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Menschen haben mir erklärt, warum sie ohne Nachrichten glücklicher sind

Seitdem es Nachrichten-Apps gibt, wird jede neue Push-Mitteilung zu einer emotional-anstrengenden Achterbahnfahrt.
Foto von Thomas Leuthard | flickr | CC-BY-2.0

Lange Zeit war Weltschmerz für mich eine der schönsten Worthülsen, die man im Duden finden konnte. Im Alter von sieben Jahren empfand ich das Wort einfach als total poetisch. Die Nachrichten, die diesen Weltschmerz damals in mir hätten auslösen können, habe ich damals sowieso nicht verstanden. Mittlerweile ist das natürlich anders. Sobald man mit dem Erwachsenen-Hobby "Nachrichtenschau"—egal in welcher Form— anfängt, ist die unbeschwerte Zeit vorbei. Mit einem Smartphone erst recht.

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Nachrichten-Apps und die dazugehörigen Push-Benachrichtigungen sind für mich zur täglichen Belastungsprobe geworden. Morgens werde ich meistens schon mit einer euphorischen Zusammenfassung der wichtigsten Themen des Tages begrüßt und im Laufe des Tages über jedes Unglück, jeden Verstorbenen oder den nächsten großen Skandal mit einem signifikanten Klingelton informiert. Ja, ich habe gelernt, was Weltschmerz heißt. Nur manchmal wünschte ich mir, ich könnte mich diesem einfach entziehen, alle Nachrichten hinter mir lassen und in meinem Mikrokosmos die Welt so gestalten, dass ich mir über die Leiden der entfernten Anderen möglichst wenig Gedanken machen muss. Das ist eine sehr egoistische, aber zumindest sehr friedliche Vorstellung.

Unterstützt wird mein Gedankenexperiment von dem Schweizer Autor Ralf Dobelli, der schon vor fünf Jahren zur "Nachrichtendiät" animiert hat. Seine Gründe werden von zahlreichen Bloggern angeführt, wenn sie einen Post über "Warum ich keine Nachrichten mehr lese" verfassen: Nachrichten machen dumm, unkreativ, manipulieren und können nichts verändern. Auch nicht dann, wenn ich mich darüber informiere. Das ist zumindest die harte These des Experten.

Weil für mich dieser Nachrichtenentzug und dessen Folgen einfach nicht im Bereich des Vorstellbaren liegen, lasse ich mir von zwei Bloggern ihre Beweggründe erklären. Sina war bis vor zwei Jahren sehr ausführlich über das Weltgeschehen informiert. Ihr Zugang zu Nachrichten gleicht einer Art "Binge-Informing": Ständig hörte und las sie überall alle Nachrichten. Inzwischen tut sie das Gegenteil.

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Die Nachrichten können heute einfach aufploppen, auch wenn man es nicht erwartet und nicht darauf vorbereitet ist.

"Ich habe dabei immer wieder festgestellt, dass sich Nachrichten nie wirklich ändern", sagt sie heute. "Vor allem Konflikte, Katastrophen und politischer Streit. Aber tatsächlichen Neuigkeitswert haben Nachrichten kaum, zumindest nicht, was das aktuelle persönliche Leben betrifft. Im Gegenteil, mir fiel auf, dass ich oft schlechte Laune oder gar Angstzustände hatte." Also beschloss sie irgendwann einfach, ihren Nachrichtenkonsum zu reduzieren. Das heißt, kein Fernseher mehr, das Radio aller halben Stunde leiser machen und nicht mehr durch Twitter und Facebook scrollen.

Der Medienpsychologe Frank Schwab erklärt mir, dass Nachrichten, die in einem das Gefühl von Angst und Ärger auslösen, den mentalen Horizont verengen. Besonders durch die neuen Medien ist die Konfrontation mit dem Weltgeschehen nicht mehr auf die abendliche Tagesschau oder das morgendliche Zeitunglesen begrenzt. "Die Nachrichten können heute einfach aufploppen, auch wenn man es nicht erwartet und nicht darauf vorbereitet ist."

Ich dachte immer, 'Eilmeldungen' wären etwas relevanter… — Einhorn (@la_Ammo)15. August 2016

Auch der Blogger und Autor Alan hat sich vor drei Jahren gegen die Nachrichten entschieden—zumindest größtenteils: "So ganz entziehen kann ich mich dem dann doch nicht. In meiner Arbeit als Autor bin ich auch sehr viel im Internet unterwegs um zu recherchieren. Da bleibt es nicht aus, dass mir die eine oder andere Schlagzeile um die Ohren fliegt. So bekomme ich auch eine Menge vom Weltgeschehen mit. Sobald ich merke, dass ich mich in Gedankenketten verstricke, oder ich anfange über die Meldungen zu grübeln, sage ich mir innerlich 'Stop' und wende mich wichtigeren Themen zu."

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Die Herausforderung, sich den Nachrichten zu entziehen, klingt wie ein Widerspruch in sich. Stresst man sich in unserer Welt nicht erst recht damit, dass man vor den Nachrichten flüchtet, die einen stressen? Frank Schwab bestätigt, dass es schwierig ist, sich dem Weltgeschehen zu entziehen: "Ob der Nachrichtenentzug realisierbar ist, finde ich fragwürdig. Unsere Welt bietet Nachrichten an jeder Ecke an. Das ist so ähnlich, wie wenn Sie sich entscheiden, morgen keinen Zucker mehr zu essen: Überall ist Zucker drin." Die schön dekorierte Vitrine voller genüsslicher Nachrichtenhäppchen wird dann schnell zur Belastungsprobe.

Alan beispielsweise ertappt sich auch öfter einmal beim N24-Ticker lesen: "Vor kurzem bin ich für ein paar Minuten bei einem Nachrichten-Spezial hängengeblieben. Es ging um die Terroranschläge in Frankreich. Ganz ehrlich? Ich musste lachen. Nicht über die schrecklichen Ereignisse. Aber über die schwachsinnige Berichterstattung. Ungefähr 15 Minuten lang erzählte ein Reporter, dass jetzt immer mehr Polizei vor Ort ist und die Stadt sichert, und man hofft, dass man vielleicht gleich einen Polizeisprecher ans Mikrofon bekommt, der dann natürlich nicht ausschließen kann, dass dieser Anschlag einen islamistischen Hintergrund hat. Aber man weiß es halt noch nicht. Kurzum: Ein Nachrichten-Spezial mit 0,0 Prozent Inhalt. Absolut verschwendete Zeit."

Es ist also fast schon eine wirtschaftliche Frage: Der persönliche Wert einer Nachricht wird dem emotionalen und zeitlichen Aufwand gegenübergestellt. In den meisten Fällen ist unser Nachrichtenkonsum nämlich sehr oberflächlich. Uns interessiert nur das, was uns in irgendeiner Art und Weise persönlich betrifft—beispielsweise das Wetter.

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Bekam ne Pushnachricht, dass die — Herr-Hirn-Himmel (@Viel_Davon)3. Mai 2015

Von den restlichen Informationen behalten wir nur einen Bruchteil, widmen den schlechten Schlagzeilen trotzdem viel Aufmerksamkeit und Zeit. Danach bleibt einem eigentlich nur die Vermutung, dass unsere Welt aus einem großen Haufen voller Leid und Übel besteht. Ein Weltschmerz, der uns von Trauer bis zu Wut ein ganzes Spektrum an Gefühlsausbrüchen kostet. Alan und Sina fühlen sich ohne die Reizüberflutung der Nachrichten viel besser. Sie hätten weniger irrationale Ängste und weniger Sorgen. Natürlich informieren sie sich immer noch über Themen, die ihnen wichtig sind. Nur gehören Nachrichten meistens eben nicht dazu.

Aber so ganz überzeugen kann mich die Idee nicht. Besonders, weil diese Entscheidung—oder auch dieses "Wahlrecht", wie es Alan nennt—, einen großen Haken hat. Nachrichten und Medien sind Güter und Errungenschaften der Demokratie—auch, wenn nicht alle Medienunternehmen ihre Funktion ausreichend erfüllen. " Medien sollen schließlich eine politische Teilhabe gewährleisten. Das ist ein Kernaspekt der Demokratie. Wenn man sich dem verweigert, hat man mit der politischen Teilhabe ein Problem", meint auch Frank Schwab.

Es ist nicht nur die Furcht davor, etwas zu verpassen—das ist eine Tatsache, mit der viele Nachrichtenabstinenten ziemlich gut umgehen können, auch in Freundeskreisen. Für Wahlen nutzt Sina beispielsweise einen Wahl-O-Maten oder das Gespräch mit Freunden. Es ist jedem selbst überlassen, wann und wie viele Nachrichten wir konsumieren. Aber sich der Nachrichtenwelt zu entziehen, weil die Medien uns nicht mehr nur zu ausgewählten Zeiten mit Informationen versorgen? Frank Schwab erklärt mir, dass unser Gehirn nur für die emotionale Verwaltung von 150 Personen ausgelegt ist. "Durch die neuen Medien haben wir die Zuständigkeit aber bis zum Rand des Unmöglichen ausgedehnt. Deswegen entwickeln wir neue Mechanismen, um damit umgehen zu können."

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Alle Eilmeldungen im Kopf mit 'Funfact' statt 'Eil' lesen und schon ist das Leben lustiger.

— Nico Cicalone (@NChiggi)17. August 2016

Dadurch entsteht auch derberechtigteVorwurf vieler Medienkritiker, dass wir abstumpfen würden. Das wird aber oft negativer gesehen, als es eigentlich ist. Irgendwann begreift man durch Nachrichten eben auch, dass diese negativen Dinge wie Tod und Katastrophen eben passieren—ob wir uns damit näher befassen oder nicht. Dann nimmt auch der oft so tief empfundene Weltschmerz ab. Zum Teil sind wir nämlich auch selbst dafür verantwortlich, dass wir den Medien ihren Überhang zu dramatischen Nachrichten ankreiden." Wenn man so will, sind Nachrichten immer verzerrt. Was die Dramatisierung und Überzeichnung angeht, gilt die Regel 'only bad news are good news'. Das liegt aber gar nicht so sehr an den Nachrichtenmachern, sondern an den Rezipienten. Wir haben eine erhöhte Aufmerksamkeitsspanne für schlechte Meldungen."

Vielleicht hat also der bewusste Konsum der Nachrichten sehr viel mit dem oft verwendeten Fast-Food-Beispiel gemein. Man darf es eben nicht übertreiben. Zu viele Kohlenhydrate sorgen für mehr Körpergewicht, zu viele Nachrichten schmälern den Geist. Gewisse Medien sollte man aufgrund ihrer zahlreichen Weltuntergangsszenarien oder Dramatisierungen wahrscheinlich tatsächlich ganz meiden.

Lest hier, wie Nachrichten in Boulevard-Magazinen teilweise produziert werden.

Aber ein wirklich stressfreieres Leben hat man durch einen Nachrichten-Entzug nicht. Selbst nach langjähriger Nachrichtenabstinenz gibt es gewisse Themen, über die man sich informieren muss—Wahlen beispielsweise. Zudem stimmt es nicht ganz, dass man durch Nachrichten nichts verändern kann. Globale Nicht-Regierungs-Organisationen sind quasi auf diesem Prinzip aufgebaut. Schließlich kann man nur weltweit helfen, wenn man auch über das Leid in der Welt informiert ist. Anstatt die Presse zu verdammen und die Welt, die sie widerspiegelt, sollte man die Nachrichten vielleicht gezielter und aufmerksamer lesen. Und diese Push-Benachrichtigungen aus der Hölle einfach ausschalten. Wirklich. Das hätte ich schon seit langer Zeit tun sollen.


Foto von Thomas Leuthard | flickr | CC-BY-2.0