Seht ihr in diesem Gemälde von 1860 auch eine Frau, die ein iPhone hält?
Ausschnitt aus "Die Erwartete" von Ferdinand Georg Waldmüller | Bild: Wikimedia Commons | Hajotthu | Lizenz: Gemeinfrei

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Seht ihr in diesem Gemälde von 1860 auch eine Frau, die ein iPhone hält?

"Die Erwartete" lebte in längst vergangenen Zeiten, verrät uns aber, wie moderne Technologie unsere Wahrnehmung beeinflusst.

Vor ein paar Wochen haben wir über ein Gemälde von 1937 berichtet, auf dem ein amerikanischer Ureinwohner einen rechteckigen Gegenstand in der Hand hält, der einem iPhone verdächtig ähnlich sieht. Als Reaktion auf diesen Artikel erreichte uns nun ein Tweet des Kunst-Bloggers Peter Russell. Er hatte ein ganz ähnliches Bild aus der Biedermeierzeit entdeckt und traute seinen Augen nicht: Die junge Frau auf dem Gemälde von 1860 erweckt den Anschein, in ihren Social Media-Feed vertieft zu sein.

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Mit nach unten gerichtetem Blick läuft sie einen Feldweg entlang. Ihre Umgebung scheint sie gar nicht wahrzunehmen und ahnt somit auch nicht, dass hinter der nächsten Biegung ein Jüngling mit einem Rosenstrauß in der Hand kniend auf sie wartet. Stattdessen scheint sie nur Augen für den Gegenstand in ihren Händen zu haben. Ihre Haltung erinnert sehr an den Anblick, der sich uns heute so oft auf den Gehwegen bietet, wenn wir gerade mal selber von unserem Smartphone aufschauen: Menschen, die geradezu zombieartig umherlaufen und nur noch das Smartphone in ihren Händen wahrnehmen.

Bei dem von Russel getwitterten Gemälde handelt es sich um "Die Erwartete" des österreichischen Malers Ferdinand Georg Waldmüller., Es entstand zwischen 1850 und 1860. Russell und seine Partnerin entdeckten das Bild bei einem Besuch der Neuen Pinakothek in München. Das Gemälde aus der Biedermeierzeit hinterließ bei Russell einen so bleibenden Einblick, dass er es Kollegen auf einer Übersetzerkonferenz zeigte. Die Runde diskutierte gerade darüber, wie wichtig der richtige Kontext für die Interpretation von Literatur und Kunst sei.

"Mich beeindruckt am meisten, wie sehr der technologische Fortschritt unsere Interpretation von einem Kunstwerk beeinflusst. Somit verändert die Technologie auf eine gewisse Weise den gesamten Kontext eines Werkes", sagte Russell gegenüber Motherboard.

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Wir konnten nicht eindeutig feststellen, ob Russell der Erste ist, dem die ungewöhnlich moderne Erscheinung der jungen Frau aufgefallen ist. Russell zumindest sind keine weiteren Erwähnungen des Bildes in diesem Zusammenhang bekannt. Eine weitere Version von "Die Erwartete" wurde uns über Pinterest geschickt. Hier wurde das Bild so bearbeitet, dass der Lichtkegel des vermeintlichen Smartphones das Gesicht der jungen Frau beleuchtet. Diese bearbeitete Version illustriert den Blickwinkel, mit dem unser von moderner Technologie geprägtes Hirn Kunstwerke aus vergangenen Epochen automatisch einer neuen Interpretation unterzieht.

Selbstverständlich starrt die Frau im Bild nicht auf ein Smartphone. "Das Mädchen in diesem Gemälde von Waldmüller spielt nicht gerade mit seinem neuen iPhone X, sondern ist auf dem Weg zu Kirche. In den Händen hält es ein kleines Gebetbuch", erklärt uns Gerald Weinpolter, Geschäftsführer der Kunstagentur austrian-paintings.at. Auf der Website der Pinakothek ist zu lesen, dass Waldmüller mit seinen Bildern sein "Ideal einer glücklichen Einheit zwischen Mensch und Natur" darstellen wollte.

Es ist nicht das erste Mal, dass ein Gegenstand in einem Kunstwerk für unsere modernen Augen so wirkt, als könnte er nur von einem Zeitreisenden dort platziert worden sein.


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Mit ihrer Körperhaltung wirkt die junge Frau in "Die Erwartete" nicht anders als die zahlreichen anderen abgelenkten Fußgänger, die uns täglich auf der Straße begegnen. Ein Kollege, der sich besonders für Theorien zu Zeitreisenden interessiert, wies darauf hin, dass auch in der Originalversion des Bildes das Gesicht der Frau so wirkt, als ob es von unten von einem Bildschirm beleuchtet wird. Tatsächlich wirken das Kinn, die Lippen und die Wangen der Frau ungewöhnlich hell, wenn man bedenkt, dass im restlichen Bild das Licht von hinten einfällt.

"1850 oder 1860 hätte natürlich jeder Betrachter den Gegenstand, in das das Mädchen so vertieft ist, als Gesangs- oder Gebetbuch erkannt", sagte Russell gegenüber Motherboard. "Doch heutzutage muss jedem die Ähnlichkeit zwischen der Szene und einer modernen Teenagerin auffallen, die in ihr Smartphone vertieft ist."

Eine Kollegin von Russell hatte noch eine andere Theorie parat: "Sie benutzt gerade eine Dating-App", scherzte sie und stellt sich dabei vor, wie die junge Frau ihren Verehrer so abgebrüht abweist, wie es heute durch einen lässigen Swipe nach rechts bei Tinder möglich ist. Ob dem glühenden Verehrer mit der Blume in der Hand ein solches Schicksal zuteil wurde, wissen wir allerdings nicht.