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Machen Smartphones so süchtig wie Kokain und Heroin? Das sagt die Wissenschaft

Ständig sagen Nachrichtenmedien, dass Smartphones, Internet und Social Media süchtig machen. Manche vergleichen die Suchtgefahr mit der von Drogen. Stimmt das? Der Faktencheck.

"Experten schlagen Alarm: Smartphones machen uns krank, blind und dumm" – besser lässt sich die Panik vor Internet, Smartphones und Social Media kaum zusammenfassen als mit dieser Schlagzeile der Kölner Boulevardzeitung Express. Glaubt man den Warnungen vieler großer und kleiner Nachrichtenmedien, dann haben wir alle ein Riesenproblem.

Auch die Politik bezieht Stellung. Auf der Website der Drogenbeauftragten der Bundesregierung ist die Rede von Internetabhängigkeit. Das Wort steht auf einer Unterseite mit dem Titel "Suchtstoffe und Abhängigkeiten", zusammen mit unter anderem Alkohol, Glücksspiel, Heroin und Amphetaminen. Fast könnte man meinen, die Handys in unserer Hosentasche sind so gefährlich wie Crackpfeifen. Das wirft die Frage auf, warum Handys nicht gleich für illegal erklärt werden oder zumindest erst ab 18 Jahren erlaubt sind.

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Natürlich kann an dieser Anti-Technik-Stimmung irgendetwas nicht richtig sein, schließlich sind inzwischen mehr als 90 Prozent der Deutschen online, und Deutschland ist offenkundig kein Moloch aus internetsüchtigen Smartphone-Junkies, die – Zitat Express – "krank, blind und dumm" sind.

Auch die Wissenschaft hat sich mit dem Problem befasst: Was ist wirklich krank, und was ist vielleicht einfach nur ungewohnt? Gibt es Social-Media-Sucht überhaupt? Und wenn ja: Welche Nutzer sind gefährdet und wie unterscheiden sie sich von leidenschaftlichen Gamern und Nerds? Die Antworten auf die fünf größten Mythen zum Thema Internetsucht.

Mythos 1: Social-Media-Sucht ist eine Krankheit

Über Social-Media-Sucht als definiertes Krankheitsbild zu reden ist irreführend. Seit Jahren warnen Dutzende Nachrichtenmedien und Online-Ratgeber vor Social-Media-Sucht. Aber "Sucht" ist ein medizinischer Begriff, und eine anerkannte Krankheit namens Social-Media-Sucht gibt es zumindest aktuell noch nicht. Das gilt auch für Smartphone-Sucht, Instagram-Sucht, Facebook-Sucht oder Cybersucht.

Bevor etwas überhaupt als Krankheit anerkannt wird, müssen Forschende aufwendige Untersuchungen machen. So ist das etwa im Jahr 2018 bei der Gaming-Sucht passiert. Sie wurde als "Gaming Disorder" in die Klassifikation der Weltgesundheitsorganisation (WHO) aufgenommen, wenn auch unter Protest einiger Forschender. Gaming-Sucht ist in der WHO-Liste direkt unter Glücksspiel-Sucht zu finden. Es ist eine sogenannte Verhaltenssucht, die vor allem mit Online-Spielen zusammenhängt. Menschen, die darunter leiden, können über Monate hinweg nicht mit dem Spielen aufhören, obwohl es negative Auswirkungen auf ihr Leben hat.

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Jetzt wollen Wissenschaftlerinnen herausfinden, ob es noch weitere Verhaltenssüchte gibt, die mit dem Internet zu tun haben. Mit dem aktuellen Forschungsstand zur sogenannten Internetsucht hat sich die Psychosomatikerin Christiane Eichenberg von der Sigmund Freud Privatuniversität Wien eingehend befasst. Wie Eichenberg im Gespräch mit Motherboard erklärt, steht nicht etwa das ganze Internet unter Verdacht, süchtig zu machen – sondern nur spezifische Dinge, die Menschen darin tun.

Das bestätigt auch Bert te Wildt, Chefarzt der psychosomatischen Klinik Kloster Dießen, der seit dem Jahr 2002 Menschen mit Internetsucht behandelt. "Die mit Abstand häufigste Variante der Internetsucht ist in Kliniken die Abhängigkeit von Online-Computerspielen", erklärt er im Gespräch mit Motherboard. An zweiter Stelle stehe Cybersexsucht. "Dazu zählt nicht nur Pornographie, sondern auch Sexdating, Sexchats und Online-Bezahldienste, bei denen man Menschen zum Beispiel dafür bezahlt, dass sie sich vor der Kamera selbst befriedigen." Die mögliche Sucht nach sozialen Netzwerken stehe erst an dritter Stelle und habe nicht so große Folgeschäden.

Fest steht, auch wenn in der Forschung immer noch der pauschale Begriff "Internetsucht" zirkuliert: Die einzig bislang anerkannte Internet-Krankheit ist die Gaming-Sucht. Manches spricht dafür, dass in Zukunft auch Online-Sex-Sucht und Social-Media-Sucht als Krankheiten anerkannt werden könnten. Schon jetzt werden Menschen mit diesen Problemen behandelt. Aber bis sie als anerkannte Krankheiten gelten, ist noch mehr Forschung notwendig. Medienberichte, die ungewöhnlichen Umgang mit Social Media pauschal als krank bezeichnen, sind also unbegründete Panikmache.

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Mythos 2: Es ist gefährlich, wenn wir immer mehr Zeit im Internet verbringen

Das stimmt nicht. Mehr Zeit im Internet ist nämlich kein Hinweis auf irgendeine Krankheit. Viele Dinge, die früher nichts mit dem Internet zu tun hatten, passieren inzwischen online: chatten statt telefonieren, Podcasts hören statt Radio, YouTube schauen statt Fernsehen, auf Wikipedia recherchieren statt in der Lexikon-Reihe im Wohnzimmer.

Der Medienpädagogische Forschungsverband Südwest fragt jährlich 12- bis 19-Jährige, wie viele Minuten sie nach eigener Einschätzung täglich online sind. 2017 lautete die durchschnittliche Antwort: drei Stunden, 41 Minuten. Dabei lässt sich die Frage, wie viel Zeit wir genau im Internet verbringen, je nach Lebensstil kaum noch seriös beantworten.

"Die meisten Angebote im Internet machen nicht süchtig"

Zählen die Minuten, in denen man sich über eine nette WhatsApp-Nachricht freut, als Online-Zeit – oder zählen nur die Sekunden, die man aufs Antworten verwendet? Sind wir online, wenn wir am Bahnhof einen Infoscreen betrachten, der mit dem Internet verbunden ist? Und wie steht es mit online und offline verfügbarer Musik auf Spotify? Auch Stephan Dörner, Chefredakteur des Technikmagazins t3n, sieht in der Unterscheidung zwischen online und offline ein "altertümliches Verständnis vom Internet".

Diese fragwürdige Unterscheidung verursacht wiederum fragwürdige Ergebnisse in Umfragen und Studien. So heißt es in einer Studie des Konzerns Motorola vom Februar 2018: "33 Prozent der Befragten bevorzugen ihr Smartphone gegenüber dem Umgang mit Menschen, die ihnen wichtig sind". Auf den ersten Blick klingt das furchtbar: Offenbar verhindert das Smartphone menschliche Kommunikation. Andererseits nutzen viele ihr Smartphone aber gerade für den Kontakt mit Menschen, die ihnen wichtig sind. Die in der Studie aufgeworfene Frage ergibt also wenig Sinn. Wenn man Internetsucht verstehen will, helfen Online-Offline-Vergleiche wenig.

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Mythos 3: Alle Nutzerinnen und Nutzer sind suchtgefährdet

Das ist falsch. Auch wenn im März 2018 Nachrichtenmedien von angeblich Hunderttausenden Social-Media-süchtigen Jugendlichen in Deutschland berichteten: So schlimm ist es wahrscheinlich nicht. Die hohe Zahl beruhte auf einer irreführend interpretierten Krankenkassen-Umfrage, wie Motherboard berichtete.

"Das Wort Internetsucht suggeriert, dass das Internet an sich süchtig machen würde. Das stimmt aber nicht", sagt Christiane Eichenberg im Gespräch mit Motherboard. Selbst wer permanent im Internet unterwegs ist, schwebt nicht in Suchtgefahr. "Die reine Nutzungszeit kann nicht als Kriterium für Internetsucht herangezogen werden. Sonst wären wir alle längst süchtig", so die Forscherin.

Auch Bert te Wildt betont: "Die meisten Angebote im Internet machen nicht süchtig". Er sehe im Internet erstmal etwas Positives: "Das Internet ist ein medialer Großraum, in dem alle Medien, die der Mensch je geschaffen hat, einfließen. Das bedeutet ein schier unendliches Potenzial, sich mit anderen Menschen zu vernetzen".

"Wir können ohne Medien keine Demokratie aufrechterhalten und keine Bildung vermitteln"

Besonders problematisch werde es Eichenberg zufolge, wenn weitere psychische Erkrankungen hinzu kommen, etwa ADHS, Depressionen oder Angststörungen. Gefährdet sind demnach nur bestimmte Personen in bestimmten Lebenssituationen. Wenn dann eine mit dem Internet verbundene Sucht hinzu kommt, geht es den Leuten wirklich schlecht. "Für die Betroffenen hat Internetsucht ganz gravierende psychische, körperliche und soziale Folgen", sagt Eichenberg.

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Wie viele Faktoren erst einmal zusammen kommen müssen, bis überhaupt Suchtgefahr besteht, zeigt ein Online-Fragebogen des Online-Ambulanz-Service für Internetsüchtige. Auch Bert te Wildt ist an dem Projekt beteiligt, es wird unter anderem vom Gesundheitsministerium gefördert. Eine der neun Fragen lautet etwa: "Gefährden oder verspielen Sie wegen Ihrer Internetaktivitäten wichtige Beziehungen, Ihre Arbeitsstelle oder Möglichkeiten in Bildung oder Beruf?" Nach Angaben von te Wildt hätten in den zwei Jahren seit dem Launch des Fragebogens rund 30.000 Menschen getestet, ob sie möglicherweise Internetsucht haben. 212 Personen hätten danach eine Online-Sprechstunde mit den Suchtexperten gemacht. Etwa die Hälfte davon habe danach zurückgemeldet, tatsächlich in Behandlung gegangen zu sein.

Um 2013 hat ein Forscherteam um den Suchtforscher Hans-Jürgen Rumpf ermittelt, wie viel Prozent der deutschen Bevölkerung zwischen 14 und 64 Jahren schätzungsweise an Internetsucht leiden. Das Ergebnis: ein Prozent. Das klingt zwar nicht nach einer Volkskrankheit, dahinter stehen aber trotzdem viele Menschen. Mit Blick auf die Einwohnerzahl entspräche das immerhin 550.000 Deutschen. Das pauschalisierende Wort "Internetsucht" ist dabei irreführend, denn die Betroffenen leiden an spezifischen Problemen wie der Gaming-Sucht. Christiane Eichenberg und Bert te Wildt bezeichnen diese Studie gegenüber Motherboard als realistisch.

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Mythos 4: Apps wollen unsere Zeit fressen

Das stimmt teilweise. Die Konzerne hinter großen Online-Plattformen profitieren davon, wenn wir lange und wiederkehrend online sind, da wir dabei Werbung sehen und Daten hinterlassen. Deshalb geben Profis alles, um Apps und Websites so verlockend wie möglich zu gestalten. Genau das kritisieren inzwischen einige Entwickler, die zuvor für unter anderem Google und Facebook gearbeitet haben. "Was als Rennen begann, um mit Aufmerksamkeit Geld zu verdienen, nagt jetzt an den Säulen der Gesellschaft", schreiben die Aktivisten vom "Center of Humane Technology" auf ihrer englischsprachigen Website – und warnen vor negativen Folgen für die Gesundheit.

Genfood, Handystrahlung, E-Zigaretten – wie schädlich ist all das wirklich? Hier findest du alle Texte unserer Reihe "Was die Forschung sagt" .

Konkret geht es zum Beispiel um die kleinen roten Zahlen neben App-Icons auf dem Smartphone, die uns zeigen, dass es neue Nachrichten gibt. Oder um Push-Benachrichtigungen. Oder um Newsfeeds, die sich endlos scrollen lassen. Solche Tricks tragen dazu bei, dass wir das Smartphone kaum noch weglegen wollen. Und das ist gewiss keine Hilfe für Menschen, die mit Suchtverhalten kämpfen.

Selbst die großen Plattformen erkennen das Problem offenbar an und kommen den Kritikern zumindest etwas entgegen: Facebook und Instagram haben etwa im Sommer 2018 neue Funktionen hinzugefügt, mit denen Nutzende ihre Nutzungsdauer besser kontrollieren sollen. Am Geschäftsmodell der Konzerne ändert das natürlich nichts.

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Obwohl es nicht cool ist, wenn uns Tech-Konzerne mit nervigen Benachrichtigungen und geschickt gestalteten Benutzeroberflächen beeinflussen wollen – das allein löst natürlich noch keine Sucht aus.

Mythos 5: Das Internet wirkt wie eine Droge

Der Vergleich ist grob irreführend, aber viele Journalistinnen und Journalisten scheinen ihn zu lieben. "Gefährlicher als Alkohol und Zigaretten", schreibt etwa RP-Online über soziale Netzwerke. Deutschlandfunk Kultur setzt noch einen drauf und betitelt ein Interview über Smartphone-Sucht mit den Worten: "Stärker als Kokain". Der härteste Drogenvergleich kommt aber von Stern.de, der Westdeutsche Allgemeine Zeitung und der Stuttgarter Zeitung, sie schreiben nämlich von "Heroin aus der Steckdose". Für sogenannte Smartphone-Junkies gibt es inzwischen sogar mehrtägige, kostenpflichtige Seminare zur digitalen "Entgiftung", "Digital Detox" genannt.

Internetsucht mit Gift und Drogen zu vergleichen ist aber größtenteils Quatsch. Alkohol oder Heroin zum Beispiel sind Substanzen, die man erst einmal konsumieren muss. Dann lösen sie direkte Reaktionen im Körper aus. All das trifft auf das Internet nicht zu. Drogen können außerdem schon nach relativ kurzer Zeit psychisch oder körperlich abhängig machen.


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Eine Sache ist an dem Vergleich aber dran. Denn was bei einer Verhaltenssucht im Gehirn passiert, lässt sich durchaus mit einer stoffgebundenen Sucht vergleichen. "Das Suchtgedächtnis und das Belohnungssystem sind auf gleiche Weise betroffen", erklärt Psychosomatikerin Christiane Eichenberg. Trotzdem gebe es keine klare Grenze, ab wann das Gehirn im Fall von Internetsucht wie auf eine Droge reagiert. „Eine Verhaltenssucht ist ein schleichender Prozess. Die Kriterien dafür müssen sechs bis zwölf Monate lang erfüllt sein", so die Psychosomatikerin. "Das ist anders als bei zum Beispiel bei Heroin, wo schon die erste Dosis süchtig machen kann.“

Fazit: Einfach mal das Smartphone anlassen

"Internetsucht zu verteufeln ist genauso falsch, wie sie zu verharmlosen", betont Christiane Eichenberg im Gespräch mit Motherboard. Tatsächlich ist die öffentliche Debatte um Internetsucht voller Missverständnisse. Auch wenn einige Menschen unter einer mit dem Internet verbundenen Verhaltenssucht leiden: Wissenschaftlich gesehen hat es noch nichts mit Sucht zu tun, wenn sich Millionen Kinder und Erwachsene nicht gern von ihren Smartphones lösen wollen.

"Wir müssen aufpassen, dass wir unsere Kritik am Umgang mit dem Internet nicht zu einer allgemeinen Medienschelte ausweiten", fasst Bert te Wildt zusammen. "Wir können ohne Medien keine Demokratie aufrechterhalten und keine Bildung vermitteln. Bei der Auseinandersetzung mit der Internetsucht müssen wir aufpassen, dass wir das Kind nicht mit dem Bade ausschütten."

Wer pauschal von Internetsucht spricht, meint auch möglicherweise ein anderes Problem. Dieses Problem liegt weniger im Suchtpotenzial der Technik, sondern mehr im Verhalten der Menschen, die Smartphones noch nicht stressfrei in ihrem Alltag integrieren können. Auch wenn manche Eltern und Babysitter vielleicht daran verzweifeln: Viele Probleme mit Internet, Smartphone und Social Media lassen sich wohl nicht mit einer Suchttherapie lösen, sondern mit einem besseren Nutzungsverhalten. Dazu gehören zum Beispiel Routinen, wann wir das Smartphone besser in der Tasche lassen sollten und Tricks, wie wir die Kontrolle über unseren Homescreen gewinnen.

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