Wir wissen jetzt, wie alt der Mensch werden kann—aber Forschern reicht das nicht
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Wir wissen jetzt, wie alt der Mensch werden kann—aber Forschern reicht das nicht

Die menschliche Lebensspanne scheint eine natürliche Grenze zu haben. Wissenschaftlern ist ein Durchbruch gelungen, der dazu führen könnte, dass wir Altern bald als Krankheit und nicht mehr als natürlichen Prozess verstehen.

Jeder Mensch träumt vom ewigen Leben, ob er es zugibt oder nicht. Wie sonst lassen sich all die optimistischen Diäten, teuren Faltencremes oder exzentrischen Therapien wie die Kryokonservierung erklären, denen sich Leute unterziehen, um der ewigen Jugend näher zu kommen?

Allein in den vergangenen 100 Jahren ist das durchschnittliche Alter, das Menschen erreichen, sprunghaft angestiegen. Noch zu Beginn des letzten Jahrhunderts lag die menschliche Lebenserwartung bei lediglich 45 bis 50 Jahren. Inzwischen ist sie in vielen Teilen der Welt auf auf 75 bis 80 Jahre gestiegen. Schaut man auf diese rasanten Entwicklungen und die Möglichkeiten zukünftiger Technologien an, könnte man leicht annehmen, dass sie immer weiter steigen wird: Krankheiten wie Herzerkrankungen, Krebs und neurodegenerative Erkrankungen, die heute zu den häufigsten Todesursachen zählen, werden ausgerottet werden. Die durchschnittliche Lebenserwartung wird auf über 100 Jahre steigen.

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Es gibt jedoch ein Problem: Es sieht ganz danach aus, als ob die Natur der menschlichen Lebensdauer eine Obergrenze gesetzt hat—und möglicherweise haben wir diese schon erreicht. Eine neue Analyse globaler demografischer Daten, die im Fachblatt Nature veröffentlicht wurde, deutet darauf hin, dass unser Körper eine bestimmte Altersgrenze nicht überschreiten kann. Die Studie nennt auch einen eindrucksvollen Rekord: Der bisher bekannte älteste Mensch der Welt war Jeanne Calment, eine Französin, die im stolzen Alter von 122 Jahren starb. Das war bereits im Jahre 1997.

Seit dem Jahr 1997 ist die Weltbevölkerung allerdings weiter gewachsen und die Gesundheitsversorgung noch einmal besser geworden. Alleine deswegen könnte man schon erwarten, dass jemand anderes Calments Rekord inzwischen hätte brechen können. Was ist also der Grund dafür, dass in den letzten zwei Jahrzehnten niemand Calments Alter übertrumpfen konnte?

Die älteste bekannte Person der Welt, Jeanne Calment, starb 1997 im Alter von 122 Jahren. Bild: AP Photo/Files, Francois Mori

„Ich persönlich sehe die Sache recht pessimistisch", sagte Jan Vijg vom Albert Einstein College of Medicine in New York, auf die Frage hin, ob die menschliche Lebenserwartung über 120 Jahre hinausgehen könnte. „Basierend auf dem, was wir wissen, erscheint es mir jedenfalls nicht möglich", sagte Vijg weiter. „Wenn sie mich aber fragen, ob es wirklich unmöglich ist, so habe ich darauf keine Antwort."

Jay Olshansky von der University of Illinois in Chicago, der eine Begleitanalyse zur Nature Publikation verfasst hat, stimmt der Aussage zu, dass es eine natürliche Höchstgrenze der menschlichen Lebensdauer gibt—aber er glaubt, dass die Menschen diese durchbrechen können. Olshansky ist an einer Studie beteiligt, die sich als erste ihrer Art direkt mit dem Altern beschäftigen wird. In der Studie soll ein Stoff namens Metformin untersucht werden, der (zumindest bei Mäusen) einen starken Anti-Aging-Effekt zu haben scheint.

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Sollte diese Studie erfolgreich sein, könnte die Menschheit die Obergrenze ihrer Lebenserwartung durchbrechen, die die Natur uns scheinbar auferlegt hat. Olshansky ist dann auch etwas optimistischer, was die Möglichkeit der biotechnologischen Verlängerung des Lebens angeht: „Ich stimme Vijg zu, dass es eine Obergrenze für das menschliche Alter gibt," sagte Olshansky. „Können wir diese überwinden? Ja."

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Laut Vijg weiß die Wissenschaft noch immer nicht genau, warum Menschen altern. Er erforscht die These, dass die Alterung durch Chromosomeninstabilität verursacht werden könnte. Dabei sammeln sich DNA-Mutationen über einen längeren Zeitraum in den Zellen an und führen nach einer Weile zu Krebs und letztendlich zum Tod.

Aber der Alterungsprozess verläuft nicht bei allen Lebewesen gleich schnell ab: Mäuse haben eine Lebenserwartung von lediglich zwei oder drei Jahren. Menschen leben in etwa 80 Jahre. Der Grönlandhai, das Wirbeltier mit der längsten bekannten Lebensdauer, kann sogar bis zu 400 Jahre alt werden.

Lebewesen existieren, um sich fortzupflanzen. Wie lange ein Geschöpf also lebt, hängt tatsächlich davon ab, wann es Nachkommen produziert. Tiere, die sich erst zu einem späteren Zeitpunkt fortpflanzen, leben tendenziell länger, erklärt Vijg. So bekommen weibliche Grönlandhaie erst mit über 150 Jahren zum ersten Mal Nachwuchs.

„Das Leben wird durch Reproduktion und Veränderung angetrieben—durch Vielfalt," sagt Vijg. „Die Natur hat kein Interesse daran, einen bestimmten Organismus für immer am Leben zu erhalten", sondern nur so lange, bis er für die nächste Generation gesorgt hat. Danach kann diese Kreatur sterben und die Erde dreht sich ohne sie weiter. Ein Konzept, das für uns Menschen allerdings nur wenig zufriedenstellend ist.

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Wenn es also wirklich keine biologische Obergrenze für das Alter gibt, oder der Mensch sie noch nicht erreicht hat, liegt die Vermutung nahe, dass die aktuell ältesten Menschen auch den größten Anstieg der Lebenserwartung erleben müssten. Nature zufolge ist das jedoch nicht der Fall. Vijg und seine Ko-Autoren untersuchten dafür Daten der Human Mortality Database aus fast 40 Ländern.

Sie stellten fest, dass der größte Anstieg der Lebensspanne in der höchsten Altersgruppe in den 1980er Jahren lag. Und das der Wert seitdem mehr oder weniger stagniert.

Aufgrund dieser Ergebnisse schauten sie sich die ältesten Menschen in Frankreich, Japan, Großbritannien und den USA an, den Ländern mit der höchsten Anzahl an Supercentenarians: Leute, die mindestens 110 Jahre alt geworden sind. Sie kamen zu dem Schluss, dass das Todesalter in dem Zeitraum stagnierte, als Calment starb, also um das Jahr 1997. Seit Calments Tod sei das Höchstalter für Menschen zurückgegangen, schreibt Olshansky in seiner Arbeit.

Auf die Frage hin, was Menschen, die über ein Jahrhundert alt werden, so besonders macht, antwortete Dr. Nir Barzilai, dass die Antwort in den Genen liege. Barzilai ist der Leiter des Instituts für Altersforschung am Albert Einstein College of Medicine und Initiator einer Langzeitstudie über Hundertjährige. Er erzählte Motherboard von einem Treffen mit einer 110 Jahre alte Frau, die seit 95 Jahren rauchte. In einer Studie aus dem Jahre 2011 stellten Barzilai und seine Kollegen fest, dass Faktoren der Lebensführung in dieser Gruppe quasi gar keinen Effekt auf ein extrem langes Leben hatten.

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Das heißt allerdings nicht, dass alle Menschen auf gesunde Ernährung und Bewegung verzichten sollten, sondern zeigt vielmehr, dass diese Gruppe scheinbar etwas ganz besonderes hat: Die Hundertjährigen scheinen langsamer zu altern als der Rest der Menschheit. Verfolgt man diese These weiter, so muss man die Geschwindigkeit des Alterns direkt untersuchen, um dem Menschen ein Leben über die natürlich Höchstgrenze hinaus zu ermöglichen.

Einige Forscher glauben, dass dem Altern durch Genmanipulation ein Ende gesetzt werden kann. Vijg würde nicht ausschließen, dass irgendeine zukünftige Technologie die Lebenserwartung drastisch erhöhen könnte, hält dies aber nicht für sehr wahrscheinlich. Gegenüber Motherboard sagte er, dass die Obergrenze durch so viele unterschiedliche Gene und Genvariationen festgelegt werde, dass er gar nicht wüsste, wo man ansetzen sollte, da man zu viele Prozesse gleichzeitig anvisieren müsste.

Bisher hat der Mensch noch nicht herausgefunden, wie man den Alterungsprozess aufhalten kann. Der Anstieg der menschlichen Lebenserwartung hat laut Olshansky nichts mit einer veränderten Alterungsgeschwindigkeit zu tun. Die Entwicklung ließ sich viel mehr auf ein verbessertes Gesundheitssystem zurückführen.

„Ohne weitere medizinische Durchbrüche kann die Lebenserwartung nicht viel weiter steigen", schreibt Olshansky. Wenn es nach manchen Beobachtern geht, könnte solch ein Durchbruch in Form des weit verbreiteten Wirkstoffs Metformin kurz bevorstehen.

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Metformin ist schon seit Jahrzehnten als Blutzuckerregulierungsmittel für Diabetes II auf dem Markt. Als überraschender Nebeneffekt konnte es auch die Lebensdauer und die Anzahl der gesunden Lebensjahre erhöhen—zumindest bei Mäusen.

Dr. Michael Pollak sagte gegenüber Motherboard, dass Metformin das Leben verlangsame. Der Onkologe der McGill University in Montreal kam in einer Veröffentlichung von 2013 schon zu eben diesem Schluss. Metformin scheint also in etwa das zu bewirken, was Barzilai bei Hundertjährigen beobachten konnte.

Barzilai, Pollak und Olshansky arbeiten nun gemeinsam an der Umsetzung einer Studie, in deren Rahmen bald Tausende von älteren Menschen Metformin (oder ein Placebo) zu sich nehmen könnten, um zu untersuchen, ob das Mittel den Alterungsprozess ebenso verlangsame könnte, wie es bei Versuchstieren beobachtet wurde.

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Da Metformin schon sehr lange auf dem Markt ist und bereits von vielen Leuten eingenommen wurde, ist seine Unschädlichkeit bereits belegt. Dies erschwert allerdings auch die Verwirklichung der Studie. „Pharmaunternehmen wollen die Studie nicht finanzieren, weil sie zu allgemein ist," meint Pollak. Anders ausgedrückt: Die Studie würde nicht genug Gewinnchancen abwerfen. Nach Aussagen von Barzilai bewerben sie sich gerade auf Fördermittel für die Studie.

Sollte es durch Metformin oder ein anderes Mittel gelingen, den menschlichen Alterungsprozess zu verlangsamen, könnte das auch den Umgang mit schweren Krankheiten verändern. Heute sterben die meisten Menschen in Industrieländern an Krebs, Herzerkrankungen, neurodegenerativen Erkrankungen oder Infektionen. Diese stehen alle in engem Zusammenhang mit dem Altern. Diese Krankheiten nach und nach einzeln auszuschalten, ist nicht sehr effektiv: Auch wenn es gelingt, den Krebs einer älteren Patientin zu heilen, wird sie höchstwahrscheinlich in ein oder zwei Jahren an einer anderen Krankheit sterben. Ab einem gewissen Alter kann schon eine einfache Erkältung tödlich verlaufen, da das Immunsystem mit der Zeit abbaut.

„Wenn wir weiterhin eine Krankheit nach der anderen angehen, als ob sie völlig unabhängig voneinander wären, fördern wir damit im Endeffekt Gebrechlichkeit und Invalidität," sagt Olshansky. „Der Preis, den Alterungsprozess nicht zu verlangsamen, könnte sehr hoch sein." Barzilai hat die gesellschaftlichen Kostensogar auf eine Summe taxiert: Auf 7 Billionen Dollar.

Wie kann man sich also das Sterben in einer Welt vorstellen, in der ein Medikament hohes Alter verhindern kann? Irgendetwas würde letztendlich zum Tod führen, aber hoffentlich würden die Menschen die Zeit davor weniger gebrechlich erleben. Die Hundertjährigen in Barzilais Studie leben wohl nicht nur länger, sie sind auch länger gesund: „Wenn sie krank werden, sterben sie kurze Zeit später," sagt er. Sie klammerten sich nicht am Leben fest.

Für den Moment ist das maximale Lebensalter des Menschen möglicherweise erreicht und niemand wird so schnell den Altersrekord von Jeanne Calment brechen. Um die durchschnittliche menschliche Lebenserwartung auf über 100 Jahre zu verlängern, ist ein Umdenken nötig. Wir müssen anfangen, das Altern nicht mehr als natürlichen Prozess sondern als Krankheit zu sehen, die mit einem Medikament oder einer anderen Methode bekämpft werden muss.

„Ich bin überzeugt, dass es nicht nur möglich ist, sondern dass wir es schaffen können", sagt Olshansky. „Und wir sollten dieses Ziel offensiv verfolgen."