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"Teilen, bis das Schwein gefasst ist" – Hunderttausende jagen nicht tatverdächtigen Mann im Netz

Der virale Hetzpost einer neurechten Facebook-Seite gegen einen unbescholtenen Mann wird von wütenden Nutzern rasend schnell verbreitet. Als die Polizei dementiert, haben große Medien die Falschmeldung bereits übernommen.
Image via Twitter,Army of Gutmenschen

Alles brüllt. Von links stürmen Polizisten, ein Typ in Shorts und Hoodie stellt sich gestikulierend in den Weg, hunderte Menschen stehen am Rand, Flaschen fliegen. Plötzlich raucht etwas und einer der Beamten geht zu Boden – dieses kurze Video zeigt leider nur eine von vielen gewalttätigen Szenen vom G20-Wochenende aus Hamburg.

Im Netz kochte die Stimmung ähnlich über wie auf der Straße – die sozialen Medien wurden am Wochenende rund um die Demo-Berichterstattung von abgründigen Gewaltfantasien vieler Nutzer heimgesucht. In einem besonders krassen Fall jagte ein Mob aus Selbstjustiz-Rittern im Netz den besagten Typen in Shorts fälschlicherweise als Böllerwerfer, der dem Polizisten im Video "das Augenlicht genommen" haben soll – und selbst die schnelle Richtigstellung der Hamburger Polizei konnte die virale Falschmeldung nicht mehr aufhalten.

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Ein unverpixeltes Foto des Mannes wurde von der rechten Facebookgruppe "Bürgerproteste Hannover" am Samstag in Umlauf gebracht und verbreitete sich rasant: Dem Aufruf eines Nutzers – "Teilen, bis das Schwein gefasst ist" – kamen innerhalb weniger Stunden knapp 100.000 Menschen nach – und das, obwohl die Gruppe nur popelige 3.579 Mitglieder zählt.

Nichts an dem mittlerweile gelöschten Post stimmte: Der abgebildete Mann hat den Polizisten laut der Polizei Hamburg nicht durch einen Feuerwerkskörper verletzt. Der Beamte drohte nicht zu erblinden, wie der Facebook-Post behauptet, wurde allerdings "wegen eines Knalltraumas behandelt", wie die Polizei Hamburg auf Twitter klarstellte.

Nicht zuletzt die Weiterverbreitung der Falschmeldung durch große Medien wie BILD – stilecht mit unverpixeltem Foto des Demonstranten, vagen Gerüchten ("Nach BILD-Informationen könnte er sein Augenlicht verlieren") und finalem Fallbeil-Urteil ("Diese Attacke war ein Mordversuch!") – gab der Online-Hexenjagd durch aufgebrachte Facebook-Nutzer dabei eine vermeintliche Legitimation.

Rechte Nutzer auf Facebook verliehen der Fake News durch ein zusammenfantasiertes Kopfgeld – "es ist eine hohe 5 stellige Summe ausgesetzt wurden" (sic!) – dazu noch den Anstrich eines offiziellen Fahndungsaufrufs, den es tatsächlich aber nie gegeben hat.

Noch am Abend des 8. Juli versuchte die Polizei Hamburg, die aufgeheizte Stimmung mit einem Dementi zu beruhigen – doch da war das Kind schon in den Brunnen gefallen:

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Die BILD Hamburg räumte auf Twitter in der Nacht zum Sonntag ein, dass der abgebildete Mann "laut @PolizeiHamburg" nicht tatverdächtig ist; die Polizei Hamburg teilte und bestätigte das Update.

"Wird schwer, das wieder einzufangen", twitterte Hoaxmap-Gründerin Karolin Schwarz daraufhin und sollte Recht behalten: Die Richtigstellungen von Polizei und Bild erfuhren auf Twitter nicht ansatzweise so viel Verbreitung wie das Gerücht des ursprünglichen Hetzposts. Der Fall zeigt, wie die fatale Kombination aus vorschnellen Reaktionen auf Sozialen Medien und einer extrem emotionalisierten Stimmung einfach mal jemand zum Gewaltverbrecher gemacht wird und sich ein Mob zur Lynchjustiz berufen fühlt.

Zwar ist das hunderttausendfach geteilte Originalvideo von der Facebook-Seite "Bürgerprotest Hannover" mittlerweile verschwunden. Doch wer sich einen Eindruck davon verschaffen will, zu welchen menschenverachtenden Fantasien sich Nutzer durch eine solche Hexenjagd aufpeitschen lassen, muss den Originalpost auch gar nicht aus den Archiven kramen. Es reicht ein Besuch auf der Facebook-Seite von "Pegida BW - Bodensee", wo das Video am 8. Juli neu hochgeladen wurde In den Kommentaren finden sich hier unzählige Aufrufe zu Morden, Gewalt, Schusswaffengebrauch und diversen schweren Straftaten. Der rechte Zusammenschluss deutet die Richtigstellung der Polizei so um, als würde diese linke Gewalttäter schützen und fabuliert etwas von "Druck von oben".

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Sogar ein lokaler Ableger einer großen Polizeigewerkschaft, der DPolG aus Königsbrunn, befeuerte die Lynchjustiz gegen den Unbekannten auf Facebook zusätzlich im Wildwest-Stil:
"W A N T E D : Das ist der 'Demonstrant', welcher mit einem Böller unserem Kollegen das Augeblicht nahm" (sic!).

Dieses Verhalten der Polizeigewerkschaft kritisiert ein Nutzer auf Facebook: "Auch wenn eine Gewerkschaft im Prinzip nur ein Verein ist - der Begriff Polizei steckt drin (…) also vielleicht mal die Außenwirkung prüfen und DENKEN, drücken, sprechen (…) Echt peinlich und dem Ansehen nicht zuträglich."

Der Ersteller der Falschmeldung ist mit seiner Reichweitenbombe höchst zufrieden: "Das soll und wird uns allen ein Ansporn sein!"

Im Nachhinein will es auch die DPolG – immerhin die zweitgrößte Polizeigewerkschaft, die unter ihrem umstrittenen Vorsitzenden Rainer Wendt wegen dessen populistischen Aussagen immer wieder in die Schlagzeilen gerät – nicht gewesen sein. Schuld an der Verwirrung sei eine "in Sozialen Medien verbreitete Darstellung", so die Einleitung der Richtigstellung.

Wie der Faktenfinder der Tagesschau herausstellte, trug wohl auch die Polizei Hamburg durch einen später dementierten Tweet zu der Annahme bei, es sei ein Polizist durch einen Böller am Auge verletzt worden.

"Bürgerprotest Hannover" jedenfalls ist mit sich selbst und seiner Reichweitenbombe zufrieden, freut sich wie Bolle über die Erwähnung beim "rotgrün-verstrahlten ZDF" (gemeint ist die Faktenfinder-Website der Tagessschau) und findet es auch voll okay, dass die 100.000 Shares innerhalb eines Tages mit einer Falschmeldung erreicht wurden: "Das soll und wird uns allen ein Ansporn sein!", resümiert die Social-Media-Abteilung der islamfeindlichen Gruppierung.

Ein grenzenlos verblödete "Lehre", die im Zweifel mit Post vom Staatsanwalt enden kann: Solange die Ermittler selbst auf Sozialen Medien dazu auffordern, sind Hinweise über Straftaten und potentielle Straftäter an die Polizei natürlich okay – doch die rasante und dazu noch öffentliche Verbreitung über die Netzwerke kann schnell eine Eigendynamik entwickeln, die nicht selten unschuldige Menschen an den Online-Pranger stellt und auch im echten Leben gefährdet.

Besonders drastisch konnte man das am Attentat auf den Boston Marathon nachvollziehen: Binnen eines Tages geisterten unzählige Nutzerberichte über Namen und Adresse eines vermeintlichen Attentäters durch das Internetforum Reddit. Schließlich versammelte sich ein Mob aus Schaulustigen und Kameraübertragungswagen lokaler Medien vor der Tür eines Menschen, der sich als völlig unschuldig entpuppte – und wenig später tot aufgefunden wurde.

Ob ein Zusammenhang besteht, ist nicht klar – fest steht aber, dass Internetfahndungen sich auch durch die Möglichkeit des anonymen Postings so schnell hochschaukeln, dass sie sehr schnell unberechenbar und womöglich illegal werden. Denn wer öffentlich zu Straftaten auffordert, macht sich gemäß § 111 Strafgesetzbuch in Deutschland selbst zum Täter: Es drohen eine Geldstrafe oder Haft von bis zu fünf Jahren.