Mit einem Blinden unterwegs im Internet

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Mit einem Blinden unterwegs im Internet

"Ich brauch den ja eh' nicht" – Reiner über seinen kaputten Laptop-Bildschirm.

Das Internet ist allgegenwärtig und verspricht Informationen, Unterhaltung, Konsum, Vernetzung, Kommunikation – und ein wenig mehr Freiheit für alle. Doch was, wenn man die Websites nicht sehen kann, die man ansurfen will – was bleibt dann vom Internet als alltäglichem und unverzichtbarem Werkzeug? Der 47-Jährige Reiner muss es wissen. Er ist seit 17 Jahren fast komplett blind und kann nur zwischen hell und dunkel unterscheiden. Gleichzeitig nutzt er das Internet, seit er Ende der 90er Jahre seinen ersten internetfähigen Computer kaufte. Die Kosten für diesen PC übernahm die Krankenkasse als "Vorlesecomputer".

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Das Büro des Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverbandes liegt in einem unscheinbaren Hinterhof in Berlin-Mitte. Hier arbeitet Reiner in Vollzeit als Referent für Soziales. Eine circa 40 Zentimeter breite weiße Linie auf dem Boden weist den Weg zu Reiners Arbeitsplatz. Die Linie hat Rillen, damit Blindenstöcke in die Furchen rutschen und so einem Blinden oder Sehbehinderten den Weg weisen. In einem der Büroräume des Verbandes sitzt Reiner an seinem Schreibtisch. Darauf steht ein Laptop, ein Monitor, eine externe Tastatur und ein Lautsprecher.

Für Reiner ist das Internet vor allem ein Hilfsmittel, kein Selbstzweck

Ein gewöhnlicher Arbeitsplatz, könnte man denken – wenn da nicht noch etwas stehen würde, was man normalerweise nicht auf einem Schreibtisch sieht: ein längliches weißes Kästchen, in der Größe einer Computertastatur. Das obere Drittel besteht fast vollständig aus einem schwarzen Streifen mit kleinen weißen Stiften, die je nach Text ein- oder ausgefahren werden. Es ist eine sogenannte Braillezeile. Um zu lesen, können Blinde die Reihe von kleinen Stiften abtasten. Die Anordnung der Stifte verrät Blinden die Buchstaben auf dem Bildschirm. Die Braillezeile übersetzt auch Inhalte aus dem Netz in die kleinen weißen Stifte – zumindest, wenn es sich um Text handelt.

Reiner an seinem Arbeitsplatz | Foto: Motherboard/René Bosch

Direkt neben Reiners Bildschirm steht ein Lautsprecher. Aus ihm ertönt die künstliche Stimme eines sogenannten "Screenreader"-Programms. Sie liest ihm die Inhalte einer Website laut vor. Smartphones haben eigene Vorlese-Programme mit an Bord. Unter Windows läuft bei Reiner aber ein externes Programm. Die kosten meist mehrere hundert bis tausend Euro, mit der Software NVDA gibt es aber auch eine Open Source-Lösung.

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"Surfen zur Unterhaltung kann ich mir gar nicht so vorstellen."

Meist kombiniert Reiner beides: Der Screenreader liest ihm den Text vor, während er mit seinen Händen über die Braillezeile streift. Ist ein Zeile zu Ende, drückt er auf die Pfeiltaste nach unten und liest die nächste Zeile.

Texte tippt Reiner allerdings auf einer gewöhnlichen Computertastatur. Warum eigentlich? "Auf einer gewöhnlichen Tastatur schaffe ich ungefähr 200 bis 300 Anschläge in der Minute, mit einer Braillezeile komme ich vielleicht auf 150", erklärt er. Wie man mit zehn Fingern tippt, lernte Reiner in der Schule. Auf der Braillezeile könnte er das nicht.

Der Bildschirm von Reiners Laptop ist kaputt und zeigt nur noch einen Bruchteil der Inhalte an, der Rest ist schwarz. "Mich stört es nicht", sagt Reiner lachend, "ich brauch' den ja eh' nicht."

Rotieren und Tippen: Wie Reiner mit dem Smartphone navigiert

Auch sein Handydisplay ist immer aus. Höchstens um Sehenden etwas zu demonstrieren, schaltet er es ein. Durch Tippen und Rotieren navigiert Reiner durch die Smartphone-Benutzeroberfläche. Mit dem in iOS-eigenen Rotor kann er leicht durch Seiten navigieren, der Cursor kann je nach Voreinstellung zum Beispiel von Überschrift zu Überschrift springen. Um den Rotor zu benutzen, dreht Reiner zwei Finger auf dem Display. Apple beschreibt es auf seiner Erklärseite so: "Dreh einfach zwei Finger auf dem Display, als ob du einen Drehknopf benutzt." Reiners wichtigster Sinn bei der Handynutzung bleibt aber sein Gehör. Alles, was er antippt, liest ihm die Computerstimme vor. So kann er auswählen, wo er letztlich hin will. Die Sprachausgabe ist allerdings deutlich schneller als die, die man zum Beispiel von Siri gewohnt ist.

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So nutzt Reiner den Homescreen

Für Reiner ist das Internet vor allem ein Hilfsmittel, kein Selbstzweck. Er nutzt es, um nach Informationen zu suchen oder um mit Freunden und Familie zu kommunizieren. "Meine Tochter surft manchmal ziellos auf YouTube – ich nicht", erzählt Reiner. Wenn er das Internet nutzt, dann mit einem konkreten Ziel: "Zur Unterhaltung Surfen kann ich mir gar nicht so vorstellen."

WhatsApp ohne Gifs: Wie Blinde online chatten

Reiners zur Zeit am meisten genutzter Dienst ist WhatsApp. Zum Nachrichtenschreiben verwendet Reiner eine extra Tastatur-App, die aus sechs ovalen virtuellen Tasten besteht und wie eine Braillezeile funktioniert: Jedes Oval steht für einen Punkt der Brailleschrift. Durch die Kombination der getippten Tasten wählt er Buchstaben aus. Durch eine Wischbewegung nach rechts tippt Reiner eine Leertaste, mit einem Wisch nach oben fängt er eine neue Zeile an. Den getippten Text liest ihm eine künstliche Stimme vor.

Durch Tipp- und Wischbewegungen erstellt er einen Text, den er in andere Apps einfügen kann. Eine wichtige Anwendung für Blinde, die allerdings nicht ganz billig ist. 29 Euro kostet die App, es gibt allerdings auch eine eingebaute Braille-Anwendung von Apple. Blinde können sonst zum Beispiel die Diktierfunktion oder auch die eingebaute Iphone-Tastatur nutzen.

Wie Reiner eine WhatsApp-Nachricht tippt

Endgegner Captcha: Was uns an Websites nervt, wird für Reiner zum Ausschlusskriterium

Reiner steht auf und geht durch den Büroflur in den großen Konferenzraum. Während er läuft, achtet er sehr genau darauf, was um ihn herum passiert, tastet mit seinen Händen nach Wänden und Türrahmen. Dabei wirkt er keinesfalls hilflos, sondern selbstbewusst und routiniert.

Im Internet sollte er sich genauso selbstständig bewegen können. Doch immer wieder stößt er auf Grenzen, die ihn an einem eigenständigen Surfen im Netz hindern. Ein Problem hat Reiner zum Beispiel dann, wenn Webseiten Captchas benutzen und keine Alternativen für Blinde und Sehbehinderte bereitstellen.

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Die Bilddateien sollen Bots abwehren, indem die auf den Bildern dargestellten Buchstaben- und Zahlenkombination nicht von Programmen ausgelesen werden können. Aber dieses Vorgehen verhindert nicht nur Bots, sie sperrt auch Blinde wie Reiner gnadenlos aus. Denn sein Screenreader kann Captchas ebenfalls nicht lesen.

"Wenn es keine alternative Textbeschreibung für das Bild gibt, muss ich raten oder mir helfen lassen"

Neulich, so erzählt er, wollte er sein Skype-Passwort zurücksetzen. Also ging er auf die Microsoft-Webseite und stieß dort auf ein Captcha. Das hatte zwar eine Audio-Version, die war aber auf englisch und "so schlecht zu verstehen, dass ich sie nicht nutzen konnte", erzählt er.

"Meine Tochter surft manchmal ziellos auf YouTube – ich nicht"

Auch Bilddateien wie Bestell-Buttons, die für die Nutzung einer Internetseite unabdingbar sind, können zum Problem werden. "Wenn es keine alternative Textbeschreibung für das Bild gibt, muss ich raten oder mir helfen lassen", erzählt er. Das sind Momente, die Reiner nerven – und behindern. Im Konferenzraum hängen schwarz-weiße Cartoons. Die Quintessenz der Zeichnungen: Hilfe zur Selbsthilfe. Sich dann von Websites in die Knie zwingen zu lassen und von jemandem helfen lassen zu müssen, kann frustrierend sein.

Während herkömmliche Captchas immer seltener eingesetzt und so weiterentwickelt werden, dass sie teilweise ohne das nervige Buchstabenerkennen auskommen, sind vor allem Bildbeschreibungen ein Problem. Viele Websitebetreiber und Redakteure vergessen oder ignorieren das gerne mal. Doch erst durch Alternativbeschreibungen der Bilder, die für das Verständnis der Website wichtig sind, können auch Blinde und Sehbehinderte das Internet wirklich nutzen.

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Wie die Digitalisierung Blinden im Alltag helfen kann

Derartige Situationen sind aber zum Glück seltener geworden. Viele Websites seien heutzutage mehr oder weniger barrierefrei, erzählt Reiner. Zumindest, wenn man die Seiten per Computer aufruft. Auf dem Smartphone sind die Seiten für Blinde häufig immer noch unverständliches Kauderwelsch.

Wie können Webmaster also helfen, eine eigentlich visuell ausgerichtete Website für Blinde zugänglich zu machen? "Zum Beispiel, indem man die Zwischenüberschriften auch im Webseiten-Code als Zwischenüberschrift kennzeichnet", erzählt Reiner. "Dann kann ich einfach von Zwischenüberschrift zu Zwischenüberschrift hüpfen – und bin so bei manchen Internetseiten sogar schneller als der Otto-Normal-Nutzer." Auf Reiners Computer ist voreingestellt, dass ein Drücken auf "h" den Cursor zur nächsten Überschrift springen lässt.

In der Auszeichnungssprache HTML, die vorwiegend zur Strukturierung von Webseiten eingesetzt wird, haben Überschriften je nach Einsatzzweck eine Ordnungsnummer zwischen eins und sechs. Für Reiner sinnvoll: Wenn eine Seite gut strukturiert ist und er so gezielt Überschriften ansurfen kann, tippt er dazu einfach eine Zahl von eins bis sechs an.

Das Internet hat sich für Blinde zum Positiven verändert – bis hin zu Apps, die Farben erkennen können

Websites von öffentlichen Stellen sind sogar dazu verpflichtet, barrierefrei zu sein, denn seit 2002 gibt es die Behinderten-Informationstechnik-Verordnung. Die schreibt Websites, die vom Bund betrieben werden, vor, bestimmte Richtlinien durchzusetzen, damit unter anderem Sehbehinderte die Seiten nutzen können. Dazu gehört auch die korrekte Formatierung und Strukturierung einer Seite.

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So sucht Reiner via Google nach YouTube-Videos

Für Blinde ist die Digitalisierung vor allem eine positive Entwicklung, hin zu mehr Autonomie. Reiner erzählt von Apps, die für ihn Farben erkennen – zwar noch nicht komplett treffsicher, aber oftmals schon recht genau. Und auch Scanner, die nicht-virtuelle Texte einscannen, um sie dann dem Nutzer vorzulesen, sind erst durch die Digitalisierung möglich geworden.

Lieber Mailverteiler als unübersichtliche Facebookgruppen

Blinde können sich digital vernetzen und Gleichgesinnte finden: In Foren, Facebookgruppen – und oft auch über Mailverteiler. Warum eigentlich gerade Mailverteiler so beliebt bei Blinden sind, erklärt Reiner: "Meist ist ein Mailingprogramm übersichtlicher als zum Beispiel Facebookgruppen." Allerdings würden auch immer mehr Blinde Facebook und verstärkt auch WhatsApp nutzen. In Foren wie Maulwurf.Zone, Pro-Retina oder der Mailingliste der DBSV-Jugend tauschen sich Blinde, Sehbehinderte und Angehörige aus. Es geht um Hilfsmittel für Blinde oder Frage zum Umgang mit Krankheiten, die schleichend die Sehkraft rauben?

Vor allem zu der Zeit, als das Internet gerade zum Massenphänomen wurde, war diese Vernetzung wichtig, denn zu der Zeit waren die Screenreader noch nicht so ausgereift wie heute. "Früher musste man noch viel mehr experimentieren", erzählt Reiner. Wenn die Screenreader mal wieder mit einer Website nicht klarkamen, fragte er deswegen oft in Mailinggruppen nach.

Bild: Maulwurf.Zone | Screenshot: Motherboard

Am Ende des Gespräches steht Reiner auf, zieht seinen grauen Mantel an, nimmt seinen Blindenstock und geht nach draußen. Mit seinem Stock folgt er der gerillten weißen Linie bis zur Straße, denn er will noch seine Navigationsapp vorführen, die für Blinde optimiert ist. Das Menü ist einfach gehalten, die Ziele sind nach Schlagwörtern wie "Reise & Verkehr" oder "Natur & Freizeit" geordnet. Durch Wisch- und Tippbewegungen wählt er sein Ziel aus. Eine Computerstimme sagt ihm außerdem, dass sein Ziel auf drei Uhr liegt – damit ist keine Uhrzeit gemeint, sondern die Position. Die Navigation durch die Stadt läuft dann aber doch ganz klassisch via Google Maps ab, ohne besondere Hilfestellung – nur ziemlich laut.

Fast schon beiläufig demonstriert Reiner dann noch mit einem Lied auf YouTube, wie Blinde über's Internet Musik hören können. Seine Auswahl wirkt wie eine Reminiszenz an eine Digitalisierung, die ihm hilft, selbstständiger als jemals zuvor seinen Alltag bestreiten zu können – ganz ohne fremde Hilfe und Abhängigkeiten. Es ist – ausgerechnet – "I Can See Cleary Now" von Johnny Nash.