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Ein Videospiel-Süchtiger erzählt, wie er es schafft, seine Krankheit zu besiegen

Spielesucht gilt nun laut WHO offiziell als Krankheit. Aber was sagen die Betroffenen dazu? Wir haben mit einem Gaming-Abhängigen und einem Therapeuten gesprochen, wann aus exzessivem Spielen krankhaftes Zocken wird.
Kollage: Symbolbild | Shutterstock || Jakob Florack | privat

"Ich habe zwölf Stunden am Stück gespielt. Zwischendurch einen Toast so schnell wie möglich runtergeschlungen, damit der Magen nicht so schmerzt", so erinnert Luca sich an die Tage, an denen seine Krankheit am schlimmsten war. Luca ist 18 Jahre alt und spielesüchtig. Ganz offiziell. Denn im Juni 2018 wurde die Spielesucht oder "Gaming Disorder" von der Weltgesundheitsorganisation WHO in die ICD-11, in das Klassifikationssystem für Diagnosen von Krankheiten, aufgenommen. Sie gilt damit als anerkannte Diagnose, die Ärzte stellen können.

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Die Entscheidung wurde kontrovers diskutiert. Ein gutes Dutzend Experten, die im Bereich der Wirkung neuer Medien auf die Gesellschaft forschen, verfassten einen offenen Brief, in dem sie die WHO stark kritisierten. Der Forschungsstand sei einfach zu gering, stattdessen wäre die Gefahr groß, ganz gewöhnliche Spiele-Fans zu stigmatisieren. Doch wie wirkt sich die Entscheidung der WHO wirklich aus?

Drei Monate nach der Entscheidung wollen wir überprüfen, wie sich die Lage verändert hat für die Menschen, die am stärksten betroffen sind. Menschen wie Luca und die Ärzte, die Patienten wie ihn behandeln.

Luca ist süchtig nach 'League of Legends'

Ein Screenshot von League of Legends

Luca spielt 'League of Legends', weil es kostenlos ist, aber komplex. Er mag das Gefühl, sich immer weiter zu verbessern und diesen Fortschritt auch zu sehen | Screenshot: League of Legends | Riot Games

"Ich bin tatsächlich recht froh darüber, dass die WHO Spielesucht als anerkannte Krankheit ansieht", schreibt Luca an Motherboard. Luca mahnt trotzdem zur Vorsicht beim Einsatz der Diagnose: "Man muss ganz klar auf die Definition achten. Es ist erst eine Sucht, sobald sie dir in einem Aspekt deines Lebens schadet. Das bedeutet nicht, dass Spielen an sich eine Krankheit ist." Luca hofft, dass die Anerkennung von Spielesucht als Krankheit eher Stigmata verringern könnte als sie noch zu verstärken. "Ich hoffe, dass mit dieser Entscheidung auch Veränderungen einhergehen, sowohl was Vorurteile angeht als auch Behandlungsmöglichkeiten", schreibt Luca. "Ich denke es ist eine gute Entscheidung, da sich hoffentlich mehr Menschen ein richtiges Bild darüber machen, was es bedeutet, spielsüchtig zu sein."

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Das sei wichtig, schreibt Luca, denn persönlich hätte er viel mit Vorurteilen zu kämpfen. Zwar habe sein näheres Umfeld aus Familie und Freunden größtenteils verständnisvoll auf seine Sucht reagiert, andere waren aber weniger tolerant. "Viele reagieren sehr klischeehaft und sagen: 'Hör doch einfach auf'." Aber das konnte Luca nicht. "Und genau da liegt das Problem. Ich will ja nicht aufhören, es macht ja Spaß."

Er hofft, dass die Diagnose "Videospielabhängigkeit" den Umgang der Leute mit der Sucht verbessert: "Wenn ich entscheiden könnte, wie mit Betroffenen umzugehen sei, würde ich mir vor allem mehr Toleranz und Verständnis für sie wünschen", schreibt Luca in einer Mail an Motherboard. "Zu viele Menschen haben ein Bild eines gescheiterten, zu faulen, undisziplinierten Jugendlichen vor sich, der in seiner 'Zockerwelt' lebt." Doch Luca will vor allem Hilfe. Seit einem Jahr spielt er League of Legends, das Spiel, von dem er nicht loskommt. "Ich will nur einen gesunden Umgang mit Medien erlernen."

Die Entscheidung der WHO könnte der Forschung helfen

Portrait-Foto von Florack

Die Hilfe, die Luca möchte, bekommt er von Jakob Florack. Er ist Oberarzt in der Kinder- und Jugendpsychiatrie des Vivantes Klinikums in Berlin-Friedrichshain und leitet dort zusammen mit seinem Kollegen Daniel Illy seit 2015 eine Sprechstunde für Jugendliche: "Videospielabhängigkeit und pathologische Internetnutzung". Zusätzlich hat er einen Ratgeber zum Thema verfasst, über den Betroffene schnelle erste Hilfe im Alltag erhalten.

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In seiner Sprechstunde werden junge Menschen im Alter von 13 bis 18 Jahren in einer Mischung aus Gruppen- und Einzeltherapie behandelt, die ein Problem mit ihrer Mediennutzung haben. Sein erklärtes Ziel ist es nicht, junge Gamer komplett von Videospielen abzubringen, sondern ihnen einen verantwortungsvollen Umgang mit ihnen beizubringen. Florack sieht in der Aufnahme der Diagnose "Gaming Disorder" keine Gefahr, sondern eine wichtige Chance für die Betroffenen:

"Aus meiner Sicht bedeutet die Anerkennung ein Schritt in die richtige Richtung bei der Patientenversorgung." Das hat für Florack drei Gründe. Erstens: "Es wird dadurch ermöglicht, anhand eines einheitlichen Begriffs Forschung zu betreiben und dadurch Ursachen und Auswirkungen der Erkrankung besser zu verstehen."


Bei Motherboard: Wenn Gamer zu Versuchskaninchen werden


Zweitens: Ärzte und Therapeuten könnten durch die Diagnose einen differenzierteren Umgang mit Spielesucht entwickeln – und ihn auch verstärkt anbieten. Die "Abgrenzung von der leidenschaftlichen Ausübung einer Freizeitbeschäftigung", so Florack, zur problematischen Videospielabhängigkeit würde "einfacher" werden. Ohne klare Kriterien fiel es Therapeuten vorher schwer, leidenschaftliches Spielen von krankhaftem Spielen zu unterscheiden. Jetzt gäbe es aber für Ärzte wie Florack festgelegte Kriterien, wie beispielsweise einen negativen Effekt auf das Leben des Betroffenen, unabhängig von der konkreten Spielezeit. "Einer Stigmatisierung des Gamings wirkt das eher entgegen". Damit glaubt Florack genau das Gegenteil von dem, was Experten in einem offenen Brief an die WHO befürchtet haben.

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Und zuletzt führe die Aufnahme der Spielesucht in den Krankheitskatalog der WHO zu einer besseren Ausbildung von Ärzten: "Die Diagnose wird verstärkt Einzug halten in das Curriculum psychotherapeutischer Ausbildungsinstitue", so Florack im Gespräch mit Motherboard.

Viele Kritikpunkte an der Entscheidung der WHO möchte Florack entkräften. Ein populäres Argument etwa besagt, dass Videospielabhängigkeit keine eigene Krankheit sei, sondern ein Symptom: Ein Mensch mit Depressionen würde sich etwa in World of Warcraft vergraben. Nicht das Spiel sei hier das Problem, sondern die Depression. "Henne-Ei-Problem" nennt Florack diese Kritik. Er findet es wichtig, sowohl die Videospielsucht als auch andere psychische Krankheitsbilder gleichermaßen als Erkrankungen anzusehen und in den Blick zu nehmen."Es ist aber aus aus meiner Sicht auch ein Fehler, eine exzessive Videospielnutzung nicht als eigenes Problem zu erkennen."

Wie Luca mit seiner Sucht umgeht

Screenshot aus World of Warcraft

Während Erwachsene oft süchtig nach Online-Multiplayerspielen wie 'World of Warcraft' werden, ist das bei Jugendlichen selten der Fall. Wegen monatlicher Abo-Gebühren müssen sie ihre Eltern fragen. Kostenlose Spiele wie League of Legends werden häufiger zum Suchtgegenstand. | Bild: Screenshot | World of Warcraft | Blizzard

Dank der Therapie ist Lucas Leben heute anders. Luca spielt immer noch und er beschreibt sich immer noch als süchtig nach Spielen. Aber er lernt einen verantwortungsvolleren Umgang mit dem Medium und öffnet sich auch anderen Aktivitäten: "Momentan versuche ich mehr mit Freunden zu unternehmen und versuche auch Sport zu machen. Ich darf jeden Tag spielen so viel ich will, solange ich mich Zuhause und schulisch soweit engagiere, dass meine Mutter zufrieden ist. Meine Behandlung der Sucht ist noch nicht abgeschlossen, aber ich finde die Behandlung hervorragend."

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Wie bei jeder anderen Abhängigkeit ist auch der Weg aus der Spielesucht lang und beschwerlich. Aber Luca bereut seinen Schritt nicht und rät auch anderen Betroffenen dazu: "Der Tipp, den ich euch geben kann, ist simpel und gleichzeitig extrem schwierig und kostet viel Überwindung: Sucht euch Hilfe oder lasst euch helfen", schreibt er in einer Mail an Motherboard. "Es gibt genügend Anlaufstellen für Süchtige. Die Menschen dort sind nett und offen. Niemand will, dass ihr aufhört zu spielen. Ihr müsst es schaffen, euch soweit selbst zu beherrschen, dass ihr weder euch noch anderen schadet. Glaubt mir wenn ich sage, dass man sich danach besser fühlt als nach zehn Stunden Bildschirmflimmern und Magenknurren."

Wenn ihr das Gefühl habt, videospielsüchtig zu sein, gibt es Stellen, an denen euch geholfen werden kann. Der Fachverband Medienabhängigkeit hat dazu eine Übersichtsliste mit Adressen in eurer Nähe.

Bei Depression oder akuten Suizidgedanken gibt es zahlreiche Stellen, die professionelle Hilfe anbieten und helfen, das Leid zu lindern. Die kostenlosen Hotlines sind Tag und Nacht erreichbar.

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