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Forscher behaupten: Wir sind darauf programmiert, früh zu sterben

Wissenschaftler aus Harvard haben ein Evolutionsmodell entwickelt, das die etablierten Annahmen über den Zusammenhang zwischen Tod und natürlicher Selektion mal eben über den Haufen wirft.
Bild: JuliusKielaitis | Shutterstock

Seit dem späten 19. Jahrhundert gehen Evolutionsbiologen davon aus, dass die natürliche Selektion Individuen begünstigt, die besonders lange leben. Diese Theorie erscheint logisch: Je länger man lebt, desto mehr Zeit hat man auch, sich fortzupflanzen und die eigenen Gene an die Nachkommen weiterzugeben.

Die Lebensspanne eines Organismus , da sind sich die meisten Forscher einig, wird durch eine Mischung aus externen Faktoren (Raubtiere, Krankheiten oder Unfälle) und internen Faktoren (der biologische Verfall, der letztendlich zum Tod führt) bestimmt.

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Doch eine neue Studie, die im Fachmagazin PLOS One veröffentlicht wurde, widerlegt nun diese Annahmen: Denn die Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass die natürliche Selektion zu einer Art inneren Uhr bei Organismen geführt haben könnte, die ihnen vorgibt, wie lange sie leben sollen – und wann es Zeit zu sterben ist. Demnach sind wir genetisch darauf programmiert, uns nach einer bestimmten Weile selbst zu vernichten.

"Wir behaupten: Die Lebensdauer eines Organismus entsteht durch Selektion und ist genetisch vorprogrammiert, erklärt der Autor der Studie, Yaneer Bar-Yam, gegenüber Motherboard."

Das Kraken-Phänomen bringt die traditionelle Evolutionstheorie an ihre Grenzen

Auf den ersten Blick scheint diese Idee paradox. Schließlich baut die traditionelle Evolutionstheorie auf einem Modell auf, in dem "eigennützige" Organismen ihre Lebenserwartung stets maximieren. Intuitiv betrachtet, ergibt das durchaus Sinn: Besitzt ein Individuum ein Gen, das seine Nachkommen überdurchschnittlich früh sterben lässt, so wird sich diese Erblinie vermutlich nicht sehr lange fortsetzen. Doch in der Natur gibt es einige Beispiele, die diese Theorie zu widerlegen scheinen: Eine hohe Lebenserwartung setzt sich nicht immer durch.

Da wären zum Beispiel semelpare Spezien wie Kraken, die sich nur einmal im Leben fortpflanzen können und kurz danach sterben. Entfernt man bei diesen Kraken unmittelbar nachdem sie ihren Nachwuchs zur Welt gebracht haben, eine bestimmte Hormondrüse, können sie weiterleben. Diese außergewöhnliche Eigenschaft kann durch die klassischen Evolutionstheorien nicht erklärt werden. Stattdessen deutet die Drüse der Kraken auf genetische Programmierung hin.

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Die neue These: Wer früher stirbt, gewinnt

In ihrer Studie argumentieren Bar-Yam und seine Kollegen, dass die natürliche Selektion anstelle der eigennützigen Selbstmaximierung eines Individuums Eigenschaften begünstigt, die die Fortpflanzung einschränken – dazu zählt auch eine begrenzte Lebenszeit. Anders ausgedrückt: Einige Spezien könnten theoretisch länger leben, als sie es heute tun, doch die natürliche Selektion begünstigt die Mitglieder der Spezies, die früher sterben.

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Um ihre These zu belegen, gingen Bar-Yam und seine Kollegen vom Institut für Bioengineering an der Uni Harvard einer einfachen Fragestellung nach: Gibt es Umstände, unter denen die natürliche Selektion eine geringere Lebenserwartung begünstigt?

Diese Frage konnten sie mit einem klaren "Ja" beantworten. Mehr noch: Bar-Yam und seine Kollegen gehen davon aus, dass die natürliche Selektion eine kürzere Lebenserwartung nicht nur in Einzelfällen favorisiert, sondern dass dies sogar meistens der Fall ist.

Selbstbeschränkung statt Egoismus

Wie kann es also sein, dass Evolutionsbiologen den Zusammenhang zwischen Sterblichkeit und der natürlichen Selektion in der Vergangenheit so anders interpretiert haben? Abgesehen von August Weismann, der schon 1881 die Theorie aufstellte, dass der Tod vorprogrammiert sei, haben die meisten Evolutionsforscher stets den Durchschnitt einer Spezies betrachtet, statt sich auf Individuen und ihre speziellen Lebensbedingungen innerhalb der Population zu konzentrieren. Auf diese Weise erhält man aber lediglich Durchschnittswerte und ignoriert das komplexe Verhältnis zwischen dem Einzelnen und seinem Umfeld.

Um ein genaueres Bild von evolutionärer Sterblichkeit zu erhalten, wandten Bar-Yam und seine Kollegen eine spezielle Technik an, die für die Erforschung komplexer Systeme verwendet wird, das sogenannte Spatial Modelling. Dabei untersuchten sie, wie sich die lokalen Lebensbedingungen auf die Überlebensfähigkeit von Individuen auswirken. So konnten die Forscher belegen, dass Eigenschaften, die kurzfristig gesehen einen Vorteil für die Spezies bieten (wie ein langes Leben oder "egoistischer" Ressourcenverbrauch) auf lange Sicht einen erheblichen Nachteil darstellen können und umgekehrt.

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Laut Bar-Yam und seinen Kollegen ist dieses selbst-beschränkende Modells nicht nur hinsichtlich Ressourcenverbrauch und Fortpflanzung erfolgreich. Es reglementiert auch die individuelle Lebensdauer in einer Population und optimiert und beschränkt sie je nach lokalen Bedingungen.

Die Erkenntnis, dass die natürliche Selektion Lebewesen bevorzugt, die ihre Lebensspanne einschränken, lässt einige tiefgreifende Schlussfolgerungen zu. Zum einen lassen sich Bar-Yams Forschungsergebnisse auf die Probleme anwenden, mit denen sich die Menschheit gerade konfrontiert sieht. Unsere momentanen Wirtschaftssysteme basieren wohl kaum auf einem Modell der Selbstbegrenzung – Kapitalismus baut schließlich auf ständiger Steigerung und egoistischem Verhalten auf. Einzelne Personen können von diesem System zwar kurzfristig profitieren, doch wenn Bar-Yam und seine Kollegen recht haben, könnte es für unsere Spezies auf lange Sicht katastrophale Folgen haben.

"Das Handeln der Menschen beeinflusst ihre Umwelt und das wiederum beeinflusst ihre Überlebensfähigkeit", meint Bar-Yam. "Dieser Tatsache sind wir uns heute alle bewusst. Wenn du deine Ressourcen zu sehr ausbeutest, hast du später ein Problem." Doch Bar-Yams Forschungsergebnisse halten auch einen Lichtblick parat. Wenn der Tod genetisch vorprogrammiert ist, so der Forscher, kann er wahrscheinlich auch gehackt werden.