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Von wegen harmlos: Dieses Spiel ist ein Meisterwerk des Bösen

Das Visual-Novel-Game 'Doki Doki Literature Club' erscheint niedlich, lässt uns aber wahren Horror spüren: Es nennt uns beim Namen und greift auf unseren Computer zu. Und das ist nicht einmal der größte Twist des Spiels.
Bild: Screenshot | Doki Doki Literature Club

"Wer unter einer Angststörung oder Depressionen leidet, könnte Schaden durch die Spielerfahrung nehmen". Diese ungewöhnliche Meldung begrüßt uns im Startbildschirm von Doki Doki Literature Club. Wie passt das mit einer scheinbar harmlosen Dating-Simulation um niedliche Anime-Mädchen zusammen? Wir haben uns auf die Spur des versteckten Horrors im und außerhalb vom Spiel begeben und Spieler nach ihren Erfahrungen gefragt.

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Der unscheinbare Titel ist über Steam auf dem PC verfügbar und stammt vom Indie-Entwickler-Team Salvato. Es ist sein Erstlingswerk. Trotzdem fallen laut der inoffiziellen Seite Steamspy die Bewertungen zu 97 Prozent positiv aus. Außerdem besitzen den kostenlosen Titel stolze 2,8 Millionen Spieler. Also was steckt wirklich hinter dem Bücherclub?

Triggerwarnung: Die Ruhe vor dem Sturm

Depressive Patienten werden gewarnt: Schon das Startmenü gibt einen Hinweis darauf, dass mit Doki Doki etwas nicht stimmt | Bild: Screenshot

"Nach dieser Warnung wurde ich richtig neugierig", erzählt uns der 31-jährige Videospiel-Blogger Matthias alias "YetiVin" dazu, wie er den ungewöhnlichen Einstieg erlebt hat: "Meine Neugier wurde von der Triggerwarnung getriggert."

Zunächst wiegt uns die Rahmenhandlung von Doki Doki aber in Sicherheit und erfüllt alle Klischees einer Dating-Simulation: Wir treten als einziger Junge in einen Highschool-Literatur-Club ein und haben die Wahl zwischen vier jungen Frauen, deren Herzen wir mit Gedichten erobern können – die coole Clubpräsidentin, unsere niedliche Kindheitsfreundin, die schüchterne Leseratte oder den aufbrausenden Wildfang.

In 'Doki Doki Literature Club' können wir verschiedene Anime-Mädchen kennenlernen und uns dann für eine von ihnen entscheiden | Bild: Screenshot

Von wegen Happy End: 'Doki Doki' pfeift auf Traditionen

So weit, so harmlos. Normalerweise laufen Dating-Simulatoren auf ein Happy End hinaus: Meist erobert ein Junge das Mädchen. Doki Doki bricht damit völlig – und konfrontiert die Spieler mit einem Selbstmord. Sayori, die bereits in Gesprächen und Gedichten andeutet, sie leide unter Depressionen, nimmt sich das Leben. Ihr Tod wird in einer drastischen Szene gezeigt, das Spiel scheint verloren.

Doki Doki-Spieler wie der 27-jährige Cliff, der den Youtube-Kanal Flimmerspieler rund um Spiele, Animes und Mangas betreut, zeigt sich uns gegenüber betroffen: "Nachdem Sayori ihre innersten Gefühle offenbarte und ich noch davon ausging, dass ich ihren Tod durch Dialog-Entscheidungen verhindern konnte, war ich fix und fertig. Ich fühlte mich wirklich für den Tod dieser Figur verantwortlich."

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Warnung: Wer sich nicht spoilern möchte, liest ab hier lieber nicht weiter.

Das Spiel mit dem Spieler: Das Ende ist erst der Anfang

Doch hier beginnt der wahre Horror erst. Starten wir das Spiel nach dem scheinbaren Ende neu, scheint es kaputt. Auf einmal fehlt Sayori als Figur von Anfang an völlig. Überall in den Gedichten und Dialogen tauchen dafür plötzlich unheimliche Glitches auf, merkwürdige Grafikfehler.

Schuld daran soll tatsächlich eine Figur im Spiel sein: Monika. Sie wird dargestellt als eine KI, die ein Bewusstsein erlangt. Sie erkennt sich in ihrer Rolle als Gefangene in einer fiktiven Umgebung und versucht von da an, mit dem Spieler direkt zu kommunizieren, indem sie den Code des Spiels hackt. Denn wir, die Spieler außerhalb des Bildschirms, sind ihr einziger Zugang zur realen Welt und damit das Objekt ihrer Begierde.

Wie zu erwarten, mordet sie sich auch durch die Mädchen des Literaturclubs. Sie tötet sie aber nicht nur in der Spielwelt, sondern löscht ihre Charakter-Daten aus unserem Spielordner. Der befindet sich wie üblich im Steam-Verzeichnis auf dem Rechner des Spielers, wo alle Titel, die wir auf der Plattform besitzen, aufgelistet werden. Dadurch verschwinden die Figuren auch aus der realen Welt: Eine Manipulation von echten Dateien, angekündigt von einer anmaßenden KI in der Spielwelt – so ein Ebenenwechsel ist bislang einmalig.

Zum Schluss gibt es nur noch uns und Monika. Sie spürt sogar unseren PC-Benutzernamen in unseren Systemordnern auf und spricht uns damit an. Doppelt gruselig, wenn das auch noch unser echter Name ist. So offenbart sie endgültig, dass sie sich über die Grenzen des Spiels hinweggesetzt hat.

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Für den Youtuber Cliff war das sogar das unheimliche Highlight des Spiels: "Dass Monika so vor mir saß, in einem Raum zwischen Spiel und Realität, dass sie wusste, wie ich heiße und wie sie so ihre Frustration als gefangener Videospiel-Charakter offenbarte - das machte sie menschlich und ja, sogar sympathisch", sagt er im Interview mit uns. "Als sie dann das Spiel von meiner Festplatte löschen wollte und mir zum Abschied noch einmal ein Lied vorgesungen hat, fühlte sich das echt an."

Monika reißt das Spiel an sich und manipuliert seine Figuren | Bild: Screenshot

Vom Spiel zum Phänomen: Wie 'Doki Doki' die Grenzen zwischen echt und fiktiv einreißt

Hier gelingt Doki Doki die Umsetzung einer sehr cleveren Spielmechanik, die das gelungene Horror-Game zu einem echten Meilenstein machen: Der einzige Weg, um die KI Monika zu besiegen, liegt außerhalb des Spiels; wir müssen Monikas Charakter-File löschen.

Zugegeben: Es handelt sich nicht wirklich um Dateien, die das Spiel braucht, um zu funktionieren. Sie tragen die fiktive Endung .chr und sind nicht kein Teil des Spielcodes, aber ein wichtiger Teil des Spielerlebnisses. Wie echte Files findet man sie im Spieleordner, der sich in der Regel im Steam-Verzeichnis auf dem Rechner befindet. Monika weist uns ironischerweise sogar selbst darauf hin, indem sie erklärt, wo sie die Charakter-Files der anderen Mädchen gefunden und anschließend gelöscht hat.

Monika macht in 'Doki Doki' den Spieler zu ihrer Marionette – das Spiel entzieht uns die Kontrolle | Bild: Screenshot

Auch beim 38-jährigen Johannes, der in der IT-Branche tätig ist und nicht seinen echten Namen in der Presse sehen will, hinterließ der Eingriff in die Privatsphäre des Spielers einen bleibenden Eindruck, wie er uns gegenüber verrät: "Am stärksten schockiert hatte mich die Erkenntnis, dass ich, um Monika im Spiel auszuschalten und die Szene zu beenden, ihren Ordner im Spiel löschen muss. Also tatsächlich auf der Festplatte meines Computers. Da habe ich gedacht: WTF? Das ist mal wirklich das Durchbrechen der vierten Wand in einem Computerspiel. Hut ab. Und dabei habe ich ein bisschen Gänsehaut bekommen, und beim Aufschreiben eben wieder."

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Aber die Files sollen mehr erreichen, als den Spieler nur zu verunsichern. Ruft man die Dateien auf, bemerkt man scheinbar willkürliche Zahlen- und Buchstabenkombinationen darin. Einen Code, der sich auch im Spiel selbst in manchen Gedichten versteckt ist. Natürlich haben sich die Spieler auf Reddit längst an die Entschlüsselung gemacht und Erstaunliches herausgefunden. Hinter Doki Doki könnte sich noch viel mehr verbergen - nämlich ein völlig anderes Spiel.

Ist das Spiel nur die gruseligste Marketing-Kampagne der Welt?

Der Youtube-Kanal The Game Theorists stellt die Zusammenhänge in einem Video dar. Wer die Codes entschlüsselt, findet ein Bild einer geheimisvollen Frau und Hinweise auf schockierende Experimente an Menschen, die sie zu blutrünstigen Bestien machen sollen.

Monika und die anderen Mädchen sollen laut den Fan-Theorien aus einem ganz anderen Spiel stammen. Das deutet Monika auch in einer in den Codes versteckten Nachricht an. Die Figuren seien nur im Visual Novel "gefangen". Sie gehörten nicht in diese unschuldige Welt und spielen deshalb verrückt. Das kostenlose Doki Doki Literature Club stellt so mutmaßlich nur eine geniale Marketing-Kampagne für das nächste Spiel des Entwicklers Dan Salvato dar: ein neues Horrorspiel mit den Heldinnen des Literature Club in der Hauptrolle.

Doki Doki ist damit ein Horrorspiel, wie wir es noch nicht erlebt haben. Sein Schrecken liegt nicht in Jumpscares und Monstern, sondern versteckt sich in Ordnern und Unterordnern, tief unter der Oberfläche unseres PCs. So ist uns der Schrecken gleichzeitig näher als im Spiel allein und erwischt uns damit noch viel härter. Denn er erkennt seine Beschränkungen im Rahmen einer fiktiven Software und versucht scheinbar, sie aufzuheben. Der Horror kommt aus dem Spiel heraus und kriecht weiter in die Umgebung außerhalb des Spielbildschirms.

*Name geändert