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Wütender Mob tötet zwei Menschen – weil ein Gerücht auf WhatsApp viral ging

Die Männer wurden verbrannt, nachdem sich in Mexiko Gerüchte über Kindesentführer auf WhatsApp verbreiteten. Der Fall zeigt, dass Desinformation tödlich sein kann.
Screenshot aus einem YouTube-Video. Menschen recken ihre Smartphones in die Höhe, um zu filmen

Als die Glocken in Acatlán läuten, haben Ricardo Flores und sein Onkel Alberto nur noch wenige Minuten zu leben. Ein Mob hat sie inmitten der zentralmexikanischen Kleinstadt umzingelt und auf die Stufen vor dem Polizeirevier gezerrt. Dort wurden die beiden Männer kurz zuvor wegen Ruhestörung vorübergehend festgehalten. "Kauft Benzin!", schreit ein Mann über den Platz. Ein anderer, der auf den Glockenturm geklettert war, brüllt auch die letzten Bewohner zum Spektakel herbei.

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Nachbarn recken ihre Handys in die Höhe. Die Amateurvideos von diesem Nachmittag verbreiten sich auf Twitter und Facebook und gelangen von dort aus in die mexikanischen Fernsehnachrichten. In den Videos ist zu sehen, wie die Menschenmenge und ihre Wut immer weiter anschwellen. Anhand dieser Videos und einem Bericht der BBC lassen sich die Ereignisse detailliert nacherzählen. Was als nächstes geschieht, bekommt Ricardo durch die heftigen Schläge und Tritte nicht mehr mit – er bewegt sich Augenzeugen zufolge nicht mehr, als die Einwohner der Stadt ihn und seinen Onkel anzünden und applaudieren, während sie verbrennen.

Fast 4.000 Kilometer weiter nordöstlich klickt Maria del Rosario Rodriguez in der US-Stadt Baltimore auf einen Facebook-Livestream und kann nicht fassen, was sie sieht. "Das ist mein Sohn, bitte tut ihm nicht weh", schreibt sie noch hilflos in die Kommentarspalte, als die Flammen den 21-Jährigen und seinen Onkel erfassen und die johlende Menge mit ihren Smartphones draufhält. Die Kommentare der entsetzten Mutter hat eine Nachrichtenwebsite aus Mexiko veröffentlicht.

Der Polizei zufolge waren die Männer unschuldig

Was die Bewohner der Kleinstadt am 29. August 2018 zu dieser schrecklichen Tat getrieben hat, waren haltlose, virale Gerüchte auf WhatsApp, jener Messaging-App, die inzwischen zu Facebook gehört – derselben Firma, die Maria durch einen Livestream zur Zeugin der Tötung ihres Sohnes machte. Die BBC hat ausführlich über diese WhatsApp-Gerüchte berichtet. Den Gerüchte zufolge mache eine "Plage" von Kindesentführern das Land unsicher und entnehme ihren Opfern Organe. "Passt auf", warnte die gruselige Nachricht, die sich über Nachbarschafts- und Familiengruppen rasend schnell in Mexiko verbreitete.

In Acatlán übertrugen alteingesessene Bewohner das Gerücht offenbar ungeprüft auf Ricardo und seinen 43-jährigen Onkel, die sich wegen der Arbeit an einem Bauprojekt nahe einer Grundschule in Acatlán aufhielten. Die beiden wurden offenbar zu Kidnappern erklärt, ohne dass jemand prüfte, ob die Anschuldigungen stimmen. Denn die Männer waren unschuldig, wie aus dem Bericht der BBC hervorgeht: Nicht einmal die lokale Polizei fand demnach Anhaltspunkte für irgendeine Straftat, sondern nahm die beiden und nur aufs Revier mit, weil sich die Anwohner so echauffiert hatten.

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Durch WhatsApps Ende-zu-Ende-Verschlüsselung ist es unmöglich, herauszufinden, wer der Verfasser einer weitergeleiteten Nachricht ist. Klar ist nur, dass sich solche Kettenbriefe und Diffamierungen rasant auf WhatsApp verbreiten können. Der Fall aus Mexiko zeigt, dass virale Nachrichten wie diese nicht nur zu Desinformation und Panik führen können, sondern auch zu realen, tödlichen Konsequenzen.

WhatsApp steht vor einem Dilemma

WhatsApp hat längst Schritte eingeleitet, um die rasante Verbreitung von schädlichen Gerüchten einzudämmen. Eine Maßnahme von WhatsApp: Das Wort "Weitergeleitet" über einer Nachricht weist nun darauf hin, dass eine Nachricht nicht direkt vom Unterhaltungspartner stammt.

Zudem kann man seit Juli 2018 eine Nachricht bei WhatsApp nur nur an 20 Kontakte auf einmal weiterleiten. Doch auch diese Maßnahme kann virale Kettenbriefe nicht ganz verhindern. In Indien ist diese Regelung mehreren Medienberichten zufolge noch einmal strenger: Nach einem Lynchmord, bei dem ebenfalls Männer wegen eines Gerüchts über Kindesentführungen totgeprügelt wurden und über den unter anderem die BBC berichtete, lassen sich dort WhatsApp-Nachrichten nur noch an fünf Kontakte auf einmal weiterleiten.

WhatsApp steht bei diesem Thema vor einem Dilemma. Die Ende-zu-Ende-Verschlüsselung schützt Nutzerinnen und Nutzer vor Überwachung und gewährt die Privatsphäre der Unterhaltungen. Zugleich lassen sich dadurch schädliche Kettenbriefe kaum eindämmen. WhatsApp will offenbar ein privater Messenger bleiben, muss jedoch eine Balance finden, damit sich wichtige Informationen immer noch rasend schnell verbreiten können. In einem Blogpost bittet WhatsApp seine Nutzer, "genau zu überlegen, ob du eine weitergeleitete Nachricht teilen möchtest".

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Natürlich sind Gerüchte und Desinformationen auf Messenger-Diensten wie WhatsApp bei Weitem nicht alleine für Panik und Lynchmorde verantwortlich. Nachrichtenmedien berichten in den vergangenen Monaten vermehrt von Tötungen in Mexiko, aber auch in anderen Ländern der Region wie Venezuela und Bolivien. Die Gründe dafür sind vor allem die Erosion der staatlichen Autorität durch Korruption und Bandengewalt. Im Gespräch mit der New York Times erklärt der mexikanische Gewaltforscher Raúl Rodríguez: Der Hauptgrund, dass Menschen das Gesetz in die eigene Hand nehmen, sei das Gefühl dass den Behörden der Staat entgleitet.

In Brasilien bombadiert der Präsident seine Wähler mit Fake News über WhatsApp

Brasiliens neugewählter Präsident Bolsonaro hat Desinformation, Propaganda und Fake News auf WhatsApp sogar zum mächtigen Wahlkampfinstrument gemacht. Bolsonaro wird von vielen Beobachtern als rechtspopulistisch bis rechtsextrem eingestuft. Er soll Agenturen für die Verbreitung der Propaganda eingesetzt haben und 2,8 Millionen Euro für diese Form von Wahlkampf ausgegeben haben, berichtet Reuters unter Berufung auf die liberale Zeitung Folha de S.Paulo. Unter den Nachrichten, die er an seine Wähler verschickte, waren Darstellungen über die UNO als "kommunistische Weltverschwörung", manipulierte und rufschädigende Fotos von Kandidaten der Opposition sowie die Behauptung, sein politischer Gegner wolle Jungs dazu zwingen, in Röcken in die Schule zu gehen.


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Wie die Zeitung Folha de S.Paulo weiter berichtete, verbreiteten Firmen, die den Kandidaten unterstützten, Propaganda rasant über den Messengerdienst. Ein wichtiger Grund für den Erfolg der WhatsApp-Nachrichten ist ein bestimmter Spartarif in Brasilien, der Menschen einen bezahlbaren Internetzugang ausschließlich über WhatsApp anbietet. So wird ein privates Chatprogramm zum Online-Nachrichtenquelle Nummer eins für rund ein Drittel der 120 Millionen Wähler, die laut c't in Brasilien WhatsApp benutzen. Und das ist dann ausgerechnet ein Dienst, auf dem man weder Ursprung noch Wahrheitsgehalt einer weitergeleiteten Nachricht nachprüfen kann.

Schädliche Desinformation und ihre Verbreitung über WhatsApp sind also keineswegs nur ein regionales Problem. Zurück in Mexiko hat Ricardos Mutter Maria dem Korrespondenten der BBC erzählt, sie wolle nun regelmäßig nach Atlacán reisen, um die Kerzen auf den Stufen der Polizeistation zum Gedenken an Ricardo zu erneuern. "Damit hier alle sehen, was sie angerichtet haben."

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