartell dann wohl geheime Funknetze einrichten müssen) in Verbindung gebracht wird.

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Aber egal, wer nun wirklich hinter dem Netzwerk steckt, macht es laut Bunker „am meisten Sinn, wenn man von einem Überwachungszentrum irgendwo in Reynosa aus auf die drahtlosen Kameras zugreifen könnte. Hierfür eignet sich zum Beispiel ein unauffälliges Industriegebäude, das nicht mit irgendwelchen kriminellen Aktivitäten in Verbindung gebracht wird."

Falls es sich bei den Verantwortlichen tatsächlich um das Golf-Kartell handeln sollte, dann war es laut Bunker wohl die Nachrichten- und Kommandoabteilung der Organisation (die sogenannten „Ciclones"), die als einzige von dem Überwachungsnetzwerk wusste.

„Diese Nachrichten- und Kommandoabteilung—in unserem Falle wohl die Ciclones—verschafft sich mithilfe der IP-Adressen über ein verschlüsseltes und anonymisiertes Sicherheitssystem Zugang zu den WiFi-Kameras", sagte er.

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Wer auch immer die Betreiber waren—man kann wohl davon ausgehen, dass das Netzwerk ihnen einen ziemlich umfassenden Blick über Reynosa lieferte.Laut der Zeitung El Universal war das System so umfangreich, dass man damit 52 „wichtige" Punkte überwachen konnte.

An einigen dieser Orte—zum Beispiel Vororte, Einkaufszentren oder Hauptverkehrsstraßen—hält sich vor allem die breite Bevölkerung auf. Beim Großteil der überwachten Gebiete handelte es sich allerdings um Militärbasen, Polizeireviere und verschiedene Regierungsgebäude (unter anderem auch das Büro des Generalstaatsanwalts). Allein in Colonia Las Fuentes, einem Stadtteil von Reynosa, fanden die Behörden fünf Überwachungsorte, von denen jeder mit fünf Kameras ausgestattet war. El Universal schreibt, dass diese Überwachungspunkte mit einem Gerät ausgestattet waren, das es dem Betreiber möglich machte, mehrere Kameras gleichzeitig zu steuern.

Foto: Mit freundlicher Genehmigung von der Regierung Tamaulipas'

In der Welt von Mexikos organisiertem Verbrechen ist das Thema Gegenüberwachung nichts Neues. Es ist weitgehend bekannt, dass Kartell-Späher (auch „halcónes" oder Falken genannt) eine ganze Reihe an Spionage-Tools von hochgradig verschlüsselten Funkgeräten bis hin zu einfachen Ferngläsern nutzen, um den Grenzbehörden immer einen Schritt voraus zu sein. Die Anwendung dieser Gegenüberwachung im Inland zeigt uns jetzt aber, wie weit die Kartelle gehen, um immer ein Auge auf den „Big Brother" zu haben.

„Ich habe schon Geschichten davon gehört, wie mexikanische Kartelle Techniker und Ingenieure entführt haben, damit sie ausgefeilte Funknetze einrichten", erzählte mir Duncan Tucker, ein freiberuflicher Journalist und gelegentlicher VICE-News-Mitarbeiter aus Guadalajara. „Von einem solch ausgeklügelten kriminellen Überwachungskamera-System habe ich jedoch noch nie etwas mitbekommen."

Ein stadtweites Überwachungssystem ist für die mexikanischen Kartelle vielleicht wirklich ein Novum. Bunker meinte nämlich ebenfalls, dass er noch nie davon gehört hätte, wie eine Verbrechensorganisation eine derartige Überwachungs- und Spionage-Technik in einem Stadtgebiet einsetzt. Er glaubt allerdings, dass sich ein Kartell zu Überwachungszwecken in Zukunft wohl auch einfach in das bereits bestehende Kameranetzwerk einer Stadt hacken könnte, um sich das Ganze so „ohne das Wissen der Einwohner" zu Nutze zu machen.

Das wäre dann die logische Fortsetzung eines versteckten Überwachungsnetzwerks, bei dem die Überwacher wie in einer Dauerschleife schließlich selbst überwacht werden.

„Das ergibt schon Sinn und zeigt doch eigentlich nur die Raffinesse der Kartelle", so Bunker. „Wenn die Behörden solche Kamerasysteme einsetzen, um die Geschehnisse in einer Stadt im Auge zu behalten, warum sollten kriminelle Organisationen das dann nicht genauso machen?"