Warum immer mehr Österreicher zum Poltern nach Prag fahren
Foto: "Magic Mike" / Pissup

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Reisen

Warum immer mehr Österreicher zum Poltern nach Prag fahren

Es liegt nicht nur an den Stripperinnen, den Waffen und dem billigen Bier.

Foto: "Magic Mike" / Pissup

"Wenn ich einen Junggesellenabschied organisiere, muss es Las Vegas sein—zumindest sinngemäß", sagt Kemal, der für seinen besten Freund einen Polterabend in Prag gebucht hat. "Das hat er verdient." Einfach in der Stammkneipe zu Hause zu feiern, wie es alle machen, fand der 28-Jährige zu alltäglich, zu langweilig. Durch Zufall erfuhr er von einer Freundin, dass es auch anders geht: "Als ich hörte, was diese Agenturen anbieten, träumte ich davon, mit Stripperinnen Paintball zu spielen."

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Kemal ist ein Personalberater aus dem Schweizer Biel und in seinem Freundeskreis der erste, der so eine Reise organisiert. Seine Bekannten feierten ihren Polterabend zu Hause—und sind jetzt etwas neidisch auf ihn. Wie gut "der letzte Abend in Freiheit" organisiert ist, sei eben auch ein Gradmesser für die Tiefe einer Freundschaft, erklärt Kemal den Druck zur Originalität. Das erkennt man auch an den unzähligen, inszenierten Fotos, die Kemal und seine Freunde geschossen haben. "Man könnte meinen, um das Schießen geht es gar nicht. Es geht darum, sich mit den Waffen fotografieren zu dürfen, um sie dann auf Facebook hochzuladen."

Kemal, fotografiert von einem seiner Kumpel.

Mehrere Start-ups haben diesen Zeitgeist erkannt und werben offensiv mit dem, was die Gäste "früher" beschämt ins Telefon nuschelten. Stripperinnen, Bier und Waffen! Das Versprechen: Auch du kannst feiern wie im Film Hangover—zumindest einmal im Leben. Und dafür gibt es bei vielen keinen besseren Anlass als den Polterabend, der möglichst markant das Ende der jugendlichen Dummheit markieren soll.

In der Reisebranche wurde die "Stag Industry" lange belächelt und nicht als eigener Markt anerkannt. Dass "Saufen" aber genauso ein Reisemotiv wie "Urlaub" und "Business" sein kann, wissen wir eigentlich spätestens seit dem Boom groß angelegter Maturareisen. Auch die Zahlen von Pissup, einem der ältesten (2001) und erfolgreichsten Anbieter von Junggesellenabschieden, zeigen bereits das wirtschaftliche Potential von organisierten Partyreisen.

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"Besoffene Männer sind oft sehr hilflos"

Alleine in Prag, einem von 16 Reisezielen, rechnet das Unternehmen mit 6.000 Gästen dieses Jahr—das sind vier Mal so viele wie noch 2014. Und das ist erst der Anfang: Jedes Jahr soll der Markt um 50 Prozent wachsen, erklärt Pissup-Chef Rasmus Aarup Christiansen. "Und ich erwarte, dass wir schneller wachsen als der Markt."

Prag habe eben alles, was eine gute Party-Stadt brauche, erklärt der für Prag zuständige Pissup-Mitarbeiter. Prag ist von Österreich und Deutschland gesehen die erste osteuropäische Stadt. Das Land ist entwickelt und sicher, das Bier aber trotzdem noch spottbillig. Im kompakten Stadtzentrum streunt man leicht von einem bekannten Club in den nächsten Strip-Schuppen. "Prag ist eine Polter-Traumwelt", die hemmungslosen Spaß garantiere.

Wir wollten uns selbst ein Bild machen und schauen, ob das so stimmt. In Prag treffe ich mich mit Irina, dem erfahrensten Tourguide von Pissup. Seit 14 Jahren führt sie Gruppen durch Prag, oder genauer: Aufgrund des großen Erfolgs lässt sie mittlerweile führen. Irina koordiniert 60 Guides, fast alles Studenten, die durchschnittlich 20 Gruppen pro Tag durch Prag schleusen. Irina besteht darauf, mich wie alle Gäste vom Bahnhof abzuholen. "Es ist eine große, fremde Stadt", sagt sie. Auf dem Weg ins Hotel gibt sie mir die Nummer des billigsten Taxianbieters, erklärt die beste Öffi-Variante und sagt Sätze wie: "Pass ja auf Taschendiebe auf!"

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Das ist ihr Job. Irina spielt für die durchschnittlich 29-jährigen Männer Ersatz-Mama. Wenn ein betrunkener Junggeselle in den Club kotzt, die Stripperinnen blöd anmacht oder die Gruppe auf der Polizeistation landet, weil einer in den Brunnen gepisst hat, ist der Guide dabei und Irina telefonisch erreichbar—auch noch um 03:00 Uhr in der Früh. "Ich habe ein zweijähriges Kind. Da gibt es durchaus Parallelelen", sagt sie in einem flüchtigen Moment. "Besoffene Männer sind oft sehr hilflos."

"Unsere Guides müssen sowohl Saufen als auch Verantwortung übernehmen können."

Hinzukommt, dass sie wohl auch anstrengend sein können. Als sie mir eine der "Aktivitäten" zeigt—ein dunkles Verlies, aus dem man nur mit Anweisung seines Freundes rauskommt—, klingelt ihr Handy mehrmals. "Man, you're fucking annoying me. What do you want?" schnaubt sie und nimmt den Notausgang des Raums. Später erklärt sie, das passiere nur selten; mit den meisten Gästen gäbe es kein Probleme. "Bei Gruppen über 10 Personen ist es aber nunmal wahrscheinlich, dass ein Idiot dabei ist", sagt sie gelassen. Irgendwie beneidet man sie in diesen Momenten nicht.

Obwohl Irina vor jeder Anreise eine Mail mit allen Details ausschickt, rufe fast jede Gruppe drei Mal an, bevor sie in Prag ankommt. "Ich glaube, sie mögen es, wenn ich ihnen jedes Detail erkläre", sagt sie. Irina muss weiter, sie packt ihren kleinen Rucksack, in dem dutzende getackerte Papierbögen und eine fette Rolle tschechischer Kronen hervor blitzen. Sie rauscht mit dem Handy am Ohr durch Prag und versorgt die Guides mit Aufträgen und Bargeld.

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Der Autor, fotografiert von "Magic Mike".

Mike, ebenfalls seit 14 Jahren dabei und Irinas Stellvertreter, zeigt mir weitere Aktivitäten und erzählt von seinen Kollegen, die alle aus persönlichen Bekanntschaften rekrutiert wurden. Aktiv, kommunikativ und offen—sexuell aber nicht zu offen—sollte ein Guide sein. Und: "Sie müssen sowohl saufen als auch Verantwortung übernehmen können." Wenig später wird mir im Warteraum des Schießstands ein Bier angeboten, obwohl man für diese Aktivität eigentlich nüchtern sein muss.

Foto: Christoph Schattleitner / VICE Media

Wir fahren weiter zum Go-Kart. Mike bittet mich, den Namen des Anbieters nicht zu nennen, "sonst fahren die Leute einfach so her und wir verdienen nichts". Nach einem Durchgang und einem Bier, das ich mit drei Schlucken leere, müssen wir weiter. Ein paar Kilometer weiter spielt gerade eine deutsche Gruppe "Bubble Football". Kurz nachdem wir ankommen, legt die Gruppe den Bubble allerdings ab und spielt ohne weiter. Was lustig aussieht, ist im Sommer offenbar zu heiß.

Foto: Christoph Schattleitner / VICE Media

Nach einer Bierverkostung in einem traditionellen Pub, muss auch Mike weg. Alleine dieses Wochenende sind 500 Gäste in Prag. Leider wollte sich keine Gruppe von einem Journalisten begleiten lassen—die Pissup-Pressesprecherin versuchte es vier Wochen lang vergebens. Vor Ort spontan Leute ansprechen solle ich auch nicht; fast alle Polter-Touristen würden sehr viel Wert auf Diskretion legen. Auch Kemal, mit dem ich Wochen nach seiner Reise telefoniere, möchte nur seinen Vornamen nennen—gleich wie die Tourguides Mike und Irina.

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Foto: Christoph Schattleitner / VICE Media

Auch das hat einen Hauch von Las Vegas: Alles, was man in Prag erlebt, bleibt in Prag. Die Anonymität in einer fremden Stadt sei aber nur ein Grund von mehreren für den rasanten Zulauf, erklärt der 28-jährige Pissup-Chef, der in seiner Master-Arbeiter erforscht hat, "wie aus dem Konzept des Polterabends, einer privat-organisierten Tradition, eine kommerzielle Industrie wurde". Zuerst, so Christiansen, muss die Kultur der amerikanischen "Stag Nights" in Europa bekannt gemacht werden. Das sei vor allem durch drei Hollywood-Filme geschehen: Bachelor Party (1984), Very Bad Things (1998) und Hangover (2009). "Vieles, was im Kino läuft, wird später zur Kultur", erklärt er.

Anfangs waren es vor allem englische "Lads", die diese Kultur dankend annahmen. Die Expansion von Pissup in andere, zum Beispiel skandinavische, Länder scheiterte auch deshalb zu Beginn: Niemand kannte dort die Tradition des Saufurlaubs. Bevor man für das Unternehmen werben konnte, musste das Unternehmen das Phänomen bekannt machen (Push- statt Pull-Strategie). All das hätte nicht viel gebracht, hätten nicht zusätzlich die Low-Cost-Airlines geboomt, erklärt Christiansen. Damit sei das billige Osteuropa für die jungen Westeuropäer zugänglich geworden.

Jetzt wartet das nächste große Ding: Deutschland, Österreich, Schweiz. "Der deutschsprachige Markt könnte sogar noch größer werden als der britische", glaubt Christiansen. Immerhin brauchen die Gäste aus diesen Ländern nicht einmal einen Flug nach Prag, sondern können selbst mit dem Auto anreisen oder einen billigen Fernbus nehmen. Der deutschsprachige Markt verdoppele sich seit 2012 jährlich, in Prag sprechen mittlerweile 75 Prozent der Gruppen deutsch. Pissup will weiterhin expandieren, vor allem, was die angebotenen Städte betrifft. Derzeit seien sie noch sehr auf die einzelnen Städte und deren Politik angewiesen, erklärt Christiansen. Wenn die Stadtpolitik es wollte, könnte Prag innerhalb von ein paar Jahren dem Party-Tourismus den Gar ausmachen.

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Rasmus Aarup Christiansen (rechts) stieg als 19-Jähriger bei Pissup ein, 2014 übernahm er das Unternehmen mit Mads Thorsdal (links). | Foto: Pissup

Nur, warum sollte Prag das machen? Die Stadt profitiert genau wie Amsterdam gut von ihrem Ruf als europäischer Party-Hotspot. Zahlen dazu könne man keine liefern, erklärt das Stadtmarketing—ich solle mich aber melden, wenn ich andere Fragen habe. Ich bitte um ein allgemeines Treffen, um sich über die Bedeutung von Party für den lokalen Tourismus zu unterhalten. Das sei "sinnlos", antwortet die Marketing-Managerin ungewöhnlich direkt, man habe dazu nichts zu sagen. Christiansen bestätigt die angespannte Situation. In einigen Städten gäbe es keine Kooperation mit dem städtischen Tourismusmarketing. "Es ist mehr eine Ko-Existenz. Die Städte wollen den Stag-Tourismus und gleichzeitig wollen sie ihn nicht."

Ähnlich beschreibt es Tereza Zvolská, die ihre Master-Arbeit über die "Sexualisierung Prags als Reise-Destination für Männer" geschrieben hat und in der Lokalpolitik aktiv ist. "Ich habe noch keinen Politiker in Prag oder auf nationaler Ebene gesehen, die den Party-Tourismus thematisiert haben", sagt sie. "Was aber nicht bedeutet, dass die Einheimischen glücklich über die vielen betrunkenen Touristen sind."

Besonders stört Zvolská die Mischung aus Sexismus und "Easternism", mit denen Agenturen wie Pissup Werbung machen. Die westlichen Männer würden sich den "Hot Local Girls", die die Agenturen bewerben, überlegen fühlen. Das Bild, das vermittelt wird: Westliche Männer müssen sich einfach nur frech an den osteuropäischen Frauen bedienen. "Niemand würde in England so mit Frauen umgehen", sagt sie. Das Bild der Heteromaskulinität werde sogar von den Anbietern gefördert, kritisiert Zvolská. Zum Beispiel, indem normales Sightseeing als "zu schwul" abgestempelt, und Beer-Sightseeing als wirklich männlich gefeiert wird. "In Wahrheit zeichnen sie ein Bild der Vergangenheit. Übrigens auch, was die billigen Preise betrifft."

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Eine kleine Gruppe singt und tanzt lautstark auf der Straße. | Foto: Christoph Schattleitner / VICE Media

Wozu das führt, zeigen absurde Nachrichtenmeldungen wie diese aus 2015: Eine Gruppe von 25 betrunkenen Iren zog sich Hitler-Masken über ("Wir können machen, was wir wollen") und schlug in einer Bar alle Kellnerinnen zu Boden, um sie dann sexuell zu belästigen. Es kursieren auch Geschichten von randalierenden Gruppen aus Dänemark, von Männern, die auf die astronomische Uhr, ein Wahrzeichen der Stadt, klettern. Und das nicht immer ohne Schaden. Ein Brite, der mit 12 Freunden polterte, ging nach exzessivem Alkohol- und Kokainkonsum verloren—später wurde seine Leiche im Fluss gefunden.

Trotz alledem spricht die Prager Polizei von einem "nicht so großen Problem" im internationalen Vergleich—obwohl "es wahr ist, dass es vor drei Jahren große Probleme mit dänischen Studenten gab", erklärt Pressesprecherin Irena Seifertová. Außerdem führe ein hohe Konzentration von Touristen selbstverständlich zu einem höheren Kriminalitätsrisiko, besonders im Stadtzentrum. Genaue Zahlen gebe es keine, aber allgemein kümmere sich die Prager Polizei im Zusammenhang mit Stag-Touristen vor allem um unerlaubten Alkoholkonsum an bestimmten Orten, Lärmbelästigung, Urinieren in der Öffentlichkeit und manchmal auch um Vandalismus.

Foto: "Magic Mike" / Pissup

Rasmus Aarup Christiansen will Pissup nicht mit studentischen oder schulischen Reiseagenturen, wie die in Österreich große Splashline, vergleichen: "Wir organisieren Reisen für kleine Gruppen, die unter sich bleiben wollen, während diese Anbieter mehrere Gruppen zusammenlegen und das Kennenlernen untereinander fördern." Die Kriminalität der Touristen sei zudem kein Argument gegen, sondern eher ein Argument für seine Agentur: "Wir haben ausschließlich lokale Guides, die in ihrer Heimatstadt keinen Vandalismus dulden." Probleme würden vor allem Gruppen machen, die ohne Guide und Agentur durch die Stadt ziehen.

Auf alle anderen Kritikpunkte reagiert der Däne gelassen. "Wir bieten eben an, was die Leute haben wollen", erklärt er. Er selbst sei kein Stag-Fanatiker und eher durch Zufall in die Branche geraten. Mit Moralisten wolle er jedenfalls nicht diskutieren, weil er sie ohnehin nicht überzeugen könne. "Ob jemand eine Stag-Party und eine Stripperin haben will, sollte jeder selbst entscheiden."

In Zukunft will er die Aktivitäten-Palette und angebotene Städte erweitern. Auch eine Plattform für Frauen ist bereits online—zur Sicherheit, falls sich dort ein Trend entwickeln sollte. Derzeit geben Frauen beim Poltern noch die Hälfte der Männer aus. Insgesamt erwartet Christiansen nicht nur ein Wachstum des Marktes in die Breite, sondern auch in die Tiefe: Die Pro-Kopf-Ausgaben von Stag-Touristen würden in den nächsten Jahren deutlich steigen. Insofern fällt es leicht, die Kritiker reden zu lassen.

Diese Recherche ist im Rahmen von "eurotours 2016", einem Projekt der Europapartnerschaft, entstanden. Das österreichische Bundeskanzleramt kam für Übernachtung sowie für An- und Abreise auf.

Christoph auf Twitter: @Schattleitner