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Wenn Essen für Köche zur Sucht wird

Obwohl kaum darüber gesprochen wird, sind eigenartige Essgewohnheiten in der Gastronomie die Norm und Essstörungen allgegenwärtig. Aber warum ist das eigentlich so?
Ein Teller mit einer einzelnen Erbse drauf

Die Gastronomiebranche ist geprägt von harter Arbeit, langen Arbeitszeiten und viel Leidenschaft. Sie ist nichts für schwache Nerven—oder Mägen.

"Ich schätze mich glücklich, dass ich etwas tue, das mir Spaß macht, dass ich dorthin gehe, wo mein Herz mich hinführt", sagt Jennifer Ophir, die ihren Job im Bereich Retail Design vor zehn Jahren hinter sich gelassen hat, um ihren Träumen zu folgen und die Kochschule am French Culinary Institute, das auch als International Culinary Center bekannt ist, zu besuchen. Ophirs Kochkarriere kam in Fahrt — sie hat in Michelin-Sternerestaurants gekocht, angehende Köche unterrichtet und Food-Touren geleitet. Mittlerweile arbeitet Ophir als Privatköchin und Food-Stylistin.

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Aber die Reise war kein Zuckerschlecken. "In die kulinarische Welt gestoßen zu werden, machte meine Esssucht noch schlimmer", erzählt Ophir. "Überall um mich herum war Essen. Die Arbeitszeiten waren verrückt. Ich war die ganze Zeit am Probieren. Ich naschte den ganzen Tag — eine Art verlängerte Essattacke. Meine schlechten Essgewohnheiten wurden noch schlimmer."

Restaurants stehen für Unterhaltung, Nahrung, Spaß und Feiern. Aber für viele, die dort ihre tägliche Arbeit verrichten — Köche, Kellner, Restaurantmanager oder Food-Fotografen — ist Essen eine komplizierte Angelegenheit. Köche und Kellner stehen viele Stunden, manchmal bis tief in die Nacht, auf ihren Beinen und sind ständig von Essen umgeben. Eigenartige Essgewohnheiten sind in der Gastronomie die Norm und Essstörungen allgegenwärtig.

Weshalb? "Aus dem gleichen Grund, warum in der Barszene viele Alkoholiker sind", sagt Molly Carmel, Gründerin und Leiterin von The Beacon, einer Klinik für Gewichtsverlust und Esssucht in New York City. "Sie mögen Essen sehr gerne und versuchen mit der Sache, mit der sie am meisten Probleme haben, in Einklang zu kommen."

Essstörungen sind oft sehr komplex und bleiben unbemerkt. Carmel sagt, "man kann das nicht immer mit einem klaren Ja oder Nein beantworten". Verhalten wie übermäßige körperliche Aktivität oder starkes Einschränken, um für eine riesige Mahlzeit Kalorien "zu sparen", werden in unserer Kultur zwar akzeptiert, können aber sehr schädliche Auswirkungen auf die Gesundheit und das Wohlbefinden haben.

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"Es besteht eine große Kluft", sagt Carmel. "Obwohl der übermäßige Konsum so sehr akzeptiert wird, werden übergewichtige Personen diskriminiert und verurteilt."

"Meine Essstörung war schleichend … es ging immer darum, mich auf der Toilette zu verstecken. Ich schämte mich so", sagt eine junge Frau, die als Eventmanagerin für eine beliebte Restaurantkette arbeitet, aber anonym bleiben wollte. "Ich wollte immer und immer mehr. Für mich war Essen wie eine Droge, um mich zu trösten. Es war das Einzige, was funktionierte."

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Essstörungen können sehr beängstigend sein. "Ich verstehe mich als Esssüchtige, weil ich besessen von Essen bin. Ich habe zwanghafte Essverhaltensweisen — ich komme wirklich mit dem Leben nicht mehr klar, genau wie bei Heroin oder Alkohol", sagt Ophir. "Die Restaurantwelt ist ein sehr extremer Lebensstil … ich war so unglücklich. Ich war hoffnungslos und verzweifelt. Ich sah keinen Ausweg mehr."

Essstörungen betreffen allein in Deutschland jedes Jahr Millionen von Menschen und sie haben die höchste Sterblichkeitsrate unter den psychischen Erkrankungen. Zwischen 2009 und 2014 stieg die Zahl der Betroffenen um 14,5 Prozent.

Trotzdem wird gespottet. In scheinbar witzigen Überschriften werden Cupcakes mit Crack gleichgestellt. Aber hinter den abfälligen Bemerkungen steckt ein Funken Wahrheit. "Es gibt diesen großen Irrglauben, dass es keine große Sache ist", sagt Carmel. "Zucker lässt eine Flut von Neurotransmittern frei, die nicht aufgehalten werden können. Die Folgen für die körperliche Gesundheit sind überwältigend. Laborratten ziehen Zucker jedes Mal Heroin oder Kokain vor."

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Essstörungen sind aber nicht nur eine körperliche Angelegenheit — sie können auch eine verhaltensbezogene, emotionale, kulturelle und sogar spirituelle sein. "Ich vergleiche es mit dem Ritzen", sagt Ophir. "Leute ritzen sich, damit sie diesen intensiven Schmerz spüren, der stärker ist als anderer Schmerz in ihrem Leben. Für mich war das mit meinen Essattacken so. Ich wollte von meinen Schmerzen im Bauch abgelenkt werden. Ich wollte mich nicht mit den echten Schwierigkeiten, Problemen und dem Schmerz in meinem Leben auseinandersetzen."

"Ich betäubte mich mit Essen", sagt die Eventmanagerin. "Es war eine Flucht."

Carmel ist mit ihrer Überzeugung, dass es "nichts Schlimmeres gibt, als einer Substanz verpflichtet" zu sein, nicht allein. Die Genesung ist schwierig und der Prozess kann langsam und anstrengend sein. Drogensüchtige in der Genesung nehmen ihre Droge nicht mehr, Essen hingegen ist ein unumgänglicher Teil unseres Lebens, besonders für die, die dafür leben. Dennoch ist es möglich, die kaputte Beziehung einer Person zu Essen wieder zu reparieren.

"Eine Sucht ist eine chronische Krankheit", sagt Carmel. "Es braucht Pflege, emotionale Hilfe, regelmäßige Besuche bei einem Therapeuten oder eine Gruppe." Genauso vielfältig wie die Essstörungen selbst ist auch der Genesungsprozess. "Es ist etwas sehr Persönliches. Es gibt kein Allheilmittel. Die Leute stellen sich die Genesung als ein einschränkendes, furchtbares Ende ihres Lebens vor, eigentlich ist er aber auf eine ganz neue Art und Weise dynamisch, lecker und nahrhaft."

Die Eventmanagerin erkannte, dass das Essen um sie herum Kunst und Leidenschaft war. "Es war das Gegenteil von mir, wie ich eine Packung Oreos nach der anderen verschlang", sagt sie. Heute holt sie sich Unterstützung bei einer Selbsthilfegruppe und arbeitet an ihrem Essverhalten und ihrer Denkweise. Ihr Leben sei besser denn je, sagt sie.

Im Dezember 2011 kam Ophir in ambulante Behandlung. Seither besucht sie Meetings einer Selbsthilfegruppe und hält sich an einen Speiseplan. Sie hat mehr als 20 Kilo abgenommen. "Ich sehe so viel besser aus — aber die Veränderung ist nicht nur körperlich."

"Ich bin so eine gute Köchin, weil ich so gerne schönes Essen ansehe und zubereite", sagt Ophir. "Mir bereitet es sehr viel Freude, andere Menschen zu bedienen und sie zu ernähren, dafür zu sorgen, dass sie zufrieden sind. Ich arbeite daran, die Balance zwischen zwanghaftem Essverhalten und meiner Leidenschaft für Essen zu finden … das ist eine Herausforderung, aber ich stelle mich ihr, weil ich weiß, dass es möglich ist."